von Maria Müller
Am 28. Juni beseitigten die Vertreter der EU und des Mercosur ("Gemeinsamer Markt Südamerikas", bestehend aus Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) die letzten Hindernisse für einen gemeinsamen Freihandelsvertrag. An dem Abkommen wird schon seit 20 Jahren gearbeitet, die Verhandlungen waren jedoch lange unterbrochen. Die unterschiedlichen Interessen beider Seiten schienen unüberbrückbar zu sein.
Manche der gegenwärtigen Regierungen auf beiden Seiten des Atlantiks brauchten eine spektakuläre Erfolgsmeldung, um ihr innenpolitisches Image wieder aufzupolieren – das mag mit zu der Einigung beigetragen haben. Die Wirtschaftsmisere unter Mauricio Macri in Argentinien und der Popularitätsverlust von Jair Bolsonaro in Brasilien dürften die Zugeständnisse gegenüber Europa beeinflusst haben.
Der südamerikanische Markt, der kaum als ein "gemeinsamer" funktioniert, wird bis heute von den beiden größten südamerikanischen Ländern Argentinien und Brasilien dominiert. Die beiden kleineren Mercosur-Mitglieder Uruguay und Paraguay waren verstärkt gezwungen, Partnerstaaten für den Export außerhalb des Kontinents zu suchen. Die schwindenden Auslandsinvestitionen der letzten zwei bis drei Jahre setzten die Mercosur-Regierungen insgesamt unter wachsenden Druck und trugen sicherlich noch mit dazu bei, dass sie ungünstige Vertragsklauseln akzeptierten.
Der große Nutznießer des Freihandelsabkommens ist die deutsche Exportindustrie, vor allem in den Bereichen Maschinenbau, Fahrzeuge, Elektroartikel, Chemie und Medikamente, während sich die europäische Landwirtschaft trotz ihrer milliardenschweren Subventionen von den – begrenzten – zollfreien Quoten für Agrarprodukte aus Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay bedroht fühlt.
Sie liegen nun mit 99.000 Tonnen für Rindfleisch unterhalb der früheren Angebote aus Europa. Darüber hinaus gehende Lieferungen sind zollpflichtig. Des Weiteren exportiert der Mercosur vor allem genetisch verändertes Soja und Mais, Zucker, Zellulose, Geflügel, Holz und Biodiesel nach Europa.
Die kleinen und mittleren bäuerlichen Familienbetriebe Südamerikas, die bisher die lokale Bevölkerung mit Obst und Gemüse versorgten, stehen nun unter dem enormen Konkurrenzdruck der europäischen Produzenten. Die werden mit jährlich 72 Milliarden Euro subventioniert. Damit kann niemand Schritt halten. Der Verlust der Nahrungssouveränität und abnehmende Nahrungssicherheit ist die mittelbare Folge der geplanten Entwicklung.
Auf der anderen Seite winken deutschen und europäischen Baufirmen lukrative Geschäfte, da Argentinien und Brasilien große Infrastrukturprojekte an sie zu vergeben bereit sind, zum Nachteil einheimischer Firmen.
Im vergangenen Jahr exportierten EU-Unternehmen Waren im Wert von rund 45 Milliarden Euro in den Mercosur. Die Ausfuhren der vier Mercosur-Länder in die EU beliefen sich auf knapp 43 Milliarden Euro. Betroffen von dem Freihandelsabkommen währen rund 770 Millionen Menschen, wovon 260 Millionen in den Mercosur-Staaten leben.
Da es sich um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handelt, das von der EU nicht in alleiniger Zuständigkeit abgeschlossen werden kann, muss es noch in allen 28 EU-Mitgliedsländern von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden.
Wachsende Kritik am Freihandelsvertrag
Die Reaktionen auf die Nachricht über den Vertragsabschluss reichen von euphorischen Stellungnahmen bis hin zu besorgter Ablehnung. Die Anhänger der neoliberalen Globalisierung schwärmen von einem gemeinsamen Markt von 780 Millionen Konsumenten, in dem rund ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung geschaffen wird. Sie vergessen dabei zu erwähnen, dass der Freihandelsvertrag die Vor- und Nachteile unter diesen Konsumentenmassen sehr verschieden verteilt, weshalb deren Kaufkraft auch äußerst unterschiedlich ausfallen wird.
Die Befürworter verweisen darauf, dass die Übergangszeiten der Anpassung an die Weltmarktkonkurrenz für die schwächeren lateinamerikanischen Produzenten mit bis zu zehn Jahren (im Ausnahmefall bis zu 15 Jahren) großzügig bemessen seien. Hingegen werde die Europäische Union bei den quotierten Agrarimporten die Zölle sofort aufheben. Der Mercosur könne Einfuhrzölle hingegen noch sieben Jahre lang aufrechterhalten.
Doch ein wachsender Chor kritischer Stimmen wendet sich gegen den Vertrag. Der frühere Außenminister Argentiniens, Jorge Taiana, erklärte:
Wenn das angewendet wird, geht die nationale Industrie zugrunde.
Frankreichs Minister für den ökologischen Übergang, François de Rugy, sagte dazu: "Es wird keine Ratifizierung geben, wenn Brasilien mit der Entwaldung des Amazonas weitermacht." Die deutschen Grünen stoßen ins gleiche Horn: Das Abkommen führe zu "weiteren Rodungen im Amazonasgebiet". Unter dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro habe die Abholzung des Regenwaldes bereits um mehr als 50 Prozent zugenommen.
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Auch der Präsident des deutschen Bauernverbandes, Joachim Ruckwied, protestierte umgehend gegen das Abkommen:
Es ist nicht zu akzeptieren, dass die EU-Kommission diese völlig unausgewogene Vereinbarung unterzeichnet.
Die Chefin der französischen Bauerngewerkschaft FNSEA, Christiane Lambert, fürchtet ebenfalls unlautere Konkurrenz aus Südamerika. In Österreich hat sich bereits eine breite nationale Widerstandsfront gegen das Wirtschaftsabkommen gebildet. Regierung, Opposition, Bauernverbände, Umweltschützer – alle sprechen sich dagegen aus.
Gewerkschaften fordern Schutz von Arbeitnehmerinteressen
Bereits im Februar 2018 hatte der Dachverband von 20 Gewerkschaften aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay und Venezuela (Coordinadora de Centrales sindicales de Cono Sur – CCSCS) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in einer gemeinsamen Erklärung auf eine Reihe von Problemen hingewiesen.
Unter anderem seien strategische Wirtschaftszweige des Mercosur gefährdet, wie der Technologie- und Medizinsektor, das maritime Transportwesen, staatliche Infrastrukturmaßnahmen, die Autoindustrie sowie die regionale Landwirtschaft (insbesondere die Produktion von Olivenöl, Wein und Sekt sowie Käse und Milchprodukte). Am Tag der in Brüssel verkündeten Übereinkunft wandten sich die großen Gewerkschaftsorganisationen nun erneut gemeinsam an die Öffentlichkeit.
Die Gewerkschaften unterstützen eine politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Integration der Blöcke – jedoch unter bestimmten Voraussetzungen. Diese müsse "die Menschenrechte, eine angemessene Beschäftigung, eine langfristig stabile Entwicklung und die demokratischen Werte fördern". Besonders der Schutz der Arbeitnehmerrechte müsse gewährleistet sein.
Eine Plattform, das "Arbeitsforum" genannt, sollte als Institution in den Vertrag Eingang finden, um mögliche Ungleichgewichte beobachten und kontrollieren zu können. Die Verhandlungen sowie Konfliktlösungen im Rahmen der Arbeitswelt können hier stattfinden. Die Europäische Sozialcharta, die "Erklärung über soziale und arbeitsrechtliche Standards des Mercosur" sowie die Bestimmungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) müssten dafür die Grundlagen bilden. Doch selbst Standardregeln der Internationalen Handelsorganisation (ITO) hätten bisher keinen Eingang in den Vertrag gefunden, so die Gewerkschaften.
Südamerika: "Todesurteil für unsere Industrie"
Deren Erklärung endet mit einer vernichtenden Einschätzung:
Das ist ein Todesurteil für unsere Industrie, für menschenwürdige Arbeit und für hochwertige Beschäftigung.
Der Vertrag vernichte mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze in Südamerika, allein in Argentinien sollen es demnach 184.000 sein. Durch die Abmachungen werde Südamerika zum billigen Rohstofflieferanten Europas degradiert, während die Produkte der wertschöpfenden Industrie (dank dieser Rohstoffe) zollfrei aus Europa zurückkommen könnten. Die alten kolonialen Verhältnisse würden somit wiederbelebt und festgezurrt.
Nicht nur die Gewerkschaften, auch die südamerikanischen Unternehmerverbände kritisierten in seltener Einheit die geheime Verhandlungsform unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie fordern, dass seitens des Mercosur eine Studie zur Folgenabschätzung des Vertrags erstellt werden müsse, wie sie bislang nur in der Europäischen Union bekannt ist.
Ein zentraler Knackpunkt: Europäische Unternehmen und Konzerne sollen sich nun an staatlichen Ausschreibungen südamerikanischer Regierungen beteiligen können. Ein Schlag für den einheimischen Bausektor und nationale Industriezweige, die der internationalen Konkurrenz weit unterlegen sind.
Privatisierungen von Staatsbetrieben
Des Weiteren fordern die Europäer, dass ihre Unternehmen unter gleichen Bedingungen mit den südamerikanischen Staatsbetrieben konkurrieren können. Wasserversorgung, Gas und Strom, Telekommunikation, Raffinerien, Zugverkehr usw. könnten dann bald in die Hände der multinationalen Konzerne überwechseln, die einen großen Teil des Gewinns abschöpfen und ins Ausland transferieren. Die öffentlichen Haushalte verlieren dadurch die bedeutenden finanziellen Beiträge der Staatsunternehmen.
Es ist äußerst fraglich, ob die Gewinne der Rohstoffindustrie des Mercosur die Verluste in den anderen Bereichen ausgleichen können. Schon heute wird ein Teil der großflächigen Landwirtschaft von internationalen Investmentfirmen finanziert, deren Gewinne zurück an die Aktionäre gehen. Häufig können sie als "Investitionsanreiz" für viele Jahre steuerfrei arbeiten. Das alles wirkt sich auf die unweigerlich schrumpfenden Kapazitäten der staatlichen Budgets aus.
Vielleicht um die aufgebrachten Gemüter etwas zu beruhigen, erklärten die Außenminister der Mercosur- und EU-Staaten, dass es noch gut drei Jahre brauche, um den Vertrag durch die jeweiligen Parlamente in Europa und Südamerika zu bringen. Erst danach sei er gültig. Als nächster Schritt werde der Vertrag juristisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Anschließend unterzeichnen ihn die einzelnen Regierungen und die EU-Kommission.
Eine Unterschrift ohne Mitsprache der Parlamente? Die Minister und EU-Beamten verschweigen, dass die Parlamente der Vertragsstaaten den Text nicht mehr verändern können. Sie können ihn nur entweder als Ganzes akzeptieren oder verwerfen. Das Gewicht der demokratischen Volksvertreter und damit die Souveränität der Vertragsstaaten wird auf ein Minimum reduziert. Die EU-Kommission übernimmt in diesen Fällen immer stärker die Rolle einer Super-Regierung, die selbst an den europäischen Parlamenten vorbei Verträge unterzeichnet.
Rasche provisorische Anwendung des Vertrags
Mehr noch. In früheren Fällen von Freihandelsverträgen hat die EU den Mechanismus der "Provisorischen Anwendung" bereits praktiziert, etwa beim Handelsabkommen zwischen Kolumbien und Peru mit der Europäischen Union 2012, dem Ecuador 2017 beitrat. Das ist nach dem internationalen Vertragsrecht seit 1966 möglich.
Demnach können internationale Vereinbarungen bereits kurzfristig "provisorisch" in Kraft gesetzt werden, ohne zuvor von einem Parlament abgesegnet worden zu sein – wenn die beteiligten Regierungen das vereinbaren. Sobald die EU-Kommission nun den Freihandelsvertrag unterzeichnet hat, macht sie den Weg dafür frei. Ein Mitgliedsstaat der Union kann sich nur schwer oder gar nicht gegen eine provisorische Anwendung wehren. Das zeigt der Fall Österreichs, das sich aufgrund der provisorische Anwendung des Freihandelsvertrags CETA (mit Kanada) zurückziehen wollte.
Die provisorische Anwendung eines solchen Abkommens ist eine Formel auf unbestimmte Zeit. Wenn kein Pflichttermin für die Ratifizierung vertraglich festgelegt wurde, endet ihre Gültigkeit theoretisch erst, wenn ein Teilnehmerstaat seinen Rückzug aus dem Vertrag den Partnern mitteilt. Allerdings ist unklar, was dann passiert. Dazu heißt es im Unionsrecht:
Art. 218 AEUV regelt in Abs. 5 lediglich die Genehmigung der vorläufigen Anwendung vor dem Inkrafttreten, nicht aber ihre Rücknahme. Soweit erkennbar, hat es auch in der Vergangenheit noch nicht den Fall gegeben, dass die Ratifizierung eines vorläufig anwendbaren völkerrechtlichen Vertrages im Europäischen Parlament und/oder in einem Mitgliedsstaat gescheitert ist.
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