Der studierte Ökonom Klaus Blessing war Leiter der Abteilung Maschinenbau des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und später stellvertretender Minister für Schwerindustrie der DDR. Seit den Umbruchsjahren 1989/1990 wirkt er unter anderem als Autor politischer und wirtschaftlicher Schriften.
Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow
Welche Umstände veranlassten die DDR dazu, wirtschaftliche Beziehungen zur BRD aufzunehmen?
Der Handel zwischen der BRD und der DDR war nur eine Komponente der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, noch nicht einmal die entscheidende. Der Rahmen ist viel weiter zu fassen. Wir haben uns darauf einzustellen, dass dazu in diesem Jahr noch einiges an medialer Berichterstattung kommt. Ich will nicht vorgreifen, welchen Wahrheitsgehalt das haben wird. Als Linke sollten wir darauf schon jetzt eingestellt sein.
Das Thema ist umfassend und in gewissem Sinne auch brisant. Gegenüber der üblichen Argumentation muss man es vom Kopf auf die Füße stellen. Ich habe bereits zusammen mit anderen Kollegen im Jahr 2005 ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: "Die Schuld des Westens: Wie der Osten Deutschlands ausgeplündert wird". Dort ist eine umfangreiche Dokumentation enthalten. Hier sind viele Informationen zu diesem Thema enthalten.
Es gibt mindestens folgende Gebiete, in denen der Westen gegenüber dem Osten verschuldet ist: erstens die mit der Spaltung Deutschlands vollzogenen Disproportionen und die Verletzung des Potsdamer Abkommens. Das sind auch die Wurzeln für die späteren Handelsverträge. Das zweite ist die Frage der Reparationsleistungen. Der Osten hat für Gesamtdeutschland die Reparationen gegenüber der Sowjetunion gezahlt. Der Westen erhielt parallel dazu Hilfen aus dem Marshallplan, ganz nach dem Kalkül: "Wenn wir den Kommunismus besiegen wollen, dann müssen wir das ökonomisch machen." Das war eigentlich der Urknall des Dilemmas. Wir haben ja das bisschen Wirtschaftkraft, was nach der Spaltung übrig blieb, zu großen Teilen in die Sowjetunion als Reparation abgetragen. Wir haben auch umfangreiche Lieferungen aus der laufenden Produktion als Reparation an die Sowjetunion gegeben. Das Thema Uran-Bergbau stellt dabei ein besonderes Kapitel dar.
Dazu gesellte sich das Embargo, das zu riesigen Problemen für die DDR führte. Die DDR musste Industrien aufbauen, wo sie eigentlich hätte auf dem Weltmarkt einkaufen können. Stichwort Mikroelektronik. Diese anfängliche starke Disproportionalität führte unter den Bedingungen der offenen Grenzen zu massenhaften Abwanderungen und gezielten Abwerbungen, die die Dimension von drei Millionen Menschen hatte. Sie waren drüben als Aufbauhelfer herzlich willkommen, und uns fehlten sie. Die Verluste kann man beziffern. Auch bei geschlossener Grenze war es nicht so, dass keine Fachkräfte ausgewandert sind. In den 1980er-, 1990er-Jahren kam der richtige Knall. Das Volkseigentum der DDR wanderte in westdeutsche Hände.
Aus diesen Säulen ergibt sich riesige Schuld. Ich habe berechnet, dass der Westen bis zur sogenannten Wende vier Billionen D-Mark von der DDR profitierte. Nach der Wende ging es ja weiter mit massenhaften Auswanderungen. Da kommt noch mal ein ähnlicher Betrag zustande. Das sind natürlich ungefähre Beträge. Es geht aber darum, die Dimensionen klarzumachen, was hier eigentlich gelaufen ist. Wenn wir also über Wirtschaftsbeziehungen reden, müssen wir das in den größeren Kontext einzubetten, den ich versucht habe, hier klarzulegen.
Wie waren die Wirtschaftsbeziehungen in den 1950er-Jahren unter den Bedingungen der offenen Grenze und der sich verschärfenden Gegensätze zwischen Ost und West?
Die deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten ihre Wurzeln im Potsdamer Abkommen. Dort war festgelegt, dass Deutschland als einheitlicher Wirtschaftsraum zu behandeln ist, in Kenntnis der Disproportionalität, also im Westen mehr Grundstoffzweige, bei uns, so weit noch vorhanden, Maschinenbau und verarbeitende Industrie. Um das als einheitliches Ganzes oder zumindest als Wirtschaftsgebilde zu erhalten, legte das Abkommen fest, dass innerdeutsche Handelsbeziehungen stattzufinden haben.
Die wurden natürlich von Anfang an von der BRD nicht als "Hilfe Ost" angesehen, sondern als Methode, um dem Osten Schwierigkeiten zu bereiten. Das kann man an zwei Punkten festmachten: Bei kritischen politischen Lagen wurden die Handelsbeziehungen gestoppt oder gegen null gefahren. Und zweitens waren diese Handelsbeziehungen so gestaltet, dass beim Export von Waren die DDR verpflichtet war, bestimmte Waren im Gegenzug zu kaufen. Viele Handelsökonomen sagen, dass diese Pflicht eindeutig zulasten der DDR ging, da die Exporte unter Weltniveaupreisen und die Importe über Weltniveaupreisen gekauft wurden.
In der DDR kauften vor allem westdeutsche Handelsketten massenhaft Konsumgüter und ließen diese umetikettieren. In ihren Versandhäusern verkauften sie diese dann billig, da sie sie hier extrem billig einkaufen konnten. Das war eine weite Palette von Waren, von Möbeln bis hin zu Industrieerzeugnissen. Wir waren ja darauf angewiesen, Rohstoffe oder Halbfabrikate zu bekommen, da wir ja keine richtige eigene Basis hatten.
Wir hatten Walzstahl in die BRD zu bestimmten, niedrigen Preisen exportiert und haben anderen dann zurückgekauft, natürlich nicht das gleiche Sortiment, sondern die Sortimente, die wir nicht herstellen konnten. Der innerdeutsche Handel war keine Gewinnsituation für die DDR. Es war ein Handel, wo eine bestimmte Abnahme garantiert war, aber auch eine Gegenlieferung zwangsweise genommen werden musste. Ein Devisenbringer, mit dem man hätte frei hantieren könnten, war es nicht. Die Verluste aus dem innerdeutschen Handel (für die DDR) beziffere ich relativ niedrig im Verhältnis zu den anderen Verlusten, wie den Reparationszahlungen, der Abwanderung der Arbeitskräfte und dann der Höhepunkt, dem Raub des Volkseigentums. Das ist also nicht der Dreh- und Angelpunkt.
Wurden die innerdeutschen Handelsbeziehungen nach der Schließung der Grenze in den 1960er-Jahre ununterbrochen fortgeführt, oder gab es eine Pause?
Die Handelsbeziehungen gingen bis zum Schluss fort. Berühmt-berüchtigt ist ja der von Strauß eingefädelte Milliardenkredit. Der innerdeutsche Handel lief als ständiges Instrument, mit Höhen und Tiefen, mit Erpressungsmethoden von der anderen Seite bis zum Schluss.
Was war der Anreiz für die BRD bzw. die westdeutschen Unternehmen, Handel mit der DDR zu treiben?
Dafür gibt es eindeutig zwei Gründe. Der erste ist ein ökonomischer Grund: Sie konnten hier billigst einkaufen. Sie haben das auch getan. In unserem Buch ist ein Abschnitt dazu, wie die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz sich bei solchen Geschäften eine goldene Nase verdiente. Die DDR war immer devisenhungrig.
Der andere Grund war ein politischer. Mit dem innerdeutschen Handel hatte die BRD ein Instrument in der Hand, um in politischen Problemzeiten Hähne zuzudrehen oder stark zu drosseln und somit der DDR Schaden zuzufügen. Das musste gar kein explizites Embargo sein, sondern konnte einfach die Nichtlieferung von Waren bei Handelsbeziehungen sein. Dadurch musste die DDR Industriezweige mit hohen Investitionskosten aufbauen. Unter normalen Bedingungen hätte sich die DDR auf dem Weltmarkt bedienen können.
Wie wurden die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in der Partei- und Staatsführung bewertet? Gab es auch Kontroversen?
Jetzt schneiden Sie ein ganz heißes Thema an. Es gab in der Partei- und Staatsführung zwei Strömungen. Die kann man auch mit Namen benennen. Die erste Strömung vertrat eine feste Bindung an die Sowjetunion, aus der wir sowohl politisch als auch ökonomisch auch nicht herauskommen konnten, denn der Haupthandel lief ja trotz allem nicht mit der BRD, sondern mit der Sowjetunion.
Die andere Strömung, angeführt von Günter Mittag, vertrat die Position, dass die DDR als entwickeltes Industrieland nicht weit kommen würde mit Beziehungen nur zur Sowjetunion. Diese These würde ich nicht bestreiten. Sie haben dann mit Schalck-Golodkowski nicht nur eine eigene Wirtschaftspolitik betrieben, sondern ein eigenes Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Das war der Bereich "KoKo", also Kommerzielle Koordinierung, mit dem einzigen Auftrag, auf dem freien Markt Devisen zu erwirtschaften. So weit, so gut. Aber dieses Imperium hatte sich dann so weit aufgebläht, sowohl was die ökonomische Macht (zum Schluss kontrollierte die KoKo etwa 40 Prozent des Handels mit dem kapitalistischen Ausland), als auch was die persönliche Machtfülle angeht, denn dieses Imperium war nicht kontrollierbar. Es sollte auch nicht kontrolliert werden. Keine Finanzrevision, niemand hatte dort Zugang.
Dadurch entwickelte sich, was in der kritischen Phase – 1988/1989 – nicht das gemacht hat, was gemacht werden sollte, denn das Ziel bestand darin, durch die Devisenerwirtschaftung Devisen zu haben, die eingesetzt werden sollten. Devisenbestände gab es genug, in Milliardenhöhe. Sie wurden aber nicht eingesetzt.
Heute kann man nachträglich viel philosophieren, warum, weshalb, wieso. Ich habe vier Jahre unter Günter Mittag gearbeitet und den Mann etwas kennengelernt. Aus heutiger Sicht, auch unter Berücksichtigung von Dokumenten etwa aus dem Staatsarchiv, muss man formulieren, dass er ein Doppelspiel getrieben an. Nach der Wende gab er in einem Interview zu, dass er schon immer wusste, Planwirtschaft sei Mist und Marktwirtschaft das bessere. Wenn das ein Mann macht, der zu DDR-Zeiten offiziell alle ihm Untergebenen nur auf Planwirtschaft getrimmt hat, aber innerlich der Meinung ist, eigentlich muss man es anders machen, und dazu noch ein Parallelimperium aufgebaut hat, dass es anders gemacht hat – dann ist das die Antwort auf die Frage, was war denn in der Führung eigentlich los.
Honecker hörte wirtschaftlich nur auf Mittag. Schalck-Golodkowski unterstand Günter Mittag, obwohl Mittag das bestritt. Das ist aber dokumentarisch belegt. Hier entwickelte sich also eine Doppelwirtschaft, die nicht nur unschön, sondern insofern auch ökonomisch gefährlich war, als das Spiel dann so weit getrieben wurde, dass das Imperium Schalck-Golodkowski die eigene Staatswirtschaft der DDR ausplünderte. Sie haben dann nicht nur Waren aus der Wirtschaft rausgezogen, sondern auch Devisenbestände und Kredite ausgereicht, die doppelt so hoch wie auf dem Weltmarkt verzinst waren. Das Imperium Schalck-Golodkowski zog also einen Großteil der Devisen und anderer Gewinne aus der DDR-Wirtschaft. Das ist alles belegt.
Der Westhandel, also der Handel mit den kapitalistischen Staaten, auch andere als die BRD, war also keine einheitliche politische Linie der DDR-Führung. Erich Honecker war ansprechbar darauf, weil ihm das Türen zu politischen Repräsentanten in den kapitalistischen Staaten öffnete. Aber es gab auch warnende Stimmen, sogar solche, die sagten, dass das Verrat war. So weit würde ich nicht gehen, aber wenn ein Land in zwei Richtungen marschieren will, dann kann das nicht gutgehen.