von Timo Kirez
Wenn es mit rechten Dingen zugehen würde, müssten Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union durchschnittlich 23 Prozent Unternehmenssteuer zahlen. Doch dem ist keineswegs so. Tatsächlich zahlen sie nur 15 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie "Effective Tax Rates of Multinational Enterprises in the EU", die im Auftrag der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament entwickelt wurde. Die Studie wurde am Dienstag präsentiert und belegt, wie zahnlos die EU im Kampf gegen Steuervermeidungstricks von multinationalen Unternehmen tatsächlich dasteht.
Laut der Studie entsteht der Unterschied zwischen nominalem und effektivem Steuersatz vor allem durch Sonderabsprachen einzelner EU-Staaten mit den jeweiligen Unternehmen. Steuerschlupflöcher gibt es zur Genüge. So zum Beispiel die sogenannten "Patentboxen" – Abmachungen über eine besonders niedrige Besteuerung von Lizenzeinnahmen. Zudem sind die Doppelbesteuerungsabkommen ungenügend und führen zum Teil zu einer Nichtbesteuerung der Unternehmensgewinne. Von einer einheitlichen "Union" also weit und breit keine Spur.
Nur in einem einzigen EU-Staat zahlen die Konzerne den gesetzlichen Steuersatz: Bulgarien. Alle anderen Mitgliedsstaaten gucken, was den offiziellen Steuersatz betrifft, in die Röhre. Der Finanzsprecher der Grünen im Europäischen Parlament, Sven Giegold, fordert mehr Transparenz für die Steuerpraxis multinationaler Unternehmen.
"Die Europäische Kommission hat einen guten Vorschlag für die Steuertransparenz von Großunternehmen vorgelegt", sagte Giegold. "Finanzminister Olaf Scholz muss nun seine Blockade aufgeben und sich für länderspezifische Steuertransparenz einsetzen." Mit seiner Äußerung spielt Giegold auf den Widerstand von Scholz bei der sogenannten "EU-Digitalsteuer" an.
Der Bundesfinanzminister blockiert Pläne Brüssels für eine stärkere Besteuerung der Internetkonzerne. Die Wirtschaft könne Schaden nehmen, so die Argumentation von Scholz. Somit torpediert ausgerechnet ein Sozialdemokrat den Kampf gegen Steuertricks von Google, Facebook und Co. Die aktuelle Studie der Grünen entstand auf der Grundlage der Orbis-Datenbank. Der Steuerexperte Petr Jansky von der Karls-Universität in Prag wertete Daten aus den Jahren 2011 bis 2015 aus.
Demnach heißt der Spitzenreiter in Sachen "Unternehmensfreundlichkeit", wie nicht anders zu erwarten, Luxemburg. In der kleinen Steueroase zahlen Konzerne mit 2,2 Prozent ihrer ausgewiesenen Gewinne so wenig Steuern wie in keinem anderen Land in Europa. Dabei liegt der gesetzliche Steuersatz bei 29,1 Prozent. Als ein guter Schüler in Sachen Globalisierung erweist sich Ungarn. Dort zahlen Unternehmen 7,5 statt der vorgesehenen 19 Prozent.
Auch der deutsche Fiskus verliert Geld. Die Studie kommt auf einen Steuersatz von 19,6 statt 29,4 Prozent (Berechnungsgrundlage: statistischer Mittelwert aus Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer). Schon eine Studie des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Gabriel Zucman von der US-Universität Berkeley kam 2017 zu dem Ergebnis, dass dem Bundeshaushalt rund 17 Milliarden Euro durch Steuerschlupflöcher flöten gehen. Zum Vergleich: Im Bundeshaushalt 2017 waren ursprünglich 21 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II sowie 6,5 Milliarden Euro für die Unterkunftskosten von Hartz-IV-Empfängern vorgesehen.
Die Studie der Grünen im Europaparlament hat auch einige Überraschungen parat: So liegt die Steuerlast in Italien mit rund 30 Prozent besonders hoch. Auch in den Mitgliedsstaaten Griechenland und Irland sind die realen Zahlungen sogar leicht höher als der durchschnittlich verlangte Steuersatz. Kaum ist die Studie in der Welt, gibt es auch schon Kritik. Allerdings nicht am Steuergebaren der Unternehmen, sondern an der Studie selbst. So schreibt Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung, dass das ja alles interessante Ergebnisse seien. Nur das habe gar nichts mit Steuergerechtigkeit zu tun.
Die Unterschiede zwischen nominalen und effektiven Steuersätzen taugten nicht zu Aussagen über die gleichmäßige Besteuerung von Unternehmen in der EU. Aber sehr wohl dazu, "Populisten und ihren Kampf gegen das angeblich unsoziale Europa ein wenig zu unterstützen". Da fragt man sich nur, warum die EU zum 1. Januar 2019 neue Regelungen zum Stopfen von Steuerschlupflöchern beschlossen hat.
Damit soll es für Unternehmen schwieriger werden, zum Steuernsparen Gewinne oder Zinslasten zwischen Tochterfirmen in unterschiedlich besteuerten Ländern zu verschieben. Eine 2016 beschlossene EU-Richtlinie trat mit Jahresbeginn in Kraft.
EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici lobte die Pläne als großen Fortschritt: "Wir haben die Schlacht noch nicht gewonnen, aber dies stellt eine sehr wichtige Etappe unseres Kampfs gegen diejenigen dar, die Schlupflöcher in den Steuersystemen unserer Mitgliedsstaaten ausnutzen wollen, um Steuern in Milliardenhöhe zu sparen." Ist der EU-Finanzkommissar Moscovici am Ende ein gefährlicher Populist?