Staatsbesuch mit argumentativer Schieflage: Merkel drängt in China auf Marktöffnung

Bei ihrem Besuch in China drängt die Kanzlerin auf eine Öffnung der Märkte für westliche Firmen. Das gebiete die Gleichbehandlung. Doch das gern gezeichnete Bild, wonach China sich im Westen einkaufe und sich selbst diesem verschließe, entspricht nicht der Realität.

Bei ihrem gegenwärtig elften Besuch in China drängt die Bundeskanzlerin auf eine Öffnung der chinesischen Märkte. Während ihres Treffens mit Präsident Xi Jinping betonte Angela Merkel am Donnerstag in Peking, dass für sie eine weitere Öffnung des chinesischen Marktes und gleiche Behandlung von Unternehmen in beiden Ländern bei der Entwicklung der Beziehungen „eine große Rolle“ spielten.

Auf einer Sitzung des gemeinsamen Wirtschaftsausschusses pochte Merkel auf einen gegenseitigen Marktzugang unter gleichen Bedingungen. „Man braucht Kooperationsnetzwerke mit ähnlichen Standards“, so die Kanzlerin.

Im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Öffnung der chinesischen Märkte fiel in den letzten Tagen immer wieder der Begriff der „Reziprozität“, der sich auf die Formel bringen lässt: „Ihr dürft alles, was wir auch dürfen.“

Als Stichwortgeber fungierte die Bertelsmann-Stiftung, die pünktlich vor der China-Visite der Kanzlerin am Dienstag die Studie „Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?“ veröffentlichte. Demnach müssten sich Deutschland und die EU entschlossener für einen fairen Wettbewerb mit China einsetzen. Während Investoren aus der Volksrepublik hierzulande freier Marktzugang geboten werde, schütze die chinesische Regierung ihrerseits strategische Industrien bewusst vor ausländischem Zugriff.

Wenn staatlicher Einfluss den Wettbewerb verzerre oder es zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen komme, sollten die Europäer mit einer Stimme einschreiten, sagte Studienautorin Cora Jungbluth gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Laut der Studie gehe es „um die fehlende Reziprozität zwischen China und Deutschland beziehungsweise der EU“: „Während chinesische Unternehmen in Deutschland ohne nennenswerte Einschränkungen auf ‚Einkaufstour‘ gehen können, schützt die chinesische Regierung strategische Industrien bewusst vor ausländischem Zugriff. Kurz gesagt: Ein chinesisches Kuka, wenn es eines gäbe, würde nicht in ausländische Hände fallen.“

Die Stiftung spielt auf den deutschen Roboterhersteller Kuka, dessen Übernahme durch chinesische Investoren für Aufsehen sorgte und die Angst befeuerte, Peking nehme deutsche Schlüsseltechnologien in Beschlag. Doch anders als die Bertelsmann-Stiftung suggeriert, bleiben auch Bereiche der deutschen Wirtschaft Investoren aus China verschlossen, beispielsweise so genannte „kritische Infrastruktur“ wie das Stromnetz.

Nachdem er von der Kanzlerin zur Einhaltung der „Reziprozität“ – übrigens ein Begriff mit imperialer Geschichte – ermahnt wurde, konterte Xi Jinping, von seinen Finanzunternehmen habe er gehört, dass sie in der Bundesrepublik „schlecht behandelt, irgendwie überreguliert“ würden.

Er wolle doch bitteschön den Aspekt der Gleichberechtigung betonen und hoffe, dass auch Deutschland Verständnis für Chinas Anliegen habe. Der Präsident sagte gleichzeitig den deutschen Unternehmen eine schrittweise Marktöffnung auch für Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister zu. 

Deutschland und die Panikmache vor chinesischen Übernahmen

Mit dem Besuch der Kanzlerin in China erfährt das Schreckgespenst feindlicher chinesischer Übernahmen wieder besondere mediale Aufmerksamkeit. Wie schon zu Jahresbeginn, als Schlagzeilen wie „Chinas Übernahme-Hunger ist ungestillt“ die Gazetten füllten.

Auslöser für die Alarmstimmung war eine Studie von Ernest & Young (EY), laut der das Volumen chinesischer Investitionen in deutsche Unternehmen im Jahr 2017 um neun Prozent auf den Rekordwert von 12,2 Milliarden Euro gestiegen war.  

Doch das vielfach von Politik und Medien gezeichnete Bild, wonach chinesische Investoren aggressiv danach drängen, Deutschland quasi aufzukaufen und sich auf diesem Weg das Know-How der deutschen Industrie anzueignen, hält einem Abgleich mit der Realität kaum stand.

So stieg im vergangenen Jahr zwar das Wertvolumen chinesischer Investitionen in Deutschland, doch die Zahl der Übernahmen deutscher Firmen sank laut der EY-Studie um 21 Prozent auf 54 Transaktionen. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gab es 2017 sogar nur 39 Übernahmen durch Investoren aus China.

Europaweit war auch hinsichtlich des Wertvolumens ein starker Rückgang der chinesischen Investitionen im vergangenen Jahr zu verzeichnen. Sie sanken um etwa ein Drittel auf 57,6 Milliarden Euro.  

Lag der Anteil chinesischer Investitionen in Deutschland im letzten Jahr bei rund 6,6 Prozent, kamen die USA dagegen auf 22,3 Prozent. Auch die Schweiz mit mehr als 11 und Großbritannien mit etwa 10 Prozent lagen noch deutlich vor dem bevölkerungsreichsten Land der Welt.

Chinas großer Aufholbedarf bei Direktinvestitionen

Auch was die Bestände der Auslandsdirektinvestitionen (ADI) betrifft, hat das asiatische Land noch großen Aufholbedarf. So hielt China 2016 laut besagter Studie der Bertelsmann-Stiftung mit etwa 1,3 Billionen US-Dollar rund fünf Prozent der weltweiten ADI-Bestände und nahm damit den zehnten Platz unter den Nationen ein. Dazu heißt es:

Setzt man die ADI-Bestände in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, wird deutlich, dass China hier noch erhebliches Aufholpotential hat – gerade im Vergleich zu wichtigen Auslandsinvestoren wie den USA oder Deutschland: Chinas ADI-Bestände belaufen sich auf lediglich 11,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Für die USA liegt dieser Wert bei 33,3 Prozent, für Deutschland sogar bei etwa 40 Prozent.

Dass China einen besonderen strategischen Fokus auf Deutschland legt, lässt sich anhand der Zahlen jedenfalls nicht belegen. Der Löwenanteil chinesischer Investitionen geht nach wie vor in die Nachbarländer. Von Chinas weltweit im Ausland investierten Kapital entfallen gerade einmal 0,6 Prozent auf Deutschland, von den im Jahr 2016 getätigten ADI flossen lediglich 1,2 Prozent in die Bundesrepublik, so die Studie der Bertelsmann-Stiftung.  

Von den insgesamt 2016 in Deutschland getätigten ADI stammten demnach gerade einmal 0,4 Prozent aus dem Reich der Mitte (Zum Vergleich: 76,1 Prozent aus der EU, 6,0 Prozent aus Nordamerika).

Deutschland investiert stärker in China als umgekehrt

Zur Vervollständigung des Bildes muss auch ein Blick auf die von deutschen Firmen getätigten Investitionen in China geworfen werden. Auch wenn diese im letzten Jahr geringer ausfielen als umgekehrt die chinesischen Einlagen in Deutschland, so übertrafen sie doch die Letzteren in den vorangegangenen Dekaden um ein Vielfaches.

Laut einer Studie von Germany Trade & Invest (GTAI) bezifferte die Deutsche Bundesbank den Bestand deutscher Direktinvestitionen in China Ende 2014 auf 57,9 Milliarden Euro, ein Plus von 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Vergleich: China in Deutschland 1,6 Mrd. Euro). Demnach kommandierte im Jahr 2015 das Kapital von 5.200 deutschen Unternehmen 1,1 Millionen chinesische Arbeiter, während umgekehrt 30.000 deutsche Beschäftigte von chinesischen Investitionen betroffen waren.

Aber nicht nur die nackten Zahlen widersprechen der Panikmache hinsichtlich eines ungestillten chinesischen Übernahmehungerns. Auch die bisherige Erfahrung mit Übernahmen gibt keinen Anlass, um von einer für die deutsche Wirtschaft unfairen Praxis zu sprechen.

Langfristige Investitionen stärken deutschen Mittelstand

So zitierte das Handelsblatt vor drei Monaten den Übernahme-Experten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, Christian Specht:

Es gibt das Schreckgespenst, dass die Chinesen das Know-how abgreifen und die Unternehmen aussaugen“. Doch das sei nicht der Fall, „die Unternehmen können ihre Unternehmenstätigkeit und ihr Geschäftsmodell in der Regel in Ruhe fortführen“.

Im Gegensatz zu berüchtigten „Finanzheuschrecken“ zeichneten sich die chinesischen Investoren vor allem durch ihren langen Atem aus. Das musste auch die Bertelsmann-Stiftung in ihrer aktuellen Studie eingestehen.

Demnach schafften Investitionen aus China hierzulande nicht nur „Arbeitsplätze, bringen Kapital ins Land und tragen zum Steueraufkommen bei“:

Chinesische Investoren verbessern zudem die Integration mit dem für Deutschland wichtigen chinesischen Markt. Bei Firmenbeteiligungen bringen chinesische Unternehmen ein im Vergleich zu Finanzinvestoren aus anderen Ländern langfristiges Interesse mit und bieten zum Teil Standortgarantien. In der Vergangenheit haben sie bereits deutsche Firmen aus der Insolvenz gerettet.

China investiert vor allem in den deutschen Mittelstand, der als Rückgrat der hiesigen Wirtschaft gilt, und sichert damit dessen Konkurrenzfähigkeit. Dirk Nawe, China-Experte von KPMG, sagte gegenüber dem Handelsblatt zur Rolle chinesischer Investoren:

Zunächst unterscheiden sie sich nicht von anderen Investoren. Die Chinesen suchen den Markteintritt, Zugang zu Kunden und Technologie.“ Abgesehen von den politischen Fragen zu „kritischer Infrastruktur“ seien die meisten Übernahmen „ganz normale Unternehmenskäufe.“

Pekings Geschenk an die deutsche Autoindustrie

Dass Peking es mit der Öffnung seiner Märkte ernst meint, belegt die am Dienstag bekannt gegebene Entscheidung, die Importzölle auf Autos ab dem 1. Juli von 25 auf 15 Prozent zu senken. China ist bereits jetzt der größte Absatzmarkt für die deutschen Autobauer, jeder dritte PKW geht in das asiatische Land.

Bereits im April hatte Peking angekündigt, dass internationale Autofirmen bald mehr als 50 Prozent an chinesischen Zweigstellen besitzen dürfen und nicht mehr zwangsweise Gemeinschaftsfirmen gründen müssen, um im Land mitmischen zu dürfen.

Nach der Bekanntgabe der Zollsenkung reagierten die Aktien von Daimler, BMW und Volkswagen an der Börse mit Kurszuwächsen. Der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernhard Mattes, sagte dazu:

Diese ist ein weiterer wichtiger Schritt für offene Märkte und ein Zeichen für eine Stärkung des internationalen Handels.

Ob sich Angela Merkel bei ihrem Treffen mit Xi Jinping für diese für die deutsche Automobilindustrie äußerst profitable Maßnahme bedankte und zur Abwechslung den Zeigefinger in der Tasche stecken ließ, anstatt ihn mahnend zu erheben, wurde bislang nicht überliefert.

Bekannt ist hingegen, dass sie sich nach dem Gespräch mit dem Staatschef in Peking mit einer Gruppe von Bürgerrechtsanwälten und Angehörigen von Inhaftierten getroffen hat, um sich über die Menschrechtslage im Land zu informieren.