Von Sergei Sawtschuk
Um die historischen Prozesse rund um unser Land zu verstehen, muss man, wie wir immer wieder betonen, einen Schritt zurücktreten und das Weltbild in seiner Gesamtheit betrachten. Denn Russland existiert nicht im Vakuum, es ist auch kein absoluter Mittelpunkt auf dem geopolitischen Schachbrett, wo es viele schwergewichtige Spieler gibt und jeder gleichzeitig mit jedem spielt.
Für eine neue skandalöse Sensation sorgte nun der türkische Energieminister. Er erklärte, dass der Bau des Atomkraftwerks "Akkuyu" im Rahmen des russischen Projekts plötzlich ins Stocken geraten sei – und daran trage Siemens die Schuld.
Aus der Rede von Alparslan Bayraktar geht hervor, dass die deutschen Maschinenbauer die Lieferung einiger kritischer Ausrüstungen zum Scheitern brachten, obwohl – und das ist das Wichtigste – Siemens die betreffenden Ausrüstungen in den Lagern vorrätig hat, sie aber unter Berufung auf die antirussischen Sanktionen bewusst zurückhält. Der Minister fügte hinzu, dass die Position von Siemens insbesondere darin bestehe, dass die Inbetriebnahme des AKW Russland zusätzliche Gewinne ermöglichen werde. Was keiner Kritik standhalte, da der Amortisationshorizont für solche Projekte mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre betrage – und dies sei in dieser Branche eine allgemein bekannte Tatsache.
Nach dem Tonfall der Erklärung zu urteilen, rechnet Ankara nicht mehr mit der Lieferung von Erzeugnissen des "teutonischen" Schwermaschinenbaus, weshalb der Minister eine offizielle Stellungnahme abgab. Sie besteht darin, dass die sich Türkei, für die das "Akkuyu"-Projekt eine existenzielle Frage des nationalen Energiesektors ist, zunächst die Relevanz der Siemens-Präsenz auf ihrem Markt genauer anschauen wird. Einfach ausgedrückt: Kann man die unfreundlichen Deutschen ohne größeren Schaden für die türkische Wirtschaft vor die Tür setzen? Darüber hinaus hat Rosatom bereits einen vergleichbaren technischen Komplex in China bestellt.
Es handelt sich dabei keineswegs um den ersten Akt dieser Energietragödie, in der sich türkische Träume, das russische Atom und die plötzliche deutsche Heimtücke eng miteinander verflechten. Was umso schmerzhafter ist, da Siemens all diese Sabotageakte im vollen Bewusstsein des Ausmaßes der Folgen durchführt.
Zwar nannte Alparslan Bayraktar keine weiteren Einzelheiten, doch können wir davon ausgehen, dass es sich höchstwahrscheinlich um AKS- und GIS-Systeme handelt. Sowohl für Erstere als auch für Letztere wurden in unseren Profilbetrieben Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchgeführt, aber es gibt keine genauen Angaben über deren industrielle Produktion.
Wir verstehen, dass es schwierig ist, ungewohnte Abkürzungen zu verstehen.
Im Falle von Atomkraftwerken steht die Abkürzung AKS für Automatisierte Kontrollsysteme. Sie sorgen für die automatische Erfassung und Verarbeitung von Betriebsinformationen, die es ermöglichen, den Betrieb des Reaktors und anderer Ausrüstungen zu optimieren. Zu beachten ist, dass AKS von einer Anlage bis zu einem Energiesystem oder sogar einem ganzen Energieverbund skaliert werden können. Das heißt, dieses komplexe computergestützte System ermöglicht es, den mit Uran betriebenen "Topf" geschickt in das System der Erzeugung, Verteilung und Lieferung von Strom an die Verbraucher innerhalb eines Bezirks, einer Region oder sogar eines Landes zu integrieren.
Die gasisolierte Schaltanlage (GIS) wiederum ist ein Hochspannungsgerät für die physikalische Aufnahme, Verteilung und Übertragung von Elektrizität in Drehstromnetzen. Sie umfasst standardmäßig Schaltgeräte (Leistungsautomaten, Lasttrennschalter, Trennschalter), Schutzeinrichtungen (Sicherungen und Schutzrelais) sowie Mess- und Zähleinrichtungen (vom Zähler bis zum Messwandler).
Vereinfacht gesagt sind AKS und GIS ein komplexes, mehrstufiges System zur Steuerung des Betriebs von AKW-Blöcken und -Einheiten sowie der Erzeugung und Weiterleitung von Strom. Ohne sie ist ein Reaktorbetrieb nicht möglich bzw. macht überhaupt keinen Sinn.
Die Deutschen haben also, entweder aus eigenem Antrieb oder durch böswillige Anstiftung, einen sehr schmerzhaften Nervenknoten getroffen.
In dieser Hinsicht ist der Hieb des türkischen politischen "Yatagan" durchaus verständlich. Selbst angesichts der Tatsache, dass Rosatom bereits vor einiger Zeit vergleichbare Ausrüstungen bei chinesischen Partnern und Auftragnehmern bestellt hat, wird das Problem nicht schnell gelöst werden können. Die Ausrüstungen für AKW sind einzigartig und werden in der Regel nicht in kommerziellen Mengen in Lagern aufbewahrt, wie etwa Ersatzteile für PKWs. Das heißt, sie müssen erst ganz oder teilweise hergestellt werden, was Zeit braucht. Die Herstellung erfolgt auch nicht nach eigenem Ermessen: Es handelt sich um ein russisches Projekt, sodass die chinesischen Maschinen und Apparate nach strengsten Vorgaben mit mikroskopischen Toleranzen angepasst werden müssen.
Nach der Herstellung müssen diese Ausrüstungen für umfassende Tests angeliefert werden, wobei sie in allen möglichen Betriebsphasen getestet werden, um ihre Betriebssicherheit und Kompatibilität zu bestätigen. Gleichzeitig muss all diese riesige Eisen- und Elektronikmenge legalisiert, das heißt an die aktuellen türkischen technisch-rechtlichen Vorschriften angepasst werden. Und – falls erforderlich – müssen neue entsprechende Vorschriften ausgearbeitet und verabschiedet werden. All dies erfordert immer wieder Zeit, was das staatliche Programm der energetischen Aufrüstung der Türkei unter ein großes Fragezeichen stellt. Das Programm ist mit einem Umsetzungshorizont bis 2030 angelegt, und aus historischer Sicht ist das praktisch schon morgen.
Geopolitisch wird das Geschehen zweifelsohne unbemerkte, aber kardinale Auswirkungen auf die Positionen der beteiligten Länder haben.
Schon früher warf die Türkei den Vereinigten Staaten vor, Gelder auf den Konten türkischer Auftragnehmer zu beschlagnahmen. Nun trifft es den deutschen Konzern Siemens, der zwar ein Privatunternehmen ist, aber Deutschland und seine Außenpolitik im Allgemeinen vertritt. Es ist klar, dass Ankara nicht aus der NATO austreten und sich nicht völlig von Washington und Berlin trennen wird, aber ihre sehr kühlen Beziehungen werden definitiv nicht freundlicher und enger werden.
Ebenso wird die Türkei nicht zum besten Freund Russlands werden, sondern weiterhin ihre eigenen Interessen auf jede erdenkliche Weise verfolgen. Aber gerade die Tatsache, dass das Land sich nicht mit dem kollektiven Westen verbündet, wird Moskau ganz gut passen. Freundschaft ist nicht erforderlich, pragmatische Geschäftsbeziehungen reichen aus.
Ja, und Russland wird selbst weiterhin Atomkraftwerke bauen und damit seine Abhängigkeit von unfreundlichen Ländern zunehmend verringern.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. September 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.
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