Europa gelangt aus Angst vor russischen Düngemitteln an den Haken der USA

Düngemittelhersteller in Europa warnen davor, dass sie bankrottgehen oder in die USA abwandern könnten. Schuld sei der Zustrom billiger russischer Düngemittel, die sie als Bedrohung für die Ernährungssicherheit in Europa bezeichnen. Wieder einmal sind es die USA, die vom Konflikt profitieren.

Von Olga Samofalowa

"Wir werden jetzt mit Düngemitteln aus Russland überschwemmt, die viel billiger sind als unsere eigenen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie weniger für Erdgas bezahlen als wir europäische Produzenten", sagte Peter Zingr, Vorstandsvorsitzender der SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH, Deutschlands größtem Ammoniakhersteller, gegenüber der Financial Times.

Europa "schlafwandelt" in die Abhängigkeit von russischen Düngemitteln, hatte zuvor Svein Tore Holsether gewarnt, Chef von Yara International, einem der weltweit größten Stickstoffdüngerproduzenten.

Nach Angaben von Eurostat bezieht die EU ein Drittel ihrer Einfuhren von Harnstoff, der billigsten Form von Stickstoffdünger, aus Russland. Außerdem haben die Harnstoffeinfuhren seit Beginn des Ukrainekonflikts im Jahr 2022 nur noch zugenommen. Die Einfuhrmengen erreichten bis Ende 2023 nahezu ein Rekordniveau. So erreichten die russischen Harnstofflieferungen nach Polen im Jahr 2023 laut Zolldaten einen Wert von fast 120 Millionen US-Dollar, verglichen mit knapp über 84 Millionen US-Dollar im Jahr 2021.

Alexei Kalatschew, Analyst beim Finanzdienstleistungsunternehmen Finam erklärte:

"Tatsächlich kann die Situation bei Kali-, Phosphat-, Stickstoff- und Mehrnährstoffdüngern sehr unterschiedlich sein. Russlands Außenhandelsstatistiken werden wegen der Sanktionen nicht offengelegt. Groben Schätzungen zufolge könnte Russland jedoch (zusammen mit Weißrussland) bis zu 60 Prozent der europäischen Einfuhren von Kalidüngemitteln, bis zu 40 Prozent der Phosphatdünger und etwa 30 Prozent der Stickstoffdünger ausmachen. Der Anteil Russlands am europäischen Düngemittelverbrauch dürfte allerdings geringer ausfallen als die oben genannten Schätzungen, da ein Großteil davon in Europa selbst produziert wird.

Ammoniak ist im Gegensatz zu fossilen Phosphaten und Kaliumchlorid der wichtigste Rohstoff für die Herstellung von Stickstoffdüngern, die chemisch aus Erdgas gewonnen werden. Daher kann jedes Land, das Zugang zu Erdgas hat, Stickstoffdünger herstellen. Unter normalen Umständen gibt es daher keine Dominanz auf diesem Markt. Das derzeitige Problem der EU ist gerade auf den Gasmangel und die hohen Gas- und Strompreise nach der Einschränkung der Erdgaslieferungen aus Russland zurückzuführen."

Russland verfügte schon vor dem Jahr 2022 über Gas und es war billiger als in Europa. Und die europäischen Düngemittelhersteller unterlagen den russischen Düngemittelherstellern auf dieselbe Weise. Früher hatte Europa bloß billigeres Pipeline-Gas in großen Mengen, was heute um ein Vielfaches weniger geworden ist. Dazu sagte Kalatschew:

"Die russischen Düngemittelhersteller haben einen starken Preisvorteil auf dem Weltmarkt, da sie Zugang zu Gas und Strom zu regulierten Inlandspreisen haben, anstatt diese auf dem teuren europäischen Markt zu kaufen. Daher ist es für die Europäer inzwischen rentabler, Stickstoffdünger und Ammoniak direkt aus Russland einzuführen, als Gas zu kaufen und Düngemittel vor Ort zu produzieren. Einige Unternehmen erwägen daher, ihre Produktion in die USA oder nach China zu verlagern, wo die Rohstoffe billiger sind. Angesichts dieses Wettbewerbs befinden sich die europäischen Hersteller in einer prekären Lage und verlangen Schutz."

Die europäische Industrie fordert Hilfe von den europäischen Behörden und nutzt die politische Agenda, um wieder einmal Russland die Schuld an ihrer Misere zu geben. Zingr betonte:

"Wenn die Politik nicht handelt, werden die europäischen Produktionskapazitäten 'verschwinden'."

Benjamin Lakatos, CEO des Schweizer Energieunternehmens MET Group, das den baltischen Düngemittelhersteller Achema kaufen will, wetterte seinerseits:

"Auf die europäische Düngemittelindustrie kommen Krisenjahre zu."

Ihm zufolge entfallen 70 bis 80 Prozent der Betriebskosten von Düngemittelfirmen auf Erdgas, sodass die steigenden Gas- und Energiepreise diesen Wirtschaftszweig rascher treffen als andere Sektoren.

Andere große Akteure verlassen den europäischen Markt. So hat beispielsweise BASF, das größte Chemieunternehmen der Welt, in den vergangenen Jahren seine Aktivitäten in Europa zurückgefahren, einschließlich seines Düngemittelgeschäfts, und stattdessen neue Investitionen in die USA und China gelenkt, wo die Kosten niedriger sind. "Früher oder später werden alle, auch wir, diesem Beispiel folgen", sagte SKW-Chef Zingr. Sein Unternehmen verhandle derzeit über eine Option zur Errichtung einer Ammoniak-Produktionslinie in den USA. Er sagte, dass das Unternehmen in den USA viel billigeres Gas und Elektrizität sowie Subventionen im Rahmen des Inflationsbekämpfungsgesetzes erhalten könne.

Die europäischen Düngemittelhersteller versuchen, die Situation zu dramatisieren, in der Hoffnung, die Europäische Kommission dazu zu bewegen, Sanktionen gegen russische Düngemittel zu verhängen. Es sei jedoch unwahrscheinlich, dass Brüssel auf die Forderung nach solchen Sanktionen eingeht, meinte Chris Lawson, Leiter des Bereichs Düngemittel bei der Beratungsfirma CRU. Er fügte hinzu:

"Die Erinnerungen an die hohen Düngemittelpreise im Jahr 2022 und die Gefahr für die Ernährungssicherheit sind in den Köpfen der europäischen Entscheidungsträger noch immer präsent."

Bislang hat die EU keine Sanktionen gegen russische Düngemittel verhängt. Nikolai Wawilow, Experte der Abteilung für strategische Forschung Total Research, meinte dazu:

"Bei der Einführung von Sanktionspaketen gegen unser Land ist die Führung der Eurozone sehr umsichtig, indem sie russische Düngemittel von der Liste ausschließt, um einen Anstieg der Lebensmittelpreise und die darauffolgende Lebensmittelkrise zu vermeiden. Die Europäische Union überschreitet in ihrer russophoben Raserei nicht die Grenze, nach der eine echte Hungersnot folgen würde."

Dem stimmte auch Kalatschew zu, er stellte fest:

"Es ist unwahrscheinlich, dass von einem Verbot der russischen Lieferungen die Rede sein könnte. Düngemittel sind nicht Gegenstand von Sanktionen und Beschränkungen würden zu einem Defizit auf dem Markt führen."

Die europäischen Landwirte kaufen weiterhin russische Düngemittel zur Erzeugung von Feldfrüchten und Nahrungsmitteln. Kalatschew ging davon aus, dass die EU in diesem Fall die US-Regelung übernehmen könnte:

"In der Regel verbieten die USA niemals die Einfuhr bestimmter Waren, sondern erheben oft imposante Ausgleichs- oder Antidumpingzölle auf die Produkte bestimmter ausländischer Anbieter. Auf diese Weise gleichen sie die Wettbewerbsbedingungen für ihre eigene Produktion und die Einfuhren an. Es ist wahrscheinlich, dass die EU oder die Regierungen einzelner europäischer Länder den gleichen Weg einschlagen werden, um ihre Produzenten zu schützen."

Eine andere Möglichkeit wäre, dass die europäischen Düngemittelhersteller ihre Betriebe in Europa schließen und in die USA verlagern, wie es die BASF getan hat, meinte Wawilow und hob hervor:

"Natürlich werden die Vereinigten Staaten der Hauptnutznießer dieser Entwicklung sein. Sie haben die Sanktionen ja auch nicht ohne Grund verhängt. Und wenn die USA in diesem Sektor eine Monopolstellung erlangen, steigt die Wahrscheinlichkeit eines vollständigen Verbots russischer Düngemittel in Europa um ein Vielfaches, damit Düngemittel aus den USA importiert werden können."

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 2. Juli 2024 zuerst bei der Zeitung Wsgljad erschienen.

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