Von Dagmar Henn
Die jüngst veröffentlichte "Antwerpener Erklärung für einen Europäischen Industriedeal" ist ein ungewöhnliches Dokument. Es handelt sich um die Erklärung einer Reihe von Konzernen aus energieintensiven Industrien, die sich öffentlich an die EU und insbesondere die EU-Kommission richtet. Üblicherweise vermitteln Konzerne der Größenordnung von Bayer oder Shell ihre speziellen Wünsche in der Lobby auf den Fluren der Brüsseler Bürokratie, abseits der Öffentlichkeit und unter Einsatz Hunderter dafür engagierter "Experten" vor Ort. Eine derartige öffentliche Erklärung ist ein Anzeichen dafür, dass die jahrzehntelang gewohnte Übermittlung an den politischen Apparat nicht funktioniert.
Dieser "Europäische Industriedeal", der in der Erklärung gefordert wird, soll die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie absichern:
"Um die Klimaneutralität bis 2050 und die jüngst kommunizierten Ziele bis 2040 zu erreichen, wird sich Europas Stromerzeugung vervielfachen müssen, und die Industrieinvestitionen müssen um ein Sechsfaches höher sein als im vergangenen Jahrzehnt. Diese enorme Herausforderung kommt, während sowohl große als auch kleine und mittlere Unternehmen den ernsthaftesten Wirtschaftsabschwung in einem Jahrzehnt erleben, die Nachfrage fällt, die Produktionskosten steigen und sich Investitionen in andere Regionen bewegen."
Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die jüngsten Ereignisse rund um BASF und VW in China. Die Erklärung ist ungewöhnlich deutlich darin, wo sie die Schwierigkeiten und deren Ursachen verortet.
"Eine US-Wirtschaft, die von der finanziellen Unterstützung durch den Inflation Reduction Act (IRA) und dessen leichter Zugänglichkeit profitiert, eine chinesische Überkapazität und zunehmende Exporte nach Europa erhöhen alle den Druck auf die europäische Industrie weiter. Anlagen werden geschlossen, Produktionen angehalten, Menschen entlassen."
Diese Erklärung macht also, was zumindest die deutschen Medien tunlichst vermeiden – sie benennt den wirtschaftlichen Konflikt zwischen der EU und den Vereinigten Staaten von Amerika. Erstaunlich ist weniger, dass dieser Konflikt erkannt wurde – die an Nord Stream 2 beteiligte Wintershall beispielsweise ist schließlich eine Tochter der BASF, einige der Entwicklungen haben also einige der Unterzeichner unmittelbar betroffen –, erstaunlich ist vor allem, dass diese Warnungen durch ein europaweites Netz veröffentlicht werden:
"Eine offene strategische Autonomie für eine wettbewerbsfähige und resiliente EU ist entscheidend für den Übergang Europas in einer sich stetig verändernden geopolitischen Landschaft. Sie kann jedoch nur erreicht werden, wenn auch grundlegende und energieintensive Industrien bleiben und in Europa investieren. Ohne eine zielgerichtete Industriepolitik riskiert Europa, selbst bei grundlegenden Waren und Chemikalien abhängig zu werden. Europa kann es sich nicht leisten, dass es dazu kommt."
Die Forderungen, die daraus resultieren, scheinen auf den ersten Blick sogar kompatibel mit der gegenwärtigen Politik der EU-Kommission. Es wird für die nächste EU-Legislaturperiode der im Titel erwähnte "Industrielle Deal" gefordert, eine Anspielung auf Roosevelts "New Deal", wie sie auch schon im sogenannten "Green New Deal" versucht wurde, dessen Umsetzung in den USA in den oben erwähnten IRA mündete. Es geht nun aber vor allem um öffentliche Förderungen auch in Europa. Dabei wird allerdings insbesondere gefordert, Europa müsse "ein global wettbewerbsfähiger Energieversorger" werden.
"Die Kosten der Energie in Europa sind einfach für den Wettbewerb zu hoch und werden nicht nur von den Rohstoffpreisen, sondern auch durch regulatorische Belastungen getrieben. … Wir brauchen eine wirkliche EU-Energiestrategie mit konkreten Handlungen, die grenzüberquerende Stromversorgung, eine Ausweitung der Netze für Wasserstoff und andere erneuerbare und niedrig-karbonisierte Moleküle, und Partnerschaften mit ressourcenreichen Ländern."
Vor dem Hintergrund, dass die Auswirkung des US-amerikanischen IRA auf die europäische Industrie im Einleitungstext vor den Forderungen besonders betont wird, erlangen die folgenden Sätze eine spezifische Bedeutung:
"Die EU sollte alle politischen Instrumente gegen unfairen Wettbewerb prüfen, um für die EU-Industrien sowohl auf dem heimischen als auch auf den internationalen Märkten ein Spielfeld auf wirklich gleicher Höhe zu sichern, den Schutz vor Karbonausstößen mit eingeschlossen."
Das gilt gewissermaßen auch in die andere Richtung: "Das Absatzpotential durch besseren Marktzugang zu internationalen Märkten erhöhen."
Eine effektive Digitalisierung, der Abbau rechtlicher Schranken und bürokratischer Anforderungen und andere Forderungen – viele Punkte sind schlicht das, was man erwarten würde, und die Forderung nach zusätzlichen öffentlichen Subventionen dafür ist keinesfalls überraschend. Neben der Veröffentlichung ist allerdings auch die Tatsache erstaunlich, dass die Konkurrenz Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika so deutlich angesprochen wird. Darin erinnert diese Erklärung an die Neujahrsansprache beim Bundesverband der Deutschen Industrie, die ebenfalls den Eindruck wachsender Verzweiflung hinterließ, was aber in der deutschen Regierungspolitik offenbar bisher auf taube Ohren stößt.
Die Widerspiegelung und Kommentierung in der deutschen Medienlandschaft zu dieser Erklärung, die ja immerhin das Ergebnis eines Treffens mehrerer Dutzend Konzernchefs im Antwerpener BASF-Werk ist, übergeht das konfrontative Potential der Erklärung geflissentlich. Schließlich sei auch die EU-Kommissionspräsidentin angereist. Und Ursula von der Leyen kommt vor den Europawahlen die Ankündigung einer weiteren großen europäischen Subventionsverteilungsmaschine sicher sehr gelegen. Und auch der belgische Premierminister De Croo unterstütze doch die Erklärung.
"Die Forderungen treffen in Brüssel auf fruchtbaren Boden. Unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen, konfrontiert mit protestierenden Bauern und mahnenden Unternehmensvertretern hat die Kommission ihre Kommunikation zuletzt deutlich verändert", lobt dazu die Süddeutsche.
Es dürfte allerdings insbesondere den Vertretern des gastgebenden Konzerns BASF sehr wohl bewusst sein, welche Rolle gerade Ursula von der Leyen in der Sanktionspolitik der EU gespielt hat und weiterhin spielt, was die in der Erklärung beschriebenen Probleme maßgeblich mit herbeigeführt hat. Trotz der auch hier deutlich erkennbaren Konzessionen an die aktuellen politischen Vorgaben und Forderungen, die zumindest immer noch so tun, als könne man mit einem Geldsegen der EU-Kommission aus Brüssel alles lösen, markiert diese Erklärung der europäischen Industrie einen eklatanten Dissens.
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