Von Henry Johnston
Seit dem Beginn der russischen Militäroperation gegen die Ukraine im Februar 2022 gibt es von westlichen Politikern, Analysten und Kommentatoren eine stetige Flut von Prognosen über den bevorstehenden Niedergang der russischen Wirtschaft. Tatsächlich begannen diese Prognosen bereits vor diesen schicksalhaften Tagen im Februar vor zwei Jahren. Ein paar Wochen zuvor, als der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine in den Börsenhallen der Welt spürbare Besorgnis hervorrief, hatte ich ein Treffen mit einem westlichen Finanzanalysten in Moskau.
"Wenn Russland einmarschiert", sagte mir mein Gesprächspartner, "kehren sie in die Sowjetunion der 1980er Jahre zurück – mit einer primitiven, rückständigen Wirtschaft, wo westliche Waren größtenteils auf dem Schwarzmarkt erhältlich sein werden." Er sprach, als wäre das westliche Finanzsystem die Nabelschnur, auf die Russlands Wirtschaft angewiesen sei, um sich zu ernähren. Mit dieser Ansicht stand der Mann jedoch nicht allein da.
"Der Rubel wird in Trümmern liegen"
Die erste Welle der Prognosen – wenn man die damaligen überzogenen Proklamationen aus den USA und Europa als Prognosen bezeichnen will – war triumphierend, überheblich im Tonfall und hörte sich geradezu apokalyptisch an. Die westliche Elite war wirklich im Glauben, dass sie in ihrem Arsenal eine finanzielle Massenvernichtungswaffe hatte und diese mit verheerenden Auswirkungen gegen Russland einsetzte. "Wir werden den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbeiführen", sagte der französische Finanzminister Bruno Le Maire weniger als eine Woche nach Beginn des Konflikts unverblümt einem Nachrichtensender.
Noch heftigere Töne schlug US-Präsident Joe Biden an. "Unsere Sanktionen werden wahrscheinlich die wirtschaftlichen Fortschritte Russlands der vergangenen 15 Jahre zunichtemachen", verkündete er. "Wir werden Russlands Fähigkeit zum Wirtschaftswachstum auf Jahre hinaus unterdrücken." Diese Kommentare folgten auf sein inzwischen berüchtigtes Lächerlichmachen des Rubels, der in "Trümmern" liegen werde.
Historische Vergleiche wurden herumgereicht, nicht nur von Politikern. JP Morgan verglich die Situation Russlands mit der Krise von 1998, als der Rubel zwei Drittel seines Wertes verlor, Ersparnisse sich in nichts auflösten und das Land seine Schulden nicht mehr bedienen konnte. Die Bank prognostizierte für 2022 einen Rückgang des russischen BIP um elf Prozent. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, ging der Politologe Maximilian Hess sogar noch einen Schritt weiter und sagte voraus, dass Russland "nicht nur zurück in das Chaos der 1990er Jahre steuern wird, sondern in ein noch schlimmeres Chaos, das eher dem von 1918 ähneln wird".
Russland stand auch vor dem, was ein Wirtschaftsprofessor an der Universität von Kalifornien in Los Angeles die "völlige Isolation vom Rest der Welt" nannte, "die in vielerlei Hinsicht tatsächlich eine Katastrophe darstellt". Es ist natürlich unklar, wie diese Behauptung mit der Tatsache in Einklang gebracht werden kann, dass Länder, die zwei Drittel der Weltbevölkerung repräsentieren, Russland nicht sanktioniert haben.
Allerdings konnte bereits Anfang April, also etwas mehr als einen Monat nach Beginn des Konflikts, eine gewisse Abschwächung der Überschwänglichkeit festgestellt werden. Schließlich war Russland nicht unmittelbar zusammengebrochen, und tatsächlich hatte sich die anfängliche akute Panik sehr schnell gelegt. Eine der ersten Publikationen, die auf die beginnende Widerstandsfähigkeit Russlands aufmerksam machte, war The Economist, der einen Artikel herausbrachte, in dem die Frage gestellt wurde:
"Läuft die Strategie des Westens noch nach Plan?"
Fairerweise muss man festhalten, dass es sich bei dem Artikel um eine recht ausgewogene Darstellung der Entwicklungen des ersten Monats handelte.
Dies markierte ungefähr den Beginn einer Änderung im Tonfall beim Narrativ "Russland kollabiert". Die vier Reiter der Apokalypse waren nicht mehr auf dem Weg in den Kreml. Auch die übertriebenen historischen Vergleiche ließen nach. Aber man solle sich nicht täuschen lassen, versicherten westliche Analysten, die russische Wirtschaft sei in einem schlechten Zustand. Bloß sei der Abschwung etwas langsamer und etwas weniger dramatisch ausgefallen als erwartet.
Frust über Russlands Robustheit
Die NATO-nahe Denkfabrik Atlantic Council schlug in einer Analyse vom Juni 2022 in dieselbe Kerbe und veröffentlichte eine Analyse mit dem Titel: "Sanktionen gegen Russland sind ein langwieriges Unterfangen." Das Magazin Foreign Policy blieb beim Kollaps-Thema, aber in der Überschrift eines Artikels vom Juli 2022 mit dem Titel "Eigentlich implodiert die russische Wirtschaft" wurde das sehr aussagekräftige Wort "eigentlich" hinzugefügt. Das lässt sich grob so übersetzen: Es gibt viele Beweise für das Gegenteil, aber wir behaupten es immer noch.
Im September 2022 war die Euphorie der ersten Wochen eindeutig einer schleichenden Frustration gewichen. Auf der Webseite von CNN erschien ein Artikel mit dem Titel:
"Die Sanktionen gegen Russland greifen nur langsam und US-Offizielle geben ihre Frustration darüber zu."
In diesem Artikel sagten "hochrangige US-Beamte" gegenüber CNN, dass man enttäuscht darüber sei, dass die Sanktionen bisher keine größeren Auswirkungen gezeigt hätten, aber man sei zuversichtlich, dass die härtesten Auswirkungen wahrscheinlich erst Anfang 2023 eintreten würden. Anfang 2023 kam und ging.
Zu dieser Zeit war bereits eine gesichtswahrende Medienoperation über das wahre Ziel der Sanktionen in vollem Gange, die im oben erwähnten und in vielen anderen Artikeln zu lesen war. Ein anderer Beamter sagte gegenüber CNN, dass diejenigen, die die Sanktionen ausgearbeitet hätten, "immer gewusst haben, dass die schwerwiegendsten Auswirkungen nicht unbedingt unmittelbar eintreten würden", und fügte hinzu:
"Wir haben dies immer als ein langfristiges Spiel betrachtet."
Mit anderen Worten: Sie wussten von Anfang an, dass in absehbarer Zeit nicht viel passieren würde. Vielleicht hätte das jemand Biden sagen sollen, um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, davon zu schwärmen "die wirtschaftlichen Fortschritte Russlands der vergangenen 15 Jahre zunichte" zu machen.
Im Februar 2023 erschien eine Reihe von Artikeln, die grob unter dem Titel "Sanktionen ein Jahr später" zusammengefasst werden können. Die Gesamttonlage war eindeutig, Enttäuschung zu verhindern, indem man auf "das lange Spiel" fokussierte. Der Autor eines Berichts des Martens Center schrieb: "Schauen Sie nicht alle fünf Minuten auf die Uhr, um zu sehen, ob die Sanktionen wirken. Üben Sie sich in strategischer Geduld."
Tatsächlich war der vorherrschende Tenor in der ersten Hälfte des Jahres 2023 größtenteils eine widerwillige Anerkennung der Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft, gemischt mit immer noch optimistischen Beteuerungen, dass der Tag der Abrechnung für Russland noch kommen werde. In der Zwischenzeit schienen die Artikel, die in der westlichen Presse erschienen, seltsamerweise alle nach demselben Schema verfasst worden zu sein: Sie begannen mit dem unverblümten Eingeständnis, dass Russland nicht wirklich zusammenbricht, und gingen dann dazu über zu beschreiben, wie sich unter der Oberfläche alle möglichen Probleme ansammeln.
Im August desselben Jahres bekam das Narrativ "Russland kollabiert" etwas Aufwind, als der Rubel in eine schwierige Phase geriet und sogar die psychologisch wichtige 100er-Marke gegenüber dem Dollar durchbrach. Damals lag der Wert im Jahresvergleich um rund 20 Prozent im Minus, und der Rubel gehörte zu den Währungen mit der schlechtesten Wertentwicklung. Es erschien eine Flut von Artikeln, in denen die Probleme des Rubels erörtert wurden, dazu wurde die Behauptung aufgestellt, dass die schwächelnde Währung ein Anzeichen dafür sei, dass die lang erwarteten Risse sichtbar würden.
Ein Meinungsartikel in Bloomberg über den "kränkelnden Rubel" trug die Zwischenüberschrift: "Sanktionen haben Russlands wirtschaftliche Festung nicht zum Einbruch gebracht, aber sie haben eine Zeitbombe unter ihr Fundament gelegt." Doch der Anfang der Geschichte hielt sich an das oben beschriebene Schema:
"Westliche Länder haben mehr als 13.000 Sanktionen gegen Russland verhängt – und doch zeigt die russische Wirtschaft keine Anzeichen eines Zusammenbruchs."
Gleich am nächsten Tag schrieb Timothy Ash, ein einflussreicher und erfahrener Analyst für Schwellenmärkte, einen Artikel, der ebenfalls mit einem zaghaften Rückzieher begann. "Eine häufig gehörte Klage ist, dass die Sanktionen des Westens nicht greifen", beginnt der Artikel. "Lassen Sie es uns von Anfang an anerkennen – Russland zeigt große wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und Beständigkeit." Aber schließlich kam er zum Kernpunkt, nämlich dass der geschwächte Rubel ein "rot blinkendes Alarmlicht dafür ist, dass die Sanktionen tatsächlich wirken". Als Beweis führte er an, dass "kein Land gerne eine Abwertung seiner Währung sieht, da dies wirtschaftliche Probleme mit sich bringt, insbesondere eine schwächere Zahlungsbilanzposition, und eine hohe Inflation verursacht". Die Zentralbank, so behauptete er, "hätte den Rubel nicht fallen lassen, wenn sie nicht in Schwierigkeiten gewesen wäre". Warum genau die Zentralbank "in Schwierigkeiten" war, wird nicht erklärt, aber unter dem Parkett muss etwas Bedrohliches gelauert haben.
Vielleicht überhitzt Russlands Wirtschaft ja ...
Um den Rubel im vergangenen Herbst zu stützen, verschärfte Russland die Währungskontrollen und erhöhte die Zinssätze, woraufhin sich der Rubel stabilisierte. Sicherlich handelt es sich hierbei um Notlösungen, zu denen die Behörden als Reaktion auf ein Ungleichgewicht gezwungen waren. Nachdem das "rot blinkende Alarmlicht" auf ein schwaches Leuchten reduziert wurde, ging es weiter im Narrativ. In letzter Zeit konnte man nicht viele Artikel und Analysen über den Rubel sehen. Das nächste und aktuellste Thema, das die "Russland kollabiert"-Fraktion aufgegriffen hat, ist die Vorstellung, dass die russische Wirtschaft überhitzt. Eine Volkswirtschaft gilt als überhitzt, wenn sie in einem unhaltbaren Tempo expandiert und an die Grenzen ihrer Kapazität zur Befriedigung der Nachfrage stößt.
Das Thema der Überhitzung setzte sich durch, und erwartungsgemäß kam es zu einer Welle von Artikeln und Analysen. Im Dezember veröffentlichte The Economist einen Artikel, in dem es um die hohe Inflationsrate Russlands, den hohen Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP und den zunehmenden Arbeitskräftemangel ging. Zwar wird zugegeben, dass "die Prognosen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs – die von westlichen Ökonomen und Politikern zu Beginn des Krieges in der Ukraine fast einhellig gemacht wurden – sich als völlig falsch erwiesen haben", aber das Schema blieb gleich: Neu wird behauptet, dass die russische Wirtschaft solche Wachstumsraten nicht verkraften könne.
Obwohl der Artikel weiterhin die Maßnahmen anerkennt, die ergriffen werden können, um die Auswirkungen dieser Überhitzung abzumildern, schließt er mit den Worten: "Aber in Russland gibt es wichtigere Dinge als wirtschaftliche Stabilität", was impliziert, dass die russische Führung die Wirtschaft opfert, um den Ukraine-Konflikt zu gewinnen. Es ist eine bemerkenswerte Beobachtung aus dem westlichen Lager, wo viele Politiker – vor allem in Deutschland – nur allzu bereit waren, wirtschaftliche Stabilität auf dem Altar ihrer Ukraine-Fantasie zu opfern.
Im Anschluss an The Economist erschien ein langer Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs aus der Feder von Alexandra Prokopenko, einer in Russland geborenen Wissenschaftlerin am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. Der Artikel mit dem Titel "Putins unhaltbarer Kaufrausch" basiert ebenfalls auf demselben Schema, erkennt an, dass Russlands Wirtschaft den Prognosen getrotzt hat, bevor er die schlechte Nachricht bringt. Die schlechte Nachricht ist: "Die Überhitzung der russischen Wirtschaft." Das Argument, das Prokopenko vorbringt, ist, dass die überraschend starken Wachstumszahlen Russlands "anstatt eine wirtschaftliche Gesundheit zu signalisieren, symptomatisch für eine Überhitzung sind".
Ähnlich wie in dem Artikel in The Economist geht Prokopenko auf die hohen Staatsausgaben ein – insbesondere für die Verteidigung – sowie auf steigende Löhne aufgrund von Arbeitskräftemangel und hoher Inflation, die allesamt zu "einer Illusion von Wohlstand" führen würden. Man fragt sich, was die in Berlin lebende Prokopenko über ihre neue Wahlheimat schreiben würde, in der alle Spuren von Wohlstand – ob illusorisch oder nicht – rasend schnell verblassen.
Obwohl Prokopenko sich der üblichen russophoben Rhetorik und der abgenutzten westlichen Phrasen hingibt, wurden einige ihrer Bedenken hinsichtlich einer Überhitzung von den russischen Behörden selbst geäußert. Mit anderen Worten: Die Gefahr einer Überhitzung ist ein anerkanntes Problem. Im vergangenen September warnte die Zentralbank beispielsweise, dass die Wirtschaft möglicherweise über ihr produktives Potenzial hinaus gewachsen sei. Ein besonders gefährlicher Aspekt der Überhitzung waren in der Vergangenheit Vermögensblasen, deren Platzen in der Regel verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft hat. Russland hat einen phänomenalen Anstieg der Immobilienpreise erlebt – eine Tatsache, die wiederum der Zentralbank nicht entgangen ist, die darauf gedrängt hat, ein großzügiges staatlich subventioniertes Programm für Hypotheken abzuwickeln, damit sich keine Blase bildet.
Abgesehen von den Debatten über Überhitzung lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, wo wir in diesem Artikel angefangen haben und wo wir angekommen sind. Was als Vorhersage eines bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs begann, hat sich zu einem Sinnieren darüber entwickelt, dass die russische Wirtschaft zu schnell wächst! Der vielleicht letzte Strohhalm der "Russland kollabiert"-Fraktion ist die Hoffnung, dass diese schnell wachsende russische Wirtschaft sich selber von einer Klippe stürzen wird.
Es bleibt abzuwarten, wohin sich die russische Wirtschaft von hier aus entwickeln wird. Aber wenn die letzten fast zwei Jahre ein Indiz sind, wird sie sich weiterentwickeln und anpassen. Mittlerweile sind in Russland die westlichen Banker größtenteils verschwunden, und ich musste noch auf keinen Schwarzmarkt. Wenn ich von einem gut besuchten Moskauer Café aus die belebten Straßen überblicke, fällt mir auf, wie banal die Szene ist. Die Leute gehen allein oder in Gruppen vorbei, sie unterhalten sich, starren in ihre Telefone, trinken Kaffee, und ich höre kein Geschwätz über die Wirtschaft oder den Rubel.
Die westlichen Experten und Beamten, die ausnahmslos das neueste Narrativ der wirtschaftlichen Implosion verbreiten, werden weiter bellen, aber die russische Karawane zieht weiter.
Übersetzt aus dem Englischen.
Henry Johnston ist Redakteur bei RT. Er war überdies ein Jahrzehnt im Finanzwesen tätig.
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