Von Dagmar Henn
Blicken wir zurück ins vergangene Jahr. Die Energiekrise, die durch die Sanktionen gegen Russland ausgelöst wurde, brachte den meisten Ländern eine beträchtliche Inflation. Während sie schon in den industriellen Kernländern bei einer Rate von bis zu 10 Prozent Probleme verursachte und insbesondere den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung weiter absenkte, hatten die Länder des Südens vielfach nicht nur mit einer ganz anderen Inflation bei Energie und Nahrungsmitteln zu kämpfen.
Die UNCTAD hatte damals belegt, dass in beiden Bereichen, Energie wie Nahrungsmitteln (vor allem Getreide), die Preissteigerungen zur Hälfte auf Spekulation zurückzuführen waren. In beiden Fällen handelt es sich, global gesehen, um Oligopole, in denen eine kleine Gruppe von Anbietern genug Marktmacht versammelt, um Preise gezielt in die Höhe zu treiben. (Übrigens im Bereich Nahrungsmittel eine Handlungsweise, die in vielen Kulturen historisch als eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen galt, das viele Staaten zu verhindern suchten, das aber für multinational operierende Konzerne keinerlei Konsequenzen hat).
Schon im vergangenen Jahr war zu erkennen, dass sich die Ernährungslage in vielen Ländern des Südens deutlich verschlechterte, wobei eine Erhöhung der Getreidepreise, die nun einmal auch internationale Hilfsorganisationen betrifft, die Hungergebiete versorgen, mit einer Verringerung der Spendenbereitschaft zusammentraf, weil die Staaten des Westens ihre Gaben kürzten ‒ schließlich mussten sie ihre eigene Bevölkerung ruhigstellen.
Inzwischen wurde vielfach verkündet, das Problem sei jetzt vorüber, die Inflation sinke wieder, ebenso wie die Getreidepreise. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, sie gilt nur für die westlichen Kernländer. Nicht allerdings für die Länder des Globalen Südens, denen ein sinkender Getreidepreis in US-Dollar keine Erleichterung verschafft, wenn gleichzeitig der Dollarkurs im Verhältnis zur einheimischen Währung stärker steigt, als der Getreidepreis sinkt.
"Was passiert ist, ist, dass für größere Teile der Welt, die Nahrungsmittel importieren, die Preise weiter steigen, weil die Währungen im Verhältnis zum US-Dollar deutlich gefallen sind. Und die Menschen essen in ihrer einheimischen Währung, nicht in US-Dollar."
Das sagte die Analytikerin Sara Menker in einem Interview mit Bloomberg vor wenigen Tagen. Gro Intelligence, der Dienstleister, für den sie arbeitet, beobachtet alle Aspekte des globalen Nahrungsmittelmarktes, vom Anbau über den Transport bis zur Verarbeitung.
"Wenn man sich beispielsweise die Weizenpreise in Ägypten ansieht, dann sind sie jetzt auf Rekordhöhe. Wenn die Weizen-Optionspapiere im Vergleich zum Vorjahr zweistellig gefallen sind, sind sie in Ägypten zweistellig gestiegen, weil der Preis, Weizen zu importieren, vom Kurs des ägyptischen Pfunds abhängt."
Optionen, englisch "futures", sind ein Kernstück der Spekulation und das, was man Derivate nennt. Der Derivatemarkt ist der große Spielplatz, auf dem täglich Billionen hin- und herwandern und wo die wirklich großen Gewinne gemacht werden.
Dabei ist die einzelne Option ein auf die Zukunft bezogenes Gebot, eine bestimmte Ware oder eine bestimmte Aktie zu einem festgelegten Preis zu kaufen oder zu verkaufen. Dabei gibt es nicht nur den berüchtigten "Leerhandel", also Verträge über die Lieferung einer Ware oder Aktie, die sich zum Zeitpunkt des Abschlusses gar nicht im Besitz des Anbieters befindet. Es gibt auch Derivate zweiter, dritter und weiterer Ebenen, also Verträge etwa über den Kauf einer Option auf den Erwerb einer Option an einem bestimmten Datum zu einem bestimmten Preis.
Zur Spekulation ist das deshalb interessant, weil die Preise der Option nur einen Bruchteil des Preises der Ware oder Aktie betragen, man also mit sehr wenig Geld sehr viel bewegen kann, was die mögliche Gewinnspanne deutlich erhöht. Allerdings erhöht sich auch das Risiko eines möglichen Verlustes um ein Vielfaches, sobald irgendjemand auf der versprochenen Ware besteht, die oft bei weitem nicht in der gehandelten Menge zur Verfügung steht.
Nun ist die Entwicklung der Preise oft von politischen Entscheidungen getrieben. Es wäre beispielsweise höchst interessant zu wissen, wer kurz vor der einsamen Entscheidung einer EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ein Milliardengeschäft mit Pfizer abzuschließen, Optionen auf Pfizer-Aktien erworben hat. Oder Optionen auf Optionen. Denn wenn schon die Sprünge, die Aktien wie von Pfizer und BioNTech gemacht haben, beeindruckend waren, waren es die der Optionen umso mehr.
Aber zurück zum Problem des Hungers. Die Spekulation auf dem Nahrungsmittelmarkt ist in den letzten Jahren geradezu explodiert. Für die Märkte von Energierohstoffen gilt das Gleiche (es wäre wirklich wunderbar zu wissen, wo, wie und in welcher Höhe Frau von der Leyen die ganzen EU-Entscheidungen, wie etwa die Russland-Sanktionen, zu Geld gemacht hat oder hat machen lassen). Für die Menschen, die in armen Ländern mit hohen Nahrungsmittelimporten leben, setzt sich diese Spekulation aber unmittelbar in Not um. Dabei ist es für den leeren Teller gleichgültig, ob die explodierenden Preise Folge eines real fehlenden Angebots oder eines sinkenden Währungskurses im Verhältnis zum Dollar sind.
"In Ländern wie in Syrien sind die Nahrungsmittelpreise um 2.600 Prozent gestiegen, im Libanon 1.200 Prozent, in Argentinien 700 Prozent."
Nun gibt es hinter einer Entwicklung, die vom Verhältnis vieler Währungen zum US-Dollar getrieben wird, ein starkes politisches Motiv. Das Modell dafür ist die Lateinamerika-Krise der 1980er, die aus den USA gezielt ausgelöst wurde, um die lateinamerikanischen Länder wieder unter die Kontrolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu bekommen.
Deutliche Zinserhöhungen in den USA führten damals zu einem Anstieg des Dollarkurses, und damit zu einer explodierenden Verschuldung all jener Länder, deren Staatsschulden nicht in Landeswährung, sondern in Dollar ausgegeben wurden. Gleichzeitig erhöhten sich die Preise für alle Importe, bei denen Energie und Nahrungsmittel üblicherweise die wichtigsten sind. Das führte zu Staatsbankrotten, die erneute massive Kreditaufnahmen beim IWF erzwangen.
Vergangenes Jahr war eine Wiederholung dieses Ansatzes zu beobachten, und in einigen Ländern war er auch bereits erfolgreich, wie in Ghana, das sich erneut in die Abhängigkeit des IWF begeben hat. Wobei die Konsequenzen dieser Abhängigkeit immer gleich sind: Alle staatlichen Preisregulierungen müssen aufgehoben und die öffentlichen Ausgaben gesenkt werden ‒ heißt also übersetzt, dass die Infrastruktur, die der Bevölkerung nützt, zerstört und womöglich vorhandene Rohstoffe zum Nutzen internationaler Konzerne verschleudert werden müssen. Wer sich mit dieser Strategie noch nicht befasst hat, kann sich in dem Buch "Die Schock-Strategie" der kanadischen Journalistin Naomi Klein oder in "Bekenntnisse eines Economic Hit Man" von John Perkins genauer informieren.
Es wird in Europa wenig wahrgenommen, dass dieselbe künstliche Energieverknappung, die gerade die Lebensverhältnisse in Europa bedroht, im Globalen Süden Folgen einer ganz anderen Schärfe hervorbringt. Was die deutschen Supermarktregale phasenweise etwas lichtete, kann, wie an den oben erwähnten Inflationsraten zu erkennen, in anderen Teilen der Welt töten. Durch Hunger. Durch einen Hunger, der nicht aus einem Mangel an Nahrung resultiert, sondern die Folge machtpolitischer Manipulationen und ungezügelter Spekulation ist.
Nun ist der Hunger, die menschliche Not, nur ein Aspekt. Ein anderer ist eine tiefe politische Instabilität, die ebenfalls bei diesen Plänen in Kauf genommen wird. Der Arabische Frühling war auch Konsequenz hoher Reispreise. Die letzte Krise in den Nahrungsmittelpreisen gab es in den Jahren 2007 bis 2008, und es war diese Not, die die Unzufriedenheit auslöste, die dann zum Treibstoff der Farbrevolutionen wurde. Heute, so Menker, sei die Lage "viel schlimmer".
Der Motor dieser Entwicklung ist der Kurs des US-Dollars, der unter anderem durch die Folgen der Sanktionen nach oben getrieben wird. Die militärischen Versuche, die US-Dominanz zu retten, sind nur ein Teil des Spiels. Der Dollar wird gezielt genutzt, um Abhängigkeiten zu schaffen und Geldströme in die Vereinigten Staaten zu lenken. Aber die Verhältnisse sind nicht mehr so, wie sie in den 1980ern waren.
Nicht nur, weil der IWF inzwischen Konkurrenz bekommen hat, und chinesische Kredite nicht mit der Forderung verknüpft sind, die Bevölkerung zu verelenden. Auch, weil das Eis unter dem US-Dollar inzwischen ziemlich dünn ist. Um das zu verstehen, muss man noch einmal zurück in die Welt der Spekulation.
Die Finanzmarktkrise 2008 war das Ergebnis einer einzigen geplatzten Blase, bei der es um verpackte und weiterverkaufte Hypotheken ging, die notleidend wurden, sobald die Zinsen ein wenig stiegen. Damals wurde eine Zeit lang viel davon geschrieben, man müsse Leerverkäufe verhindern, den elektronischen Börsenhandel einschränken oder wieder Geschäftsbanken und Investmentbanken voneinander trennen. Am Ende geschah nichts davon, weil die Angst vor einem Platzen der übrigen Blasen viel zu groß war. Das Problem wurde nicht gelöst, sondern durch großzügiges Gelddrucken schlicht vertagt, als würde man einen Kredit aufnehmen, um die Zinsen eines Kredits abzubezahlen, den man abgeschlossen hat, um die Zinszahlungen für den ursprünglichen Kredit leisten zu können.
Das Ergebnis war, dass die Größe der Blasen ungeheuer zugenommen hat. Es gibt auf The Duran einen recht neuen Stream, der sich mit dem Thema der Derivate beschäftigt (leider auf Englisch), in dem eine ungefähre Hausnummer genannt wird, welchen Umfang diese Derivatepositionen mittlerweile haben – um die 650 Billionen Dollar.
Nun gibt es bei den großen politischen Ereignissen der vergangenen Jahre im Westen eine Auffälligkeit. Egal, ob es dabei um Corona geht oder um Klimaschutz – das Ergebnis ist immer, dass viele Milliarden direkt aus dem Geldbeutel der Bürger oder auf Umwegen aus den Staatshaushalten irgendwie auf den Finanzmärkten landen. Allein, dass derartige Raubzüge stattfinden, ist ein Indiz dafür, dass diese Blasen äußerst zerbrechlich geworden sind. Anfang dieses Jahres begann eine größere Krise auf dem Markt der Gewerbeimmobilien, der in den USA einige Banken und auch in Deutschland eine ganze Reihe von Projektmanagement-Firmen in diesem Sektor zum Opfer fielen. Man kann es kaum übersehen, dass da etwas anrollt.
Die Summe, die in diesen Derivaten steckt, ist aber so hoch, dass sich diesmal das Problem nicht mehr durch Gelddrucken lösen lässt, und diese Entwicklung verläuft parallel zu einer geopolitischen Verschiebung, die die Vormacht des US-Dollars auf der ganz materiellen Ebene des wirtschaftlichen Einflussgebietes bedroht.
Was die große Mehrheit der Weltbevölkerung im Grunde vor eine leider ziemlich riskante Wahl stellt. Entweder, es geschehen zu lassen, dass die Kurssteigerungen des Dollars zum Tod Unzähliger durch Verhungern führen, oder aber den US-Dollar ins Bodenlose stürzen zu lassen, indem eine der großen Blasen zum Platzen gebracht wird.
Genau an diesem Punkt verläuft eine der heißesten Fronten im Nahen Osten. Die eine Variante, wie diese Front aktiviert werden könnte, ist eine militärische Eskalation in der Region, die Öllieferungen, aber auch sonstige Transporte, etwa über den Suezkanal, zum Stillstand bringen könnte. Die andere Variante wäre der schlichte Beschluss der arabischen Länder, womöglich in Kooperation mit Russland, den Westen nicht mehr zu beliefern.
Der Effekt auf die Spekulationsblase auf dem Energiemarkt wäre der gleiche. Sie käme zum Platzen, weil den Kaufnachfragen kein Angebot mehr gegenübersteht, was die Derivate sämtlicher Ebenen mit beträfe.
Für die Länder des Westens wäre das eine wirtschaftliche Katastrophe, die die Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts wie einen Sonntagsspaziergang wirken lässt. Für die Menschen im Globalen Süden aber, über deren Köpfen sich gerade die schwarzen Wolken dutzender Hungerkatastrophen ballen, wäre es die Rettung.
Man kann an der Politik der letzten Jahre deutlich erkennen, dass sowohl Russland als auch China zwar daran arbeiten, die US-Hegemonie zu brechen, aber mit allen Mitteln versuchen, dabei katastrophale Entwicklungen zu vermeiden, auch in den westlichen Kernländern. Aber die Hungerfalle, die gerade aufgestellt wird, könnte dazu führen, dass diese Vorsicht nicht länger möglich ist.
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