Kann Europas Energiebrücke nach Russland jemals wiederhergestellt werden? Diese Frage stellt der Kolumnist Javier Blas in einem Artikel zum Thema Energie und Rohstoffe für die Agentur Bloomberg.
Vor dem Einmarsch in die Ukraine war Russland der größte Gaslieferant der Europäischen Union, auf den fast die Hälfte der gesamten Gaslieferungen entfiel. "Die über Jahrzehnte aufgebaute Energiebrücke hatte die kältesten Episoden des Kalten Krieges, den Zerfall der Sowjetunion und die Liberalisierung der europäischen Energiemärkte überstanden", so Bloomberg. Im Februar dieses Jahres änderte sich alles: Die EU löse sich allmählich aus der Gasabhängigkeit von Russland, die Pipelineexporte gingen stark zurück.
Regierungsvertreter der EU-Mitgliedsstaaten versicherten, dass sie alle Lektionen gelernt hätten und dass ihre Länder nun niemals durch Gaslieferungen mit Russland verbunden sein würden. In der Praxis sehe es aber etwas anders aus, warnt Bloomberg. Vor kurzem zum Beispiel wurde vom Oxford Institute for Energy Studies ein Branchentreffen organisiert, bei dem die Teilnehmer, darunter Führungskräfte, Politiker und Berater, gefragt wurden, ob die Europäische Union Russland wieder zu ihrem wichtigsten Gaslieferanten machen würde. Die Umfrage habe ein Ergebnis von 40 Prozent Befürwortern und 40 Prozent Ablehnenden gebracht, der Rest sei unentschieden gewesen, meldet Bloomberg nüchtern. Und mehr noch:
"Näher an der Realität gehen die Meinungen weiter auseinander. Michael Kretschmer, Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Sachsen und prominenter konservativer Politiker, sagte vergangenen Monat, dass ein Leben ohne russisches Gas 'historisch ignorant und geopolitisch falsch' wäre. Für viele deutsche Politiker sind die Preise wichtig. Berlin zahlt derzeit 140 Euro pro Megawattstunde für den Import von Gas, etwa siebenmal mehr als im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2020. Um seine Verbraucher und Unternehmen abzufedern, gibt Deutschland Milliarden an Subventionen aus."
So sehr die europäischen Staats- und Regierungschefs auch beschworen, dass sie nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine nicht zur Tagesordnung übergehen würden, die unausweichlichen Realitäten der Geografie und der Märkte könnten selbst die entschlossensten politischen Entscheidungsträger übertrumpfen, stellt Bloomberg fest. Das werde früher oder später dazu führen, dass Russland wieder zum führenden Lieferanten in Europa werde. Der Kolumnist der Agentur betont:
"Ob es dazu kommt oder nicht, ist nicht nur für die europäischen Energiemärkte und ihre Industriegiganten von Bedeutung, sondern auch für die Zukunft von Gasinvestitionen in Ländern von Katar bis Mosambik und den USA. Gasexportanlagen im Wert von Milliarden von US-Dollar stehen auf dem Spiel."
Blas bezweifelt, dass Europa jemals zu den langfristigen Verträgen der Vergangenheit mit Russland zurückkehren würde. Er weist jedoch darauf hin: Wenn Europa "seine Chemie-, Lebensmittel- und Schwerindustrie wettbewerbsfähig halten will, wird es billiges Gas brauchen".
Und für Europa gibt es kein billigeres Gas als das russische, so sein Fazit.
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