Der US-Konzern Amazon schrieb im Jahr 2018 Geschichte, als er als zweites Unternehmen nach Apple die Billionen-Dollar-Marke beim Börsenwert an der Wall Street knackte und somit dem prestigeträchtigen Klub der Ein-Billionen-Dollar-Bewertungen beitrat. Nun hat Amazon einen weiteren, zugegebenermaßen weniger wünschenswerten Meilenstein erreicht. Denn in dieser Woche wurde Jeff Bezos' online Marktplatz für nahezu alles zu dem ersten börsennotierten Unternehmen, das in der Tech-Aktien-Krise eine Billion Dollar an Marktwert verloren hat.
Die unglaublichen Zahlen, die zuerst von Bloomberg veröffentlicht wurden, sind demnach das Ergebnis einer sich zunehmend verschlechternden Weltwirtschaft und einer massiven Anlegerflucht, die sich infolge wiederholt nicht zufriedenstellender Gewinnberichte des Unternehmens einstellte. Der Aktienkurs des weltgrößten Online-Einzelhändlers lag am Mittwoch bei 86,14 Dollar, wodurch seine Marktkapitalisierung auf etwa 879 Milliarden Dollar sank. Allein in diesem Jahr verlor die Amazon-Aktie rund 48 Prozent ihres Wertes.
Der Softwareentwickler Microsoft, der im vergangenen Jahr kurzzeitig Apple als wertvollstes Unternehmen der Welt ablöste, lag mit einem Wertverlust von rund 900 Milliarden Dollar nicht weit hinter Amazon zurück. Zusammengenommen zeigen die Rückgänge der beiden Unternehmen die Auswirkungen eines miserablen Jahres, das die meisten Tech-Unternehmen am liebsten schnell vergessen würden. Jedoch sind diese Rückgänge nicht nur auf Amazon und Microsoft beschränkt. Die fünf wertvollsten US-Tech-Unternehmen haben Berichten zufolge in diesem Jahr zusammen rund 4 Billionen US-Dollar an Wert verloren.
"Wir sehen überall Anzeichen dafür, dass die Budgets der Menschen angespannt sind, die Inflation immer noch hoch ist und die Energiekosten durch andere Probleme zusätzlich steigen", erklärte Amazon-Finanzchef Brian Olsavsky Ende Oktober gegenüber Reportern. "Wie die meisten Unternehmen bereiten wir uns auf eine Zeit vor, in der das Wachstum langsamer sein könnte."
So wundert es nicht, dass im vergangenen Monat vor allem Amazon mit Zahlen zum dritten Quartal enttäuschte, die weit hinter den Erwartungen der Anleger zurückblieben. Und Besserung ist vorerst nicht in Sicht: Auch im vierten Quartal rechnet das Unternehmen lediglich mit einem Wachstum von zwei bis acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Denn wie viele andere Unternehmen hat auch Amazon den Online-Boom zu Beginn der Corona-Pandemie überschätzt. Nun aber ist das Online-Geschäft zu früheren Trends zurückgekehrt – und zudem lasteten die schwächelnde Konjunktur und verstärkte Konkurrenz im Einzelhandel auf den Erlösen.
"Im makroökonomischen Umfeld tut sich offensichtlich eine Menge", gestand Amazon-CEO Andy Jassy nach der Veröffentlichung der Ergebnisse des dritten Quartals ein. "Und wir werden unsere Investitionen ausbalancieren, um schlanker zu werden, ohne unsere wichtigsten langfristigen, strategischen Ziele zu gefährden." Positiv ist jedoch anzumerken, dass es Amazon im Gegensatz zu anderen Tech-Giganten – wie etwa Facebook – bisher gelungen ist, Massenentlassungen zu vermeiden. Erst am Mittwoch wurde offiziell bekannt, dass der Facebook-Konzern Meta angesichts erheblicher finanzieller Probleme mehr als 11.000 Mitarbeiter entlassen muss. Das entspricht etwa 13 Prozent der gesamten Belegschaft.
Aber auch wenn dieses Schwert an Amazon bisher vorbeigegangen ist, heißt das noch lange nicht, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Denn Anfang November hat der weltweit größte Einzelhändler aufgrund des anhaltenden wirtschaftlichen Gegenwinds und des teuren Sparkurses des Unternehmens unter CEO Jassy einen vorläufigen Einstellungsstopp verhängen müssen. Personalchefin Beth Galetti begründete den Schritt, der für die nächsten Monate gelten soll, unter anderem mit den unsicheren wirtschaftlichen Aussichten.
"Wir sehen uns mit einem ungewöhnlichen makroökonomischen Umfeld konfrontiert und wollen unsere Einstellungen und Investitionen mit Bedacht auf diese Wirtschaft vornehmen", erklärte Galetti. "Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit unsicheren und schwierigen Wirtschaftslagen konfrontiert sind. Wir hatten zwar mehrere Jahre, in denen wir unseren Personalbestand auf breiter Basis erweitert haben. Aber es gab auch mehrere Jahre, in denen wir den Gürtel enger geschnallt haben und bei der Anzahl der Mitarbeiter, die wir eingestellt haben, schlanker vorgegangen sind. Da wir jetzt weniger Mitarbeiter einstellen müssen, sollte dies jedem Team die Möglichkeit geben, die Prioritäten für die Kunden und das Unternehmen weiter zu setzen und produktiver zu sein."
Bei näherer Betrachtung sagen die rekordverdächtigen Bewertungsverluste wohl ebenso viel über die Eigenheiten der modernen Weltwirtschaft aus, wie über die einzelnen Unternehmen. Vor vier Jahren war Apple das erste Unternehmen, das die Bewertungsmarke von einer Billion Dollar erreichte. In den darauffolgenden Jahren gelang es dem Smartphone-Hersteller gar, seine Bewertung kurzzeitig zu verdreifachen. Auch ein halbes Dutzend anderer Unternehmen, darunter Amazon, Microsoft, Meta und Saudi Aramco, haben es geschafft, die Rekordmarke von einer Billion Dollar zu übertreffen. Im Jahr 2022 geht es allerdings nicht mehr um Unternehmen, die die Billionen-Dollar-Marke knacken, sondern vielmehr um diejenigen, die denselben Betrag verlieren und trotzdem immer noch ein unvorstellbares Maß an Wohlstand bewahren können.
Zwar hat der Einbruch des Amazon-Aktienkurses auch das Nettovermögen von Amazon-Gründer Jeff Bezos beeinträchtigt. Im Gegensatz zum durchschnittlichen Arbeitnehmer kann sich der Milliardär aber dennoch weiterhin eines für die meisten Menschen nicht fassbaren Vermögens erfreuen. Demnach besitzt der viertreichste Mensch der Welt jetzt "nur noch" 113 Milliarden Dollar – 79,5 Milliarden Dollar weniger, als noch zu Beginn des Jahres, wie der Bloomberg Billionaires-Index zeigt.
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