Eine Analyse von Dagmar Henn
Die Europäische Zentralbank hat gestern alle ihre Zinssätze um 75 Basispunkte, das sind 0,75 Prozent, erhöht. Seit Bestehen der EZB, also seit der Einführung des Euro, hat es keine vergleichbare Erhöhung gegeben. Der übliche Schritt, um den Zentralbanken erhöhen oder senken, liegt bei 25 Basispunkten; erwartet wurden 50, also ein Anstieg der Zinsen um 0,5 Prozent.
Gleichzeitig erklärte die EZB: "Beruhend auf den gegenwärtigen Einschätzungen erwartet der Zentralbankrat, bei den nächsten Treffen die Zinsraten weiter zu erhöhen, um die Nachfrage zu dämpfen und vor der Gefahr einer anhaltenden Aufwärtsbewegung der Inflationserwartung zu schützen." Ziel der Geldpolitik bleibt nach wie vor, die Inflation innerhalb der Eurozone auf die Zielmarge von zwei Prozent zu senken.
"Nach der vorläufigen Schätzung von Eurostat erreichte die Inflation im August 9,2 Prozent. In die Höhe schießende Energie- und Nahrungsmittelpreise, Nachfragedruck in einigen Sektoren beim Wiederanfahren der Wirtschaft und Flaschenhälse in den Lieferketten treiben die Inflation noch immer. (…) Auf die Zukunft bezogen hat das Personal der EZB seine Inflationserwartungen deutlich nach oben korrigiert und erwartet nun einen Schnitt von 8,1 Prozent für 2022, 5,5 Prozent für 2023 und 2,3 Prozent für 2024."
Gleichzeitig wird eine Wachstumsverlangsamung und für das vierte Quartal 2022 sowie das erste Quartal 2023 Stagnation angenommen. "Die sehr hohen Energiepreise verringern die Kaufkraft der Einnahmen der Bevölkerung und die Flaschenhälse in den Lieferketten beschränken, obwohl sie nachlassen, weiterhin wirtschaftliche Aktivitäten."
Diese Aussage belegt, dass die EZB weiß, wie problematisch dieser Schritt ist. Die EZB ist in ihrer Aufgabenstellung auf reine Geldpolitik beschränkt; das bedeutet, ihre Maßnahmen orientieren sich allein an der Inflation, nicht, wie die Politik der meisten Zentralbanken europäischer Länder früher, an den Wirtschaftsdaten. Das ist solange ein begrenztes Problem, solange der Zyklus von Inflation/Deflation und Wachstum/Rezession parallel verläuft, was der Normalzustand ist – wenn eine wirtschaftliche Krise vorherrscht, geben die Menschen weniger Geld aus, die Nachfrage ist also niedriger, und damit sinkt die Inflation, während sie in einem Boom mehr nachfragen und die Inflation dadurch steigt.
Die augenblickliche Lage ist aber durch mehrere Besonderheiten geprägt. Zum einen ist zumindest die Konsumnachfrage, wie von der EZB selbst bestätigt, durch die hohen Energiepreise massiv geschwächt, zum anderen ist, dank des durch die Sanktionen erzeugten Energiemangels, die gesamte Produktion am Beginn einer massiven Abwärtsspirale. Es gibt also nicht nur eine sinkende Nachfrage, dazu tritt ein sinkendes Angebot. Eine Inflation, die nicht aus einem Überschuss an Geld, sondern aus einem zurückgehenden Angebot resultiert, ist aber geldpolitisch nicht zu kontrollieren, was jüngst auch die US-amerikanische Fed eingestand.
Ein Zusammentreffen von Inflation und Rezession (als Stagflation bekannt) hatte sich zuletzt Anfang der 1970er-Jahre ereignet, unter anderem ausgelöst von der Ölkrise, als die OPEC-Länder die Ölversorgung gekappt hatten. Der Auslöser ähnelt also dem der jetzigen Krise. Die Reaktion der Wirtschaftspolitik auf diesen Zustand hatte in der Wende hin zu der neoliberalen Politik bestanden, die die letzten Jahrzehnte prägte: Die Goldbindung des Dollar fiel, gesetzliche Zinsschranken wurden ebenso aufgehoben wie diverse gesetzliche Regelungen, die Spekulationsgeschäfte begrenzten. Dieser Schritt reichte in der Finanzmarktkrise nach 2008 trotz Zinssenkungen auf null nicht mehr aus, woraufhin die Zentralbanken, insbesondere die Fed und die EZB, dazu übergingen, Staatsschulden direkt aufzukaufen. Danach gab es sowohl in den USA als auch in der Eurozone mehrere Anläufe, die Zinsen wieder zu erhöhen, die bald wieder zurückgenommen werden mussten.
Weder Nachfrage noch Angebot sind unbegrenzt flexibel. Ein zur Lebenserhaltung notwendiges Niveau der Nachfrage ist zumindest mit den Mitteln der Zentralbank nicht unterschreitbar, und ein Angebot, das infolge mangelnder materieller Voraussetzungen (Energie) nicht entstehen kann, lässt sich auch durch niedrigere Zinsen nicht erzeugen.
Die Einzigen, die in der augenblicklichen ökonomischen Lage in großen Mengen Geld nachfragen, sind die Staaten, die in Gestalt großer Rettungspakete Geld verteilen, um den Zorn über die Energiepreise zu dämpfen, damit aber auf der einen Seite nun höhere Zinsen für die dafür aufgenommenen Kredite zahlen müssen, andererseits aber die mögliche Wirkung einer Zinserhöhung auf die Inflationsrate selbst konterkarieren.
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