Es könnte mehr als drei Jahre dauern, bis die Europäische Union russische Gasimporte ersetzen kann, wenn jene abrupt unterbrochen werden sollten. Diese Warnung findet sich in einem Bericht der internationalen Ratingagentur Fitch, der diese Woche auf ihrer Webseite veröffentlicht wurde. So heißt es seitens der Agentur:
"Eine plötzliche Unterbrechung ist nicht Fitchs Ausgangspunkt, stellt aber ein Risiko dar. Bulgarien und Polen sind bereits von der Versorgung abgeschnitten und die Lieferungen an andere EU-Mitglieder wurden reduziert. Aufgrund von Liefer- und Infrastruktureinschränkungen könnte die EU mehr als drei Jahre brauchen, um einen vollständigen Ausfall der russischen Gaslieferungen auszugleichen."
Sollten die russischen Lieferungen ausbleiben, würden die Länder der Staatengemeinschaft "mit einem erheblichen makroökonomischen Schock konfrontiert werden", warnt Fitch. Dazu gehörten auch ein negatives Wirtschaftswachstum und eine höhere Inflation.
Die Ratingagentur geht demnach davon aus, dass die plötzliche Unterbrechung der Versorgung die EU-Länder Ungarn, die Slowakei sowie die Tschechische Republik am stärksten treffen würde, da jene mangels alternativer Energie-Quellen am meisten von russischem Gas abhängig seien. Polen, Litauen und Rumänien wiederum seien mehr oder weniger sicher, da sie sich weitgehend alternative Lieferungen gesichert haben oder über eine eigene Produktion verfügen.
Russland ist bislang der wichtigste Gaslieferant der EU. Im März hatte Brüssel im Zuge der Spannungen mit Moskau selbst angekündigt, bis Ende des Jahres die Gasimporte aus Russland um zwei Drittel reduzieren zu wollen. Dies soll demnach vor allem mit dem Kauf erheblicher Mengen von verflüssigtem Erdgas (LNG) geschehen. Doch LNG ist sehr teuer, zudem konkurriert die EU auf dem Weltmarkt mit asiatischen Käufern, was den Preis nach oben treibt. Bis "deutlich vor 2030" soll die Staatengemeinschaft dem Plan der EU-Kommission zufolge gar komplett unabhängig von russischen fossilen Brennstoffen sein. Geschehen soll dies dank des beschleunigten Ausbaus von erneuerbaren Energien, neuer Gas-Zulieferer sowie weiter steigender Importe von LNG.
Im April hatten sich Bulgarien, Polen und Finnland geweigert, die neue Bezahlweise für russisches Gas, die auf dem Rubel basiert, zu akzeptieren, woraufhin Gazprom die Lieferungen an diese Länder stoppte. Mitte Juni reduzierte der staatliche russische Energieriese außerdem seine Lieferungen durch die Gaspipeline Nord Stream 1 nach Deutschland um fast 60 Prozent. Gazprom begründete dies mit technischen Problemen aufgrund der Sanktionen, die wegen der Sonderoperation Russlands in der Ukraine gegen Moskau verhängt worden waren.
Diese Ereignisse haben in ganz Europa die Befürchtung geweckt, dass Russland den Gashahn ganz zudrehen könnte. Das veranlasste die europäischen Länder dazu, Notmaßnahmen wie Gasrationierungen und die Wiederbelebung von mit Kohle betriebenen Energieanlagen anzukündigen. Moskau hat wiederholt erklärt, es werde alles tun, um seinen Ruf als "zuverlässiger Gaslieferant" aufrechtzuerhalten, und hat jegliche Pläne, Europa vollständig vom Gas zu trennen, dementiert.
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