Eine Eskalation der Spannungen mit Moskau mit einem vollständigen Einfuhrstopp russischer Energie könnte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nach Modellrechnungen der Bundesbank in eine Rezession stürzen. "Im verschärften Krisenszenario würde das reale Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2021 um knapp zwei Prozent zurückgehen", hieß es in einem am Freitag veröffentlichten Monatsbericht der Notenbank.
Die Wirtschaftsleistung könnte damit um bis zu fünf Prozent niedriger ausfallen als in der März-Prognose der Europäischen Zentralbank (EZB) angenommen. Umgerechnet in absolute Zahlen wären das ungefähr 165 Milliarden Euro. Da es kurzfristig kaum möglich wäre, Lieferausfälle aus Russland durch erhöhte Einfuhren aus anderen Förderländern komplett zu ersetzen, dürfte es vor allem bei der Gasversorgung zu Engpässen kommen. Die Bundesbank geht in ihrem Szenario davon aus, dass der Einsatz von Energie rationiert würde. Mehr als die Hälfte der Gasimporte in Deutschland stammen aus Russland.
Die Folgen eines Lieferstopps würden die deutsche Wirtschaft aber noch in den kommenden beiden Jahren belasten und zu Wachstumseinbußen führen, schrieben die Ökonomen der Deutschen Bundesbank. Sie schätzten den Absolutbetrag auf jeweils ungefähr 115 Milliarden Euro. Für diese beiden Jahre wurden keine Berechnungen zu Effekten möglicher Rationierungen von Energie angestellt.
Nach den im März erstellten Modellrechnungen würde die Wirtschaft in diesem Jahr nicht so stark schrumpfen wie im Corona-Krisenjahr 2020. Die Bundesbank-Volkswirte führten dies auf die "vergleichsweise dynamische Erholungsphase" nach der Krise zurück. Im ersten Corona-Jahr 2020 war das Bruttoinlandsprodukt um 4,6 Prozent eingebrochen. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft aber wieder um 2,9 Prozent. Die Bundesbank wies darauf hin, dass die Modellrechnungen erheblichen Unsicherheiten unterliegen und die künftige Entwicklung "sowohl über- als auch unterzeichnen" können.
Die Erfahrungen in der Pandemie betraf jedoch nur eine überschaubare Periode. Bliebe es für Gas aus Russland bei einem Lieferstopp, fiele die industrielle Grundlage unseres Wirtschaftsstandorts weg, "und das nicht nur für ein paar Monate", warnte kürzlich der promovierte Fertigungstechniker und Bosch-Chef Stefan Hartung.
Auch andere Wirtschaftsvertreter, wie auch Gewerkschaften, warnten vor den existenziellen Folgen eines Lieferstopps für Deutschland. "Wenn Gas fehlt, geht der Standort außer Betrieb und wir haben einen Zusammenbruch der Chemie, einen Zusammenbruch der gesamten deutschen Industrie", sagte Christof Günther, Geschäftsführer der Infraleuna GmbH und energiepolitischer Sprecher der ostdeutschen Branche im Verband Nordostchemie.
Auch die Grünen-Chefin Ricarda Lang hat sich gegen ein sofortiges Gasembargo gegen Russland ausgesprochen und warnte vor schwerwiegenden Folgen für die deutsche Wirtschaft. Deutschland habe sich in den vergangenen Jahren "unfassbar abhängig" gemacht von Russland, so Lang beim Ludwig-Erhard-Gipfel in Gmund am Tegernsee. "Diese Abhängigkeit lässt sich nicht so schnell einfach rückgängig machen." Laut der Grünen-Chefin wäre etwa die Chemieindustrie massiv von einem Gasembargo betroffen.
"Wir reden über Hunderttausende von Arbeitsplätzen, wir reden von explodierenden Preisen und die damit einhergehenden sozialen Unruhen. All das sind Kosten, über die wir ehrlich sprechen müssen."
Ein sofortiges Embargo wird aktuell dennoch häufig von Berlin verlangt. Zuletzt hat der medial omnipräsente ukrainische Botschafter Melnyk erneut seine Forderungen diesbezüglich in der Sendung RTL Direkt als Wünschevorgetragen, welche nach einem Treffen der SPD-Spitze verdeutlicht wurden:
"Klar ist, wir haben unsere Wünsche auch der SPD-Spitze vorgetragen und darum geworben, dass es innerhalb dieser großen, wichtigen Partei mehr Verständnis gibt, dass die Ukraine heute nicht nur die schweren Waffen benötigt, sondern auch ein sofortiges Embargo auf Öl und Gas aus Russland", so Melnyk.
Das Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen des Krieges ist laut Bundesbank nach wie vor sehr unsicher und hänge von seinem weiteren Fortgang ab. Bereits jetzt stellt die Notenbank in ihrem Monatsbericht fest:
"Die wirtschaftlichen Aussichten haben sich durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine weltweit verschlechtert. Dies liegt zum einen an den direkten Auswirkungen der Kampfhandlungen und der Unsicherheit hinsichtlich des weiteren Kriegsverlaufs. Zum anderen dürften die Sanktionen, welche die Europäische Union (EU) und ihre Partner gegen Russland verhängt haben, Spuren hinterlassen."
Im ersten Quartal des laufenden Jahres erwartet die Notenbank in etwa eine Stagnation der Wirtschaftsleistung. Zum Ende vergangenen Jahres stoppten die vierte Corona-Welle und die verschärften Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie die Konjunkturerholung. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im vierten Quartal um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal.
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(dpa / rt)