Laut dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, müssen die Gehälter in Deutschland angesichts der immensen Teuerungsrate steigen. Angeheizt von massiv gestiegenen Energiepreisen kletterte die Jahresinflationsrate im März auf 7,3 Prozent. Eine Lohnentwicklung sei auch deshalb wichtig, "damit der Konsum weiterhin aufrechterhalten werden kann", sagte Fratzscher am Dienstag im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Damit widerspricht der Topökonom jenen Stimmen, die meinen, dass eine Forderung nach höheren Löhnen wegen der in allen Lebensbereichen deutlich gestiegenen Kosten eine Lohn-Preis-Spirale anheizen würde. Im Gegenteil wäre das Deckeln von Gehältern in Zeiten der Teuerung durch gestörte Lieferketten, steigende Zinsen und unsichere Energieversorgung laut Fratzscher falsch. Die Szenarien einer Lohn-Preis-Spirale würden eher einige Lobbystimmen verbreiten. Vielmehr wären die Aussichten für die gesamte Wirtschaft düster, wenn die Einkommen durch die Preisentwicklung abgehängt werden. Lohnanpassungen seien als Ausgleich für die stark gestiegenen Preise "absolut notwendig".
"Denn wenn das nicht passiert, dann werden die Unternehmen Schwierigkeiten bekommen, die Arbeitslosigkeit wird steigen, und dann kommen wir in eine Spirale aus immer schwächerem Wachstum und hoher Inflation", warnte der DIW-Präsident.
Dass der Preisanstieg neue Rekorde erreicht, bestätigte am Mittwoch auch das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Demnach stiegen die Erzeugerpreise im März verglichen mit dem Vorjahresmonat um 30,9 Prozent und damit auf den Höchststand seit Beginn der Erhebung im Jahr 1949. Die Erzeugerpreise wirken sich in der Regel auch auf die Verbraucherpreise aus, da der Handel die Erhöhung in der Regel weitergibt.
Für immer mehr Menschen werden gestiegene Verbraucherpreise zur Belastung. Etwa jeder siebte Erwachsene in Deutschland (15,2 Prozent) kann nach eigenen Angaben laut einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Postbank von Ende März kaum noch seine Lebenshaltungskosten bestreiten. Bei der Vergleichsumfrage im Januar lag der Anteil noch bei 11 Prozent. Zwei Drittel der 2.144 Befragten gaben an, dass sie ihre Ausgaben aufgrund der steigenden Preise verringert haben.
Dabei leiden Familien mit niedrigem Einkommen nach einer Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) am stärksten unter der Inflation. Während die Warenkörbe für die deutschen Haushalte im März im Schnitt 7,3 Prozent teurer waren als vor einem Jahr, mussten Familien mit niedrigem Einkommen 7,9 Prozent mehr bezahlen als im März 2021, wie das IMK der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnete. Waren des Grundbedarfs wie Energie und Nahrungsmittel seien zuletzt die stärksten Preistreiber gewesen – und diese fielen bei den Ausgaben dieser Haushalte stark ins Gewicht. Dagegen machten sie bei Haushalten mit hohem Einkommen einen kleineren Anteil des Warenkorbs aus.
Insgesamt handele es sich um eine "höchst unsoziale Inflation", die vor allem Haushalte mit geringeren Einkommen stark treffe, betonte Fratzscher. Demnach müssen einkommensschwache Menschen im Vergleich zu gut Verdienenden das 3- bis 5-Fache ihres monatlichen Einkommens für Energie und Lebensmittel aufbringen. Dabei sei die soziale Schere in den vergangenen 20 Jahren bereits sehr stark auseinander gegangen. Insbesondere Wohnkosten sind für viele bereits seit Längerem sehr hoch. Insgesamt ist laut Fratzscher ein Umdenken nötig. "Wir haben bisher eine Globalisierung, die völlig blind war, mit welchem Land man handelt, man hat nur auf Kosten, auf Effizienz geachtet." Nun müsse die Globalisierung klüger und widerstandsfähiger gestaltet werden. Es gelte, die Produktion international auf mehr Standorte zu verteilen und "vielleicht auch wieder mehr in Europa selbst" zu produzieren, so der Ökonom.
Fratzscher unterstrich auch sein bereits früher geäußertes Plädoyer gegen die sogenannte schwarze Null. Die Regierung könne zwar weiter versuchen, über Rücklagen und Schattenhaushalte die Schuldenbremse zu umgehen. Aber: "Sie sollte sich nun ehrlich machen", riet Fratzscher. Schon im März sagte er: "Die Bundesregierung darf nicht den Fehler der Vergangenheit wiederholen und das Land kaputt sparen, indem essenzielle öffentliche Investitionen in Sicherheit, Klimaschutz, Bildung, Gesundheit und Digitalisierung auf die lange Bank geschoben werden."
Die Politik müsse den Menschen angesichts der hohen Inflation gezielt helfen, zum Teil habe sie das auch schon gemacht, etwa mit der Energiepauschale von 300 Euro für jeden Beschäftigten. Auch die seitens der Ampel-Koalition geplante Anhebung des Mindestlohns sieht Fratzscher als einzig richtig an. Bislang liegt dieser bei 9,82 Euro, zum 1. Juli ist bereits eine Anpassung auf 10,45 Euro geplant und am 1. Oktober soll das Niveau der Lohnuntergrenze dann einmalig außerhalb der üblichen Erhöhungsschritte auf 12 Euro angehoben werden. Der falsche Weg seien jedoch "populistische Maßnahmen" wie die Spritpreisbremse. Ein solcher Zuschuss zum Benzinkauf sei kontraproduktiv. "Das reduziert nicht den Verbrauch von Energieträgern, sondern wirft letztlich einen großen Teil dieses Geldes den Mineralölkonzernen in den Rachen."
Vor dem Hintergrund gestiegener Energiepreise einigte sich die Ampel-Koalition auf ein zweites Paket zur Entlastung der Verbraucher. Geplant sind unter anderem eine Energiepreispauschale, eine Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe für drei Monate sowie Hilfen für Familien und Geringverdiener. Ein Mindestlohn wurde lange und wiederholt ausgebremst. Dabei hatten Analysen wie die des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) bereits früher aufgezeigt, dass sich durch unterdurchschnittliche Löhne ein milliardenschwerer Gesamtverlust aus geringerer Kaufkraft, Steuerausfällen und geringeren Einzahlungen in die Sozialversicherungen ergibt.
Auch in Deutschland wird mit einem Hinweis auf die vermeintliche Gefahr einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale, wodurch Unternehmen mit gestiegenen Löhnen weitere Preiserhöhungen rechtfertigen könnten, mitunter bei den Einkommen angesetzt und auch von Gewerkschaften eine Lohnzurückhaltung trotz gestiegener Lebenshaltungskosten erwartet. Wirtschaftsnahe Stimmen haben in der jüngsten Zeit sogar verallgemeinert, dass die Menschen während der COVID-19-Pandemie genug Geld angehäuft hätten. Der Ruf des britischen Notenbankchefs Andrew Bailey nach einer "Mäßigung der Lohnerhöhungen", um keine Lohn-Preis-Spirale in Gang zu setzen, hatte in Großbritannien in diesem Monat öffentliche Empörung nach sich gezogen.
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