In einem Beitrag auf ntv warnt der Wirtschaftsexperte Helmut Becker vor einem Zusammenbruch der deutschen Autoindustrie. Becker war 24 Jahre lang Chefvolkswirt bei BMW und leitet seit 1997 das "Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation" (IWK). Laut dem Wirtschaftsexperten habe die deutsche Autobranche den Strukturwandel, die Corona-Krise und den Halbleitermangel "mit Bravour bewältigt", doch der Ukraine-Krieg treffe die Branche "ins Mark".
Laut Becker drohten eine nochmalige Sanktionsverschärfung, ein gegebenenfalls einseitiger Stopp russischer Energielieferungen nach Deutschland und eine Verlängerung des Krieges. Sollte sich die Entwicklung bestätigen, könnten "die Folgen für die deutsche Wirtschaft und vor allem für die heimische Automobilindustrie katastrophal sein", so Becker.
Schon jetzt sei die Lage der deutschen Autoindustrie ernst, sehr ernst sogar, schreibt der Ökonom auf ntv. Die Gefährdungslage habe sich substanziell verändert. Zwar habe sich ein Ende des freien Welthandels mit allen schädlichen Wirkungen auf eine so stark exportabhängige Branche bereits zu Zeiten von US-Präsident Donald Trump "mit all den Schikanen, Handelsembargos und Sonderzöllen" angekündigt. Doch damit sei die Autobranche fertig geworden. Es habe seinerzeit "Raum für geordnete und beherrschbare Standortmaßnahmen" gegeben.
"Materialmangel nie gekannten Ausmaßes"
Doch die neue Bedrohung durch den Ukraine-Krieg habe "eine andere Qualität". Der "Flurfunk" in den Konzernzentralen der deutschen Autobauer zeichnet ein bedrohliches Szenario. Becker schreibt auf ntv:
"Nie in der Nachkriegszeit - selbst während der Ölkrisen und Sonntagsfahrverbote nicht - war die gesamte Branche, über die ganze Wertschöpfungskaskade hinweg, so nahe am kollektiven Kollaps wie derzeit."
Schuld daran sei "ein Materialmangel nie gekannten Ausmaßes". Im Speziellen betreffe dies Kabelbäume aus der Ukraine. Hinzu kämen teilweise auch "ein Mangel an seltenen Rohstoffen, wie etwa dem Edelgas Neon". Laut Becker erscheine zumindest die Lücke an seltenen Rohstoffen "irgendwie überbrückbar", doch die fortschreitende Unterbrechung der Zulieferung von Kabelbäumen stelle eine einzigartige Bedrohung der gesamten automobilen Wertschöpfungskette hierzulande dar.
Kabelbäume aus der Ukraine seien gegenwärtig für die deutsche Autoproduktion unverzichtbar, so Becker weiter in seinem Beitrag auf ntv. Die Lage sei dabei wesentlich brisanter als 2021, als zunehmende Lieferengpässen von Speicherchips aus Asien temporär zu Produktionsunterbrechungen bis hin zu zeitweiligen Werkschließungen und Kurzarbeit geführt hatten.
Doch das seinen "eben nur Lieferausfälle gewesen". Nun drohten bei den ukrainischen Kabelbäumen "totale Lieferausfälle". Weiter schreibt Becker, dass dieser "drohende Totalausfall an die Substanz der Branche gehe". Kabelbäume seien keine Standardware, "sondern hersteller- und modellspezifisch, Kundenwünschen entsprechend maßgeschneidert". Zudem seien Kabelbäume nicht nachrüstbar. Gebe es keine, könnten auch keine Autos gebaut werden. Als Folge könne die gesamte Wertschöpfungskette stillstehen.
"Lieferdebakel könnte auch etwas Positives haben"
Becker verweist in seinem Beitrag darauf, dass alternative Beschaffungsquellen Umfragen zufolge kurzfristig keinem deutschen Hersteller offen stünden. Becker in seinem Artikel:
"Selbst wenn Kabelbäume außerhalb der Ukraine gefertigt werden könnten, reichten die Kapazitäten nicht aus - kurzfristige Aufstockungen sind absolut ausgeschlossen."
Weiter führt der Ökonom auf ntv aus, dass dem Vernehmen nach die deutsche Autoindustrie als Ganzes 80 Prozent ihrer Kabelbäume aus der Ukraine beziehe. Bei einzelnen Herstellern seien es gar 100 Prozent. Den Grund dafür liefert der Wirtschaftsexperte auch gleich mit:
"In den vergangenen Jahren wurde die gesamte Kabelbaumproduktion aus Nordafrika abgezogen und wegen der niedrigen Stundenlöhne von durchschnittlich etwa zwei Euro in die Ukraine verlagert. Eine kurzfristige regionale Rückverlagerung ist ausgeschlossen."
Am Ende seines Artikels kann Becker dem "Lieferdebakel" jedoch noch etwas Positives abgewinnen. Laut dem Ökonomen könne sich die Erkenntnis durchsetzen, "dass Risikobewusstsein und Risikoabwägung sowie das Denken in Vorsichtskategorien bei Management- und Logistik-Entscheidungen wieder einen höheren Stellenwert einnehmen sollten."
"Strom kommt aus der Steckdose und Teile sind im Zuge der Globalisierung immer und überall zu niedrigsten Kosten problemlos erhältlich" – dieses Motto habe ausgedient.
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