Laut einer aktuellen Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung würde ein Mindestlohn von 12 Euro nicht nur in Branchen mit traditionell vielen Niedriglohnbeschäftigten wie dem Gastgewerbe oder dem Einzelhandel zu einem besseren Auskommen führen, sondern auch für Beschäftigte in Arztpraxen, Anwaltskanzleien und auf den Büroetagen deutscher Unternehmen.
Für Beschäftigte in kleineren Betrieben ohne Tarifbindung und Frauen, die in Teilzeit arbeiten oder einen befristeten Arbeitsvertrag haben – wie es mittlerweile in vielen Bereichen der Fall ist –, würde der Mindestlohn einen großen Unterschied machen.
Regional würde ein höherer Mindestlohn vor allem Beschäftigte im Osten und Norden der Republik erreichen, so das Ergebnis der am Freitag präsentierten Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Für die Untersuchung wurden Gehaltsangaben von annähernd 200.000 Beschäftigten aus dem Gehaltsportal Lohnspiegel.de ausgewertet. Lohnspiegel.de wird vom WSI wissenschaftlich betreut.
12 Euro entsprächen etwa 60 Prozent des mittleren Bruttolohnes, wer für weniger arbeiten muss, gilt nach internationalen Standards als Niedrigverdiener. Aus Sicht von Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbänden sind 12 Euro eher noch zu wenig.
Der Mindestlohn liegt aktuell bei 9,60 Euro brutto pro Stunde. Zum 1. Januar 2022 wird er auf 9,82 und zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro angehoben. Diese vom Bundeskabinett beschlossenen Stufen hat eine Mindestlohnkommission empfohlen. Dort sind vorrangig Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften vertreten. Union und FDP lehnen eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ab, die AfD spricht sich für den gesetzlichen Mindestlohn aus, Sozialdemokraten und Grüne befürworten 12 Euro, die Linke fordert 13 Euro und mehr Kontrollen bei der Umsetzung des Mindestlohnes.
Eine Prognos-Studie im Auftrag des SPD-geführten Arbeitsministeriums hatte ergeben, dass der Mindestlohn die Arbeitslosigkeit nicht erhöht, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht beeinträchtigt und das gesamtwirtschaftliche Preisniveau nicht beeinflusst hat – diese Befürchtungen werden oft von Wirtschaftsverbänden und anderen Gegnern des Mindestlohns angeführt.
"Niemand ist ganz davor gefeit, im Laufe seines Berufslebens für kurze oder längere Zeit für einen niedrigen Lohn zu arbeiten", so Studienautor Dr. Malte Lübker, Experte für Tarif- und Einkommensanalysen am WSI. Einige Faktoren erhöhen laut der Studie das Risiko, darunter das Geschlecht weiblich, eine Tätigkeit in Teilzeit, ein befristeter Arbeitsvertrag, ein Arbeitgeber ohne Tarifbindung, eine Betriebsgröße unter 100 Beschäftigen sowie Helfer- und Anlerntätigkeiten oder Arbeiten in Sachsen-Anhalt oder anderen ostdeutschen Flächenländern sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Geschützt vor einer Niedriglohnbeschäftigung ist man heutzutage in Deutschland nicht einmal durch eine abgeschlossene, mehrjährige Berufsausbildung. Unter den 50 Berufen, die am häufigsten von einer Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro profitieren würden, finden sich auf den vordersten Plätzen Berufe wie Friseur, Bäckereifachverkäufer und Florist, aber auch Kaufmann im Einzelhandel, Rechtsanwaltsfachangestellter, Zahnmedizinischer Fachangestellter und Kfz‑Mechatroniker.
Laut Studie ist hierfür eine wichtige Erklärung, dass die Tarifbindung in Deutschland von 68 Prozent zur Jahrtausendwende auf 51 Prozent im Jahr 2020 gesunken ist. "Deshalb würden heute auch viele Menschen von einem höheren Mindestlohn profitieren, die früher aufgrund ihrer soliden Ausbildung wie selbstverständlich zur Mittelschicht zählten", sagt Lübker.
"Langfristig muss das Ziel sein, dass diese Beschäftigten wieder nach Tarifverträgen bezahlt werden, die oberhalb des geltenden Mindestlohns qualifikationsadäquate Löhne garantieren."
Vor allem aber wäre eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll, langfristig würde die Wirtschaftsleistung um etwa 50 Milliarden Euro im Jahr steigen und die Staatseinnahmen würden um jährlich rund 20 Milliarden Euro ansteigen.
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