Die Europäische Zentralbank (EZB) hat am Donnerstag ihre geldpolitische Strategie komplett überholt und ein neues Inflationsziel ausgerufen. Die Währungshüter in Frankfurt am Main um Notenbank-Chefin Christine Lagarde streben mittelfristig eine Teuerungsrate im Euroraum von zwei Prozent an. Darüber hinaus wurde auch die Tolerierung einer zeitweise darüber hinausgehenden Inflationsquote verkündet.
Höhere Inflation
Von 2003 bis zum Donnerstag galt im Rahmen einer strategischen Überprüfung unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Chefvolkswirts Otmar Issing stets das Ziel: "nahe an, aber unter zwei Prozent", wie das Handelsblatt berichtet.
"Die neue Formulierung macht klar, dass zwei Prozent keine Obergrenze sind", ergänzte Lagarde auf ihrer Pressekonferenz. Mit ihrer "symmetrischen Auslegung" des Inflationsziels torpediert die EZB die Geldpolitik der "alten D-Mark-Bundesbank". Diese wollte stets in erster Linie eine zu hohe Inflation verhindern und die staatliche Schuldenlast begrenzt halten. Zeitweise höhere Preissteigerungen seien nun ausdrücklich erlaubt. Das weitere Gelddrucken und somit die weitere Erhöhung der Geldmenge und der Staatsschulden würden dadurch begünstigt.
Weiter will die EZB die Wohnkosten im Eigentum bei der Inflationsindizierung künftig stärker berücksichtigen. Bislang fließen im Euroraum lediglich Mieten ein. Besonders Südeuropa, speziell Italien, wo die Eigenheimquote höher als in Deutschland ist, würde davon profitieren. Dazu werden Lebensmittel und Energiekosten wohl auch weiterhin im Preisniveau anziehen.
Ein neues Feld: Klimapolitik
Seit Beginn ihres Amtsantritts hat sich Lagarde der Umsetzung des Klimaschutzes verschrieben – man wolle "ökologische Nachhaltigkeitsüberlegungen" systematischer in der Geldpolitik vorantreiben. In einem sogenannten "Aktionsplan" sollen bei Käufen von Unternehmensanleihen "grüne" Unternehmen stärker gefördert werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass "Old-Economy-Unternehmen" in Zukunft weniger stark berücksichtigt werden könnten. Der von der EU geförderte "Green Deal" mit dem Fokus auf enorme CO₂-Reduktionen aller Staaten bis zum Jahr 2030 schwingt hier unüberhörbar mit.
Analyse der Geldmengen fortan obsolet
Die Analyse der Geldmenge durch Anleihekäufe und damit auch ihrer permanenten Auswertung soll fortan keine gewichtige Rolle mehr spielen. Vielmehr möchte man diese mit der gesamtwirtschaftlichen Analyse zusammen betrachten – und die Haushalte der Einzelstaaten weiter entmachten.
Diesbezüglich rügte die EU-Kommission bereits im Juni, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aus dem letzten Jahr gegen milliardenschwere EZB-Anleihekäufe gegen den Vorrang des EU-Rechts verstoßen habe. Dabei geht es letztendlich um die Frage, ob EU-Recht über nationalem Recht und hier konkret dem Haushaltsrecht der Mitgliedsstaaten steht. Für Deutschland geht es dabei vor allem um die Verhinderung einer sogenannten Schuldenunion, bei der sogenannte Geberländer, das sind neben der Bundesrepublik beispielsweise Frankreich oder die Niederlande, für noch stärker verschuldete wie Portugal oder Italien haften müssen.
Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung kommentierte die Ergebnisse vom Donnerstag folgendermaßen:
"Just in dem Moment, in dem einige Euro-Staaten in ihrer Finanzierung krisenbedingt vollkommen von den Anleihekäufen der EZB abhängig geworden sind, senkt der EZB-Rat seine langfristigen Ambitionen bei der Inflationsbegrenzung."
Der EZB-Rat dürfte es nun noch leichter haben, in den nächsten Jahren eine Fortsetzung der extrem lockeren Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen, so Heinemann gegenüber dem Standard.
Die Ausweitung der Geldmenge und steigende Inflation nützt zu guter Letzt immer den Staaten – deren Schulden werden dadurch, siehe die Jahre 1918 bis 1923 stets abgebaut – auf Kosten von Sparern und Konsumenten.
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