SBB kaufen Züge aus Deutschland, Schweizer Werkplatz geht leer aus

Die Schweizerischen Bundesbahnen beschaffen für rund zwei Milliarden Franken neue Doppelstockzüge von Siemens. Stadler Rail lag preislich nur leicht höher, hätte aber große Teile der Produktion in der Schweiz durchgeführt. Gewerkschaften und Politiker sehen Risiken für Arbeitsplätze und den Werkplatz.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben den Auftrag für eine neue Generation von Doppelstockzügen an Siemens Mobility vergeben. Der Umfang des Auftrags beläuft sich auf rund zwei Milliarden Franken. Damit handelt es sich um die größte Rollmaterialbeschaffung in der Geschichte des Unternehmens. Der Zughersteller Stadler Rail aus Bussnang war ebenfalls beteiligt, erhielt jedoch keinen Zuschlag. Die Preisdifferenz zwischen den Angeboten betrug laut Angaben der SBB rund 0,6 Prozent. Siemens wird die Fahrzeuge in Krefeld fertigen und für einzelne Komponenten auf Standorte in der Schweiz zurückgreifen.

Die Bestellung betrifft das S-Bahn-Netz. Die neuen Züge sollen rund 540 Sitzplätze aufweisen. Neben den Sitzbereichen sind multifunktionale Flächen vorgesehen, die Fahrräder, Kinderwagen und Gepäck aufnehmen können. Die Züge verfügen über Steckdosen in beiden Klassen, vergrößerte Informationsbildschirme und ein Lichtband zur Anzeige der Ausstiegsseite. 

Die SBB verweisen auf die Vorgaben des öffentlichen Beschaffungswesens. Dieses verpflichtet zur Gleichbehandlung aller Anbieter. Eine Bevorzugung aufgrund der Landeszugehörigkeit ist nicht vorgesehen. Maßgeblich sind Preis, Unterhalt, Energieverbrauch und technische Anforderungen. Nach diesen Kriterien lag Siemens vorn. Siemens plant, rund ein Viertel des Auftragsvolumens in die Schweiz zu vergeben. Details dazu werden später bekanntgegeben.

Für Stadler Rail ist der Ausgang des Verfahrens ein schwerer Rückschlag. Das Unternehmen beschäftigt in der Schweiz rund 6.000 Personen. Der größte Teil der Produktion wäre im Thurgau und im Kanton St. Gallen erfolgt. Nach Angaben des Unternehmens hätten über 200 Zulieferbetriebe in den Kantonen Wallis, Zürich, Bern und Aargau Aufträge erhalten. Diese Zulieferkette gilt als ein wichtiger Faktor für die industrielle Substanz des Werkplatzes. Sie umfasst Bearbeitung von Aluminiumprofilen, Fertigung von Komponenten für Antriebstechnik, Innenausbau sowie Software für Leitsysteme.

Gewerkschaften und Vertreter verschiedener Parteien äußern ihre Besorgnis, dass die Schweiz in einer Phase globaler Neuorientierung industrielle Kapazitäten verliert. Sie führen an, dass industrielle Arbeitsplätze für den Binnenmarkt, die Ausbildung von Fachkräften und die technologische Weiterentwicklung von Bedeutung sind. Wenn staatliche oder staatsnahe Unternehmen große Aufträge im Ausland vergeben, vermindert dies den Umfang der industriellen Arbeit im Inland. Dies betrifft nicht nur die Endfertigung, sondern auch Teile der Forschung und Entwicklung, die oft eng an Produktionsstandorte gebunden sind.

Die Frage nach der industriellen Eigenständigkeit gewinnt in einem Umfeld an Gewicht, in dem mehrere Staaten ihre Wirtschaftspolitik an nationalen Interessen ausrichten. Die USA koppeln zunehmend Marktzugang an lokale Investitionen. In China bestehen umfassende industriepolitische Programme. In Europa wurden in den vergangenen Jahren Interessenbündnisse gebildet, die zentrale Industriezweige stützen. Die Schweiz setzt in vielen Bereichen weiterhin auf offene Märkte und Verfahren ohne nationale Vorgaben. Damit bleibt die industrielle Struktur weitgehend den Vergaben von Unternehmen überlassen.

Die SBB betonen, dass die Anforderungen an S-Bahn-Züge in der Schweiz spezifisch sind. Sie umfassen kurze Haltezeiten, hohe Fahrgastdichte und anspruchsvolle topografische Bedingungen. Fahrzeuge müssen unter diesen Voraussetzungen verlässlich betrieben und gewartet werden können. Siemens erhält bei dieser Frage hohe Bewertungspunkte im Bereich Unterhalt. Das Unternehmen verweist auf bestehende Erfahrungen im internationalen S-Bahn-Betrieb.

Die Kritik konzentriert sich jedoch weniger auf technische Parameter als auf langfristige Auswirkungen. In der Schweiz stellt die Bahnindustrie einen seltenen Bereich dar, in dem industrielle Fertigung mit hoher technologischer Tiefe stattfindet. Diese Struktur entstand über mehrere Jahrzehnte und wird von zahlreichen mittelständischen Zulieferern getragen. Sollte die Zahl der großen Aufträge im Inland weiter sinken, wird diese Struktur ausgedünnt. Ein Wiederaufbau wäre kostspielig und zeitaufwendig.

Stadler prüft den Zuschlag rechtlich. Das Unternehmen hat das Recht auf Einsicht in die detaillierten Bewertungsunterlagen. Sollten Unstimmigkeiten erkennbar sein, kann ein Rechtsmittelverfahren eingeleitet werden. Die SBB haben erklärt, dass der Produktionsprozess vorbereitet wird. Die Auslieferung der ersten Fahrzeuge ist in mehreren Jahren vorgesehen. Bis dahin werden Tests, Zulassungsverfahren und Anpassungen an das Schweizer Netz durchgeführt.

Der Auftrag an Siemens ist ein Vorgang des Vergaberechts. Die Folgen betreffen jedoch Wirtschaftspolitik, Standortstrategie und die Frage nach souveränen industriellen Fähigkeiten. Diese Fragen werden sich in künftigen Beschaffungen erneut stellen. Sie werden nicht nur die Bahn betreffen, sondern auch Energie, Verkehrstechnik und weitere Bereiche, die für die Versorgungssicherheit des Landes wesentlich sind.

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