Russen empfinden die Sowjetunion in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren positiver als die derzeitige russische Regierung, so eine Umfrage des Lewada-Zentrums im Rahmen des Forschungsprojekts "Der einfache Sowjetmensch".
Die häufigsten Aussagen zur sowjetischen Regierung waren: "volksnah" (29 Prozent der Befragten), "stark, robust" (25 Prozent) und "gerecht" (22 Prozent), während die moderne russische Regierung als "kriminell, korrupt" (41 Prozent), "weit entfernt vom Volk, fremd" (31 Prozent) und "bürokratisch" (24 Prozent) wahrgenommen wird.
Soziologen stellen fest, dass diese Meinung auch in den für die Regierung günstigsten Jahren vorherrschte – im Jahr 2008, als es einen Höhepunkt der enormen Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation gab, und in den Jahren 2015 und 2016, in der Zeit der Mobilisierung im Zusammenhang mit der Krim-Wiedervereinigung – der patriotischen Euphorie und der größten Zufriedenheit bezüglich der Aktivitäten der Regierung.
Im Vergleich mit der Umfrage im Januar des Jahres 1998 hat sich das Image der Sowjetunion im Jahr 2019 in einigen Punkten verbessert. So sehen heute nur 15 Prozent der Befragten die Sowjetunion als "bürokratisch" an – vor 21 Jahren waren es noch 30 Prozent. In puncto "Gerechtigkeit" ist eine Steigerung von 16 auf 22 Prozent festzustellen.
Das Image der Regierung im postsowjetischen Russland war im Jahr 1998 wesentlich schlechter, als es jetzt der Fall ist. So bleiben die Attribute "kriminell, korrupt" auch im Jahr 2019 zwar noch Spitzenreiter, sind aber mit 22 Prozent gegenüber dem Jahr 1998 gesunken. Eine Verbesserung um zehn Prozent gab es hinsichtlich der Positionen "weit entfernt vom Volk, fremd" – und bei "inkonsequent" um ganze 17 Prozent.
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Aber auch trotz dieses positiven Trends bleibt die Wahrnehmung der Macht der Regierungen heute und vor 40 Jahren grundverschieden. Der von der Tageszeitung Wedomosti befragte Politologe Gleb Pawlowski vermutet, dass die Einschätzung bezüglich der sowjetischen Regierung nicht mit der Einschätzung zur zeitgenössischen Regierung korreliere.
Die Leute haben mit einem idealen Bild zu tun – wie etwa mit dem Bild des antiken Griechenlands. Dass es Sklaventum in Griechenland gab, spielt dabei keine Rolle. Welche Gesellschaftsordnung es in der Sowjetunion gab, interessiert auch niemanden, denn das ist ein Image des sagenhaften "Kitesch-Grad" (russisches Atlantis) – des Landes, das schnell und sofort versunken war.
Deshalb könne sich das Sowjet-Image nicht nur bei den Menschen, die die Sowjetunion miterlebt haben, sondern auch bei den jüngeren, postsowjetischen Generationen immer weiter verbessern.
Es gibt in Russland eine ganze Reihe von Publizisten und Wissenschaftlern, die das positive Sowjet-Image unmittelbar aus der postsowjetischen Realität ableiten – mit dem Rückgang eines Sozialstaates, der Aufspaltung in Arm und Reich, der Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit, der Kommerzialisierung der Kultur oder der Verschlechterung der internationalen Stellung des Landes.
Der Leiter des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow, kann solchen Einschätzungen nur sehr bedingt zustimmen. Auf der Funktionsebene diene die Idealisierung der Sowjetunion dem Unmutsbekenntnis und kritischen Verhältnis zur tätigen Macht, so der Experte. Vielmehr sieht er darin die Aktivierung eines apolitischen doppelten Denkens – die sich einerseits in der Ablehnung und andererseits in der Konformität gegenüber der Macht manifestiert. Aus seiner Sicht handelt es sich dabei um Grundcharakteristika der sowjetischen Mentalität, die über die Witterungen der Zeit hinweg in der russischen Bevölkerung immer noch vorhanden sind.
Das Lewada-Institut gehört seit der Zeit seiner Gründung gegen Ende der 1980er-Jahre zum liberalen intellektuellen Spektrum und pflegt derzeit ein distanziertes Verhältnis zur russischen Regierung. Die Zusammenarbeit mit westlichen Stiftungen brachte dem Zentrum den Status eines ausländischen Agenten – eine Behauptung, die von der Leitung vehement bestritten wird.
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