Proteste wegen Nichtzulassung zur Moskau-Wahl: Schaukelt sich in Russland ein "Maidan" hoch?

Erneut findet eine nicht genehmigte Demo in Moskau statt, erneut schnappt sich die Polizei scheinbar wahllos Protestierende, und erneut gehen Bilder um die Welt. Es stellt sich wieder die Frage: Was treibt die Protestierenden an, und wie groß ist ihr Protestpotenzial?

von Wladislaw Sankin

Behelmte, mit Schlagstöcken bewaffnete Sondereinheiten der Polizei zerren wehrlose Protestierende weg und stecken sie in Polizeiwagen. Eine empörte Menschenmenge um sie herum schreit ihnen entgegen: "Schande!", "Faschisten!", über der Masse befinden sich zahlreiche Handys und Fotokameras – das Geschehen an vielen Orten in Moskau wird an diesem Tag gut dokumentiert und landet gleich auf Dutzenden Social-Media-Kanälen. Auch zahlreiche westliche Medien berichten erwartungsgemäß über das "brutale Vorgehen" des russischen Staates. 

Entlarven sich russische Behörden tatsächlich als Hüter eines Polizeistaates, oder handeln die Polizisten doch verhältnismäßig? Und das Wichtigste – was hat es mit den Protesten auf sich, und inwieweit sind sie begründet? Diesen Fragen geht der Artikel nach.

Straßenaktionen in Russland sind nicht nur meldepflichtig, sie müssen genehmigt werden. Dafür müssten die Veranstalter einen Antrag bei den Behörden stellen. Nur wenn die Kundgebung von der Stadtregierung genehmigt wird, kann sie stattfinden.

Sollte eine nicht genehmigte Veranstaltung dennoch stattfinden, riskieren sich die Teilnehmer, festgenommen und mit hohen Bußgeldern belegt zu werden. Und der öffentliche Aufruf zu einer nicht genehmigten Demo kann sogar in einer mehrtägigen Haft enden, wie dies bei einem der Anführer der Opposition, Alexej Nawalny, zuletzt wieder der Fall war.

Wenn im Vorfeld klar ist, dass eine nicht genehmigte Aktion stattfinden wird, bereitet sich die Polizei mit Absperrungen und größerem Personalaufgebot darauf vor. Am 27. Juli trieben die Ordnungskräfte die Menschenmenge auseinander, drängten sie an den Straßenrand und ließen sie über Fluchtkorridore gehen. Mehr als 3.000 Demoteilnehmer konnten jedoch durch die Straßen Moskaus ziehen und "Lasst [die abgelehnten Kandidaten] zu" oder "Putin ist ein Dieb" rufen. Die Menschenmenge wurde immer wieder von der Polizei per Lautsprecher aufgerufen, die nicht genehmigte Aktion zu beenden.

Die Demonstration haben mehrere opositionelle Direktkandidaten in Form eines Treffens mit den Wählern vor dem Gebäude der Staatsduma organisiert. Diese Kandidaten entstammen verschiedenen Kräften – wie beispielsweise der Wachstumspartei, der ältesten sozialliberalen Partei Jabloko oder dem Antikorruptionsbüro von Nawalny. Sie werden in Russland unter dem Sammelbegriff "prowestliche liberale Oppositon" zusammengefasst. Die bekanntesten Anführer der Proteste wurden noch vormittags festgenommen, die meisten von ihnen nach Feststellung der Personalien nach wenigen Stunden entlassen.

Es kam jedoch auch zu weiteren unschönen Szenen, als protestierende Männer und Frauen auf den Boden gedrückt und dann weggezerrt wurden. Regierungsnahe Medien berichteten dabei über Provokationen der Protestierenden – die Polizisten wurden verbal beleidigt, und es wurde Tränengas gesprüht.  

Verschiedenen Angaben zufolge wurden am 27. Juli 1.074 bis 1.373 Personen festgenommen, ein paar Dutzend wurden verletzt, darunter zwei Nationalgardisten. Die meisten Festnahmen erfolgten jedoch ohne allzu starke Gewaltanwendung – sofern die Festgenommenen keine Gegenwehr geleistet haben. Die Protestler waren in der Lage, im Laufe des Tages einige Straßen zu blockieren, darunter auch die wichtige Verkehrsader Sadowoje Kolzo (Gartenring).

Der Menschenrechtsrat des Präsidenten hat angekündigt, Wladimir Putin über die polizeilichen Verstöße bei den Kundgebungen zu berichten. Der Vorsitzende des Menschenrechtsrates, Michail Fedotow, erzählte Journalisten davon.

"Er [Fedotow] stellte fest, dass es Beschwerden sowohl über die Organisatoren der unkoordinierten Kundgebung als auch über die Strafverfolger gab, die nach seinen Worten sehr grob gehandelt haben", schrieb das Portal Echo Moskwy mit Bezug auf die Worte des Leiters des Menschenrechtsrates. Der Ratsvorsitzende kritisierte auch den Kandidaten Ilja Jaschin, der nicht für die Wahlen zur Moskauer Stadtduma registriert worden war, für den Aufruf zu einer weiteren Kundgebung am 3. August. Laut Fedotow ist dies "ein Weg ins Nichts".

Die Eskalation am 27. Juli war jedoch abzusehen. Es stellt sich deshalb die Frage, warum sie nicht vereitelt werden konnte. Denn auch zum aktuellen Anlass fanden bereits genehmigte Kundgebungen statt – an geräumigen Orten wie dem Sacharowa-Platz und mit Bühnenauftritten Oppositioneller, darunter auch Nawalny. Dabei nehmen an einer genehmigten Kundgebung in der Regel immer deutlich mehr Menschen teil als an einer nicht genehmigten.

Um dies zu klären, ist es wichtig, sich noch mal in Erinnerung zu rufen, warum diese Proteste überhaupt stattfinden. Am 8. September wird die Moskauer Stadtduma gewählt. Um teilnehmen zu können, muss ein potenzieller Kandidat unter anderem Unterschriften von drei Prozent der Einwohner sammeln. Die absolute Zahl ist je nach Bezirk unterschiedlich – im Durchschnitt sind es 5.000 Unterschriften.

Für die Moskauer Dumawahlen wurden 233 Kandidaten registriert, von denen 171 Parteikandidaten und 62 sogenannte selbst ernannte Kandidaten waren. Die Registrierung von 57 Kandidaten wurde abgelehnt.

Kandidaten der liberalen Opposition haben also scheinbar die gesetzliche Anforderung erfüllt, wurden aber nicht registriert. Die Begründung: Einige der Unterschriften wurden aus unterschiedlichen Gründen für ungültig erklärt.

Das auszufüllende Formular enthält folgende Spalten: der Name des Moskauers, seine Wohnadresse, Serie und Nummer seines Personalausweises, Datum und Unterschrift. In einigen Fällen hat die Zentrale Wahlkommission die falsche Anzahl von Ziffern in den Passdaten erfasst: nicht zehn, sondern neun oder elf. In anderen Fällen wurde das Datum nicht vom Bürger, sondern von einem Vertreter der unabhängigen Kandidaten erfasst, oder man füllte die Formulare mit den Daten verstorbener Bürger aus.

Die Oppositionskandidaten werteten den Ausschluss als Schikane und als Zeichen der Angst der Behörden vor einer Wahlniederlage der Regierungspartei "Einiges Russland", die in der Tat im letzten Jahr stark an Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt hat. Sie trafen sich mit der Leiterin der Wahlkommission Ella Pamfilowa. Sie bat die Kandidaten, den Ausschluss im Rahmen eines regulären Gerichtsverfahrens anzufechten. Diese verzichteten jedoch darauf und riefen zu Demos auf.

Neben der Strategie der Behörden, unbequemen Kandidaten den Weg in die Duma zu erschweren oder gar zu versperren, ist auch die Strategie der Opposition zu erkennen, die Situation um die Wahlen herum auf die Spitze zu treiben, um eventuell größere Proteste anzufachen. Trotz des mangelnden Vertrauens der Wähler in die Politik der Regierungsparteien ist auch die Popularität der liberalen Opposition in der russischen Hauptstadt überschaubar. Es sind in der Regel Studenten und sogenannte junge "Kreative", die zur Unterstützung ihrer Kandidaten auf die Straße gehen.

Gespräche mit Demonstrationsteilnehmer zeigen: Sie sind mit so ziemlich allem unzufrieden, was im Land so läuft, von der Polizeiwillkür über die Korruption und schlechte Regierbarkeit bis hin zur "chinesischen Gefahr" und dem zunehmenden Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die meisten sagen, sie wollten in einem "freien Russland" leben. Das sind keineswegs nur Moskauer Themen. Dass viele der Protestler gar nicht aus Moskau kommen, wird auch von der Polizeistatistik bestätigt – bis zu die Hälfte der Festgenommenen kommt demnach nicht aus Moskau und wurde Medienberichten zufolge organisiert mit Bussen in die Hauptstadt gebracht.

Es geht den Kandidaten der Opposition offenbar nicht nur darum, die Moskauer zu einem bestimmten Wahlverhalten zu motivieren, sondern nicht zuletzt darum, eine neue landesweite Protestbewegung anzufachen. An den letzten Moskauer Dumawahlen nahmen nur 21 Prozent der Wahlberechtigten teil, in diesem Jahr werden es vermutlich kaum mehr sein.

Dabei ist Moskau eine sich recht erfolgreich entwickelnde Stadt, das Lohnniveau liegt dort weit über dem nationalen Durchschnitt. Ohnehin stellen soziale Themen traditionell keinen Schwerpunkt der liberalen Opposition dar, zumal sie in der Regel radikal marktwirtschaftliche Ansichten vertritt und das Elend der 1990er-Jahre ganz anders als breite Schichten russischer Bürger bewertet.

Viele Experten schätzen das Protestpotenzial ausgerechnet in den russischen Regionen und nicht in Moskau als hoch ein, allerdings mit klarem Schwerpunkt auf sozialökonomischen Problemen. Diese gehören allerdings zum Repertoire der linskpatriotischen Opposition, und diese möchte bei ihrem Protestverhalten jegliche Ähnlichkeit zu Protesten nach Art des Kiewer Maidans vermeiden.

Interessant ist in diesem Fall die Einschätzung der Moskauer Proteste im Krisenland Ukraine. 

Russische Bürger sehen, was in der Ukraine nach dem Maidan passiert, und haben Angst davor, dass Russland Ähnliches zustößt", schreibt das regierungskritische ukrainische Portal strana.ua über die Proteste in Moskau.

Damit wird auch die sogenannte Verprügelung der Studenten durch Polizeikräfte der Janukowitsch-Regierung auf dem Kiewer Maidan in der Nacht zum 1. Dezember 2013 und das Auseinandertreiben der Proteste in Moskau am 27. Juli ganz unterschiedliche Folgen haben, trotz Ähnlichkeiten und einem enormen Medienecho. Obwohl auch in Moskau eine Frau sich mit nahezu exakt denselben Worten wie im bekannten Maidan-Meme "Sie sind doch Kinder" (Они же дети) mit Tränen in den Augen vor laufender Kamera über das Vorgehen der Polizei beschwerte:

Warum verpügelt ihr Kinder?!

"Die Stabilität in Russland wird davon abhängen, ob der Kreml in der Lage sein wird, auf öffentliche Proteste zu reagieren, indem er den Lebensstandard der Menschen anhebt und ein offeneres politisches System schafft, das ehrgeizige junge Menschen einbezieht und sie so vom Weg des Maidan wegführt", fasst strana.ua zusammen.