von Paul Loewe
(Die vorherigen Teile können Sie hier nachlesen: Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4)
Wieder das Tor zur Krim: Das mächtige im Stil der italienischen Neorenaissance gehaltene, mit weißem Marmor verkleidete Bahnhofsgebäude von Simferopol mit seinem Campanile, den Säulen und Bogengängen. Nachmittags gegen 17:00 Uhr betrete ich, durch eine Sicherheitsschleuse wie in mittlerweile fast allen russischen Bahnhöfen, die riesige dunkle Eingangshalle – und sie ist menschenleer! Ein einziger Schalter am gegenüberliegenden Ende scheint in Betrieb zu sein, aber die Fahrkartenverkäuferin ist zu sehr mit einer Kollegin ins Gespräch vertieft, um den Kunden zu bemerken.
Der neue Provinzialismus
Ein Blick auf die große Ankunfts- und Abfahrtstafel erklärt, warum der Bahnhof völlig verwaist ist: Sewastopol im äußersten Südwesten, Jewpatorija an der Westküste, Dschankoi und Solenoe Ozero im Norden der Halbinsel – that‘s it! Mit anderen Worten: Es verkehren hier nur noch Züge innerhalb der Krim. Der Bahnhof Simferopol, einst vom Ost-Verführer Karl Schlögel so trefflich als ‚Hub‘, als Dreh- und Angelpunkt für die über die Ukraine ankommenden Züge aus allen Ecken und Enden der früheren Sowjetunion bezeichnet, ist aufgrund des Sanktionsregimes zum reinen Provinzbahnhof verkommen!
Und daran wird sich vermutlich auch nicht allzu viel ändern, wenn die Krim Ende des Jahres über die im Bau befindliche Eisenbahntrasse des Крымский Мост, der Brücke über die Meeresenge bei Kertsch, Anschluss an das russische Festland, an die Tamanhalbinsel haben wird. Denn zwischen Kertsch und Simferopol existiert keine direkte Bahnverbindung, und den weiten Umweg über das ganz im Norden gelegene Dschankoi wird sich wohl kaum ein Tourist antun. Lieber werden sie über Feodossija im Osten direkt nach Arkadien, an die begehrte Südostküste reisen. Und so stehen nun die ehrfurchtgebietende Geste des Bahnhofsgebäudes und die reale provinzielle Reichweite in einem grotesken Missverhältnis!
Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Flughafen Simferopol mit seiner vor einem Jahr fertiggestellten ultramodernen Eingangshalle. Die meisten direkten Flugverbindungen gibt es laut Anzeigetafel nach Moskau, Petersburg, Rostow am Don und in den Ural. Alles Inlandsflüge also, das Sanktionsregime lässt grüßen! Es wird noch eine ganze Zeit lang dauern, bis die Krim wieder direkten Anschluss an den Rest der Welt finden wird.
„Frieden! Arbeit! Mai!“
Erster Mai in der Hauptstadt der Krim. Zufällig gerate ich am frühen Vormittag auf dem zentralen Kirow-Prospekt unmittelbar vor dem Lenin-Platz in die letzten Vorbereitungen für die Maifeier. Mit zahlreichen Flaggen – der russischen Trikolore und der Krimfahne; letztere in denselben Farben wie die russische, allerdings in der Reihenfolge blau-weiß-rot mit sehr breitem weißen Mittelstreifen – ist der Platz bereits festlich geschmückt. Seitlich hat man eine Tribüne für die lokalen Honoratioren errichtet. Auf dem Transparent im Hintergrund flattert eine weiße Taube vor den sich im Winde berührenden Fahnen Russlands und der Krim. „1. МАЯ! С ПРАЗДНИКОМ ВЕСНЫ И ТРУДА!“ („1. Mai. Zum Feiertag des Frühlings und der Arbeit!“) entziffere ich.
Über den Platz schallen patriotische russische Lieder, aus denen ich bisweilen die Worte „Partisan“ und „SSSR“ heraushöre. Vor der Lenin-Statue warten in dunkelroten Kostümen und weißen Schnürstiefeln oder in kurzen bunten Sportkleidern mit weißen Turnschuhen drei Kolonnen postsowjetischer Funkenmariechen mit Marschtrommeln verschiedener Größen, Schlägeln und Winkelementen auf ihren Einsatz. Ich werde neugierig und bleibe auf dem abgesperrten und alle hundert Meter von Beamten der Росгвардия, der russischen Nationalgarde, kontrollierten Bürgersteig stehen.
Und werde mit einem eindrucksvollen Schauspiel belohnt! Trommelwirbel ertönt – und zwei Stunden lang, von 10.00 bis 12:00 Uhr ziehen in einem nicht enden wollenden Zug die Delegationen vorüber. Ganz Simferopol scheint auf den Beinen. Alle Altersgruppen, alle Organisationen und Berufsgruppen sind offenbar vertreten! Auf den Kindergarten Nummer 14 folgen die Kindergärten Nummer 15, 16 und 17, das Gleiche bei den Schulen, Gymnasien und Universitäten. Die meisten Delegationen in eigenen Kostümen, viele mit Blumen und Girlanden, fast alle aber mit bunten Luftballons, oft in den Farben der russischen Flagge, die sie in den Himmel steigen lassen, wenn sie ausgelassen winkend mit Jubelrufen die Rednertribüne passieren.
Zukunftsfrohe Marschmusik tönt laut über den Platz. Der Sprecher auf der Tribüne begrüßt die einzelnen Delegationen, gratuliert ihnen zum Ersten Mai und stimmt bisweilen Hurra!-Rufe an. Ich sehe Abordnungen aller Parteien: der Ökologen mit grünen Luftballons, der Nationalisten mit dem russischen Doppeladler auf weißem Grund, der Kommunisten mit Hammer und Sichel auf blutroten Fahnen, Schirinowskis rechtsradikale Liberaldemokraten mit ihren dunkelblauen Flaggen, zwei oder dreimal taucht sogar – ich traue meinen Augen nicht! – die türkisblaue Fahne mit dem ‚Medschlis‘-Symbol auf! (Und ich dachte „Medschlis“, die Organisation der tatarischen Nationalisten, sei jetzt als „extremistisch“ verboten!) Acht bis zehn Männer tragen eine riesige russische Trikolore durch die Straßen. Und alle zwei Minuten schallt eine kräftige Frauenstimme aus dem Lautsprecher: „Мир! Труд! Май!“ („Frieden! Arbeit! Mai!“), bisweilen auch zu „Krim! Arbeit Mai!“ variiert. Und es klingt wie ein Befehl.
Mehrfach ziehen Abordnungen in tatarischen Trachten vorbei. Ich sehe Delegationen von Veteranen, Polizei und Militär, des Transportministeriums, der Bäcker, des Fachpersonals für medizinische Dienstleistungen und der Tankstellen. Sogar eine kleine Gruppe westlicher Friedensfreunde ist vertreten. „No To NATO!“ und „Keep Space For Peace!“ steht auf ihren Transparenten. Dazu haben sich Fahnen mit der Anti-Atom-Rune, dem britischen Union Jack, Stars and Stripes und sogar eine israelische Flagge gesellt. Den Abschluss bilden Delegationen der Motorradfahrer auf ihren heißen Öfen sowie der städtischen Busfahrer, selbstverständlich in den Autobussen.
Das Verhältnis zwischen Demonstrierenden und Zuschauern beträgt geschätzte 20:1! Kurz: Die Bevölkerung Simferopols feiert den Ersten Mai in den besten Traditionen der internationalen Arbeiterklasse. Wie mag das in anderen Städten auf der Krim und dem russischen Festland aussehen?
Vorläufige Bilanz
Zweieinhalb Wochen ‚Neue Bundesländer‘ Russlands. Es wird Zeit für eine vorläufige Bilanz!
Gehen wir zunächst nochmals fünf Jahre zurück. Russlands Eingreifen auf der Krim war, das wird im deutschen Mainstream konsequent ausgeblendet, eine Re-Aktion auf den vom Westen finanziell und ideell geförderten gewaltsamen Umsturz in Kiew vom 22. Februar 2014 infolge der Maidan-Ereignisse, die sich im Laufe von mehr als zweieinhalb Monaten kumulativ radikalisiert und über hundert Tote gefordert hatten. Die Krim wäre heute noch Teil der Ukraine, wenn der Westen die unter verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen Umständen an die Macht gekommene Kiewer Umsturzregierung nicht postwendend anerkannt, sondern auf der Einhaltung des von ihm höchstselbst einen Tag zuvor mit Vertretern aller Konfliktparteien ausgehandelten Abkommens bestanden hätte. Insofern trägt der Westen die Hauptschuld an den Ereignissen, die folgten.
Kurz nach dem Kiewer Umsturz hat Russland auf der Krim interveniert: in Gestalt der berühmt gewordenen ‚Зелёные Человечки‘, der ‚höflichen grünen Männchen ohne Hoheitsabzeichen‘, deren nationale Herkunft von Putin zunächst abgestritten wurde, die er aber wenige Wochen später mit Orden dekorierte. Veronika Kraschenninikowa, prominentes Vorstandsmitglied der Regierungspartei „Einiges Russland“, hat im letzten Herbst im Hinblick auf den geopolitischen Hintergrund der Ereignisse auf der Krim und des späteren Krieges im Donbass Klartext gesprochen:
Wir haben die NATO-Erweiterung mit großen Kämpfen gestoppt. Wir hatten nur die Alternative zwischen sehr schlecht und schlecht! Und es kostet uns nach wie vor sehr große Mühen.
„Wir hatten nur die Alternative zwischen sehr schlecht und schlecht!“ – Die Rettung des für Russland geopolitisch unverzichtbaren Marinestützpunktes Sewastopol, der im anderen Falle sehr wahrscheinlich früher oder später der NATO zugefallen wäre, mit anderen Worten: der Beitritt der Krim zur Russischen Föderation, wurde auch für Russland teuer erkauft! Russland hat zwar die Krim gewonnen, dafür aber das Bruderland, die Ukraine, für die allernächste Ewigkeit verloren. Nicht nur die Hunderttausenden russisch-ukrainischen Ehen, die seitdem hüben und drüben einer massiven Belastungsprobe ausgesetzt sind, legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
Zugespitzt formuliert: Mit seiner freundlichen Unterstützung der Abspaltung der Krim durch die – auch vom bekanntesten Befürworter der Sezessionsthese, dem Hamburger Rechtsphilosophen Reinhard Merkel, als völkerrechtswidrig monierte – Präsenz der ‚höflichen grünen Männchen‘ außerhalb der vertraglich festgelegten Pachtgebiete, also außerhalb Sewastopols, die den reibungslosen Verlauf des Referendums samt seiner Konsequenzen erst ermöglichte, ist der sonst so kühl und überlegt kalkulierende russische Präsident den USA in die Falle gelaufen!
Putins, von Gabriele Krone-Schmalz so bezeichnete, ‚Notwehr unter Zeitdruck‘ wird seitdem im Westen unter dem Label „völkerrechtswidrige Annexion der Krim“ als Beweis für einen angeblich wiedererstarkten russischen Expansionismus verkauft und lieferte damit – zusammen mit der Unterstützung der Rebellen im Donbass – sowohl die willkommene Legitimation als auch die benötigte massenpsychologische Grundierung für das westliche Sanktionsregime, für die von den USA geforderte massive Erhöhung des Rüstungsetats der Bündnisländer und die gegenwärtige NATO-Militärpräsenz in Polen und im Baltikum, bis hin zur Kündigung des INF-Vertrages, mit einem Wort: für den neuen Ost-West-Konflikt. Kurz: Die NATO kann aufatmen, der Feind ist wieder da!
Der Konflikt hat mittlerweile Ewigkeitspotenzial. Denn nun ist ein ‚fait accompli‘ geschaffen, hinter das alle Akteure nicht mehr zurückkönnen! Russland will die Krim nie mehr loslassen, umgekehrt wird der Westen dies Russland ewig vorhalten und als Vorwand für ein neues Wettrüsten und die sich kontinuierlich erhöhende Militärpräsenz an Russlands Westgrenzen verwenden. Und damit ist die neue Teilung Europas auf unabsehbare Zeit zementiert! Wer immer schon einen geopolitischen Riegel zwischen Westeuropa und Russland treiben wollte, kann sich nun vergnügt die Hände reiben. Der Plan ist aufgegangen!
Gäbe es, ein Minimum an ‚good will‘ auf allen Seiten vorausgesetzt, einen Weg aus der Sackgasse? Immerhin ist ja nicht völlig ausgeschlossen, dass in der Zukunft wieder geopolitische Konstellationen eintreten könnten, die allen Akteuren eine neue Entspannungspolitik ratsam erscheinen lassen würden! Der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, und die frühere Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, haben schon vor mehreren Jahren als Ausweg ein zweites Referendum auf der Krim, dieses Mal unter UN-Aufsicht vorgeschlagen. (Wofür sie, wie nicht anders zu erwarten, vom Mainstream postwendend Prügel bezogen.) Krone-Schmalz:
In diesem Referendum könnte sich die Krimbevölkerung für die Ukraine, für Russland oder eine vollkommene Unabhängigkeit aussprechen. Dieser Volksentscheid wäre international anerkannt und würde respektiert werden müssen.
Dass Moskau diesem Vorschlag zustimmen würde, scheint im Moment reichlich unrealistisch. Eine erneute Abstimmung unter den oben genannten Bedingungen hätte allerdings bei genauerer Betrachtung auch für Russland einen ganz entscheidenden Vorteil: Der Streit um die Krim würde seines Ewigkeitspotenzials beraubt! Dem Westen wäre – im Falle eines für Russland positiven Ergebnisses – ein für alle Male die Grundlage für den Vorwurf der „völkerrechtswidrigen Annexion der Krim“ entzogen.
Nach zweieinhalb Wochen Exkursion durch die ‚Neuen Bundesländer‘ Russlands steht für mich fest: Die Bevölkerung der Krim hat beim Plebiszit vom März 2014 in ihrer überwältigenden Mehrheit für die Loslösung von der Ukraine und den Beitritt zur Russischen Föderation gestimmt – auch wenn bei dem gesamten Procedere völkerrechtlich nicht alles koscher war. Während zu Ukrainezeiten weitgehend Stillstand herrschte, hat Moskau seit fünf Jahren erheblich in die Infrastruktur der Krim investiert. Der „Aufbau Süd“ ist mittlerweile unübersehbar. Und noch lange nicht abgeschlossen.
Russland könnte, so denke ich, einem zweiten Referendum gelassen entgegensehen!
(Ende der Serie)
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