von Gert Ewen Ungar
Es war ursprünglich eine Einladung zum Geburtstag, die mich erneut nach Archangelsk brachte. Doch neben einem angenehmen Nachmittag in einem Freizeitressort wurde ich Zeuge einer Protestaktion. Es geht dabei um Müll, seine Lagerung und die Sorgen der Bewohner von Archangelsk um die Natur.
Zum ersten Mal hörte ich von Protesten in Archangelsk von einem Freund in Inguschetien. Inguschetien ist die kleinste Republik der Russischen Föderation. Sie liegt im Nordkaukasus und ist geografisch wie auch kulturell von Archangelsk nach Deutschen Maßstäben weit entfernt. In Inguschetien wohnt mein Freund Ali, den ich von meinen Reisen nach Tschetschenien kenne. Ali schrieb mir vor einigen Monaten, es wäre soweit, die Russische Föderation würde auseinanderbrechen, denn überall formierten sich Proteste gegen die Staatsmacht.
Er verwies dabei unter anderem auf Archangelsk. Dass es vermehrt bürgerschaftliches Engagement und mit ihm auch Proteste gibt, ist richtig, die Schlussfolgerung daraus scheint mir allerdings falsch. Dass Ali zu einem falschen Ergebnis kommt, hat leider mit seinem Medienkonsum zu tun, denn er verlässt sich häufig auf die manipulativen und oft recht reißerischen Verlautbarungen des US-amerikanischen Staatssenders Radio Swoboda.
Radio Swoboda ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg, wurde ursprünglich von der CIA finanziert, erhält seine Mittel inzwischen direkt aus dem Staatshaushalt – und zwar der USA. Radio Swoboda wurde mit Beginn der Ukraine-Krise breit reaktiviert und betreibt eine eigene Webseite für den Nordkaukasus, eine weitere für die Krim – kurz: Radio Swoboda eröffnet überall dort eine Seite in den jeweiligen Regionalsprachen, wo es kriselt. Das Ziel der Berichterstattung ist daher eindeutig. Radio Swoboda gießt mit dem Ziel der Zersetzung großzügig noch etwas Öl ins Feuer regionaler Streitigkeiten. So wusste Ali über Massenproteste in Archangels bescheid, die mir bei meiner täglichen russischen Zeitungslektüre entgangen waren, denn sie haben eher lokale Bedeutung.
Während meines Besuchs im April treffen wir bei einem Spaziergang durch Archangelsk eine kleine Gruppe von etwa dreißig oder vierzig Leuten auf dem zentralen Leninplatz. Plötzlich sind wir mittendrin in jenen Protesten, von denen mir Ali berichtet hatte.
Einer der Demonstranten stellt sich als Dmitri Sekuschin vor. Er ist Jurist und erklärt mir, was hier passiert. Es sei geplant, eine große Mülldeponie im Regierungsbezirk von Archangelsk anzulegen. Müll aus Moskau soll dort unsortiert gelagert und schließlich vergraben werden. Die Proteste gegen dieses Vorhaben hätten bereits in der Mitte des vergangenen Jahres begonnen. Es habe mehrere große Protestaktionen mit mehreren tausend Teilnehmern und Solidaritätsveranstaltungen in anderen Regionen Russlands gegeben.
Dmitri erklärt, die Proteste würden so lange andauern, bis die Forderungen der Bürger von Archangelsk erfüllt werden. Der Müll müsse mindestens vorsortiert werden, und es bedürfe eines Referendums. Ohne die Zustimmung der Bürger sei so ein Vorhaben nicht zu machen. Bis dahin würde eine andauernde Mahnwache Tag und Nacht hier auf dem Platz bleiben, so wie zum Beispiel heute.
Er selbst sowie einige andere Demonstranten seien wegen der Proteste sogar schon zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Allerdings stellt sich später heraus, dass die damalige Demonstration nicht angemeldet war. Einmal auf den Protest aufmerksam geworden, entdeckt man dann überall in der Stadt Hinweise. Vor einem Einkaufszentrum steht eine Frau mit einem großen Plakat. Man hätte es für Werbung für eines der Geschäfte in der Mall halten können. Doch hier drückt eine Bürgerin ihre Sorge um die Umwelt aus.
Ali, der mich als erster auf die Proteste aufmerksam gemacht hat, ist selbst ein fleißiger Teilnehmer an Demonstrationen. In Inguschetien geht es allerdings nicht um eine Mülldeponie, sondern um eine Gebietsstreitigkeit mit der Nachbarrepublik Tschetschenien. Die Regierungen der beiden Republiken haben einen Gebietstausch vereinbart, mit dem die Bevölkerung insbesondere in Inguschetien nicht einverstanden ist. Auch sie fordern ein Referendum.
Proteste von Inguschen gab es auch in Hamburg und zuletzt in London, die dort auf ihr Anliegen aufmerksam machen wollten. Ali glaubte, es käme als Meldung sogar bis in unsere Nachrichten. Ich musste ihn leider enttäuschen. Proteste, die einen komplexen Hintergrund haben, daher einer guten journalistischen Aufarbeitung bedürften, um einem breiteren Publikum verständlich zu werden, finden nicht den Eingang in unsere Nachrichten. Alles, was sich dem etablierten Narrativ über Russland entzieht, kommt einfach nicht vor.
Dass wegen der Proteste in Archangelsk und in Inguschetien die Russische Föderation auseinanderzubrechen droht, ist natürlich maßlos übertrieben. In ihnen drückt sich die Sorge von Bürgern um ihre Stadt, ihre Region und die Umwelt aus. Dass Ali dennoch den Eindruck gewinnt, es ginge dem Ende der Föderation entgegen, liegt an den manipulativen Berichten des US-Staatssenders Radio Swoboda.
Der mit einem dezidierten Propagandaauftrag beauftragte Staatssender hat ganz offensichtlich das Ziel, die Gesellschaft zu spalten. So gibt die lokale Ausgabe von Radio Swoboda einem aus Syrien rückgekehrten tschetschenischen Kämpfers des "Islamischen Staates" (IS) ein breites Sendevolumen für dessen Werbung eines Einsatzes in der Ukraine, um dort "an der Seite der Ukrainer gegen Russland und Putin" zu kämpfen. Die USA, die maßgeblich für das Entstehen des IS verantwortlich waren, befördern also heute aktiv dessen Auferstehung samt Zuwendung zur Mitte Europas. Das erfährt mal allerdings nur, wenn man (auch solchen) russischsprachigen Medien folgt. Man tut aber offenbar gut daran, sich darauf einzustellen.
Was hier deutlich festzuhalten ist: Es gibt in Russland viele Formen bürgerlichen Protests. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Mainstreams wird diese Ausdrucksform bürgerlichen Engagements keineswegs "vom Kreml" autoritär unterdrückt. Im Gegenteil lässt man es sogar zu, dass sie von ausländischen, staatsfinanzierten Sendern befeuert werden.
Von den hiesigen Demonstrationen, wie beispielsweise "Fridays For Future" unterscheidet diese Proteste jedoch, dass sie sehr konkrete und realisierbare Anliegen haben. Bei westlichen Formen des Protest gibt es jedoch vielfach – neben der Frage der Realisierbarkeit – noch eine unterschwellige, zweite Botschaft, die – bewusst oder unbewusst – darauf abzielen könnte, die Gesellschaft zu spalten. Bei "Fridays For Future" geht es – wie schon bei der in Deutschland unsäglich unsachlich geführten Rentendiskussion – um das Thema "Kinder gegen Regierende" oder gar "Jung gegen Alt". Und während man sich in Deutschland gar nicht mehr sicher sein kann, ob dieses unterschwellige Thema nicht das eigentliche Thema ist, kann man sich in Russland ganz sicher sein: In Archangelsk geht es um eine Mülldeponie und in Inguschetien um einen Grenzkonflikt mit der Nachbarrepublik. Beides ist lösbar!