von Ulrich Heyden, Moskau
Das kam dann doch unerwartet. Die russischen Präsidentschaftswahlen sind gerade vorbei, und auf der historischen Bühne des Bolschoi-Theaters in Moskau wird ein Wahlkampf gezeigt. Die Tänzer halten Schilder "Vote for Karenin". Das sieht irgendwie amerikanisch aus. Doch nein, im Programmheft steht, dass es sich um einen Wahlkampf in Sankt Petersburg handelt. Journalisten waren eingeladen, sich die Generalprobe des Balletts "Anna Karenina" auf der historischen Bühne des Bolschoi-Theaters anzugucken. Am 23. März hat das Stück Premiere. Im Juli 2017 fand die Weltpremiere des Balletts in Hamburg statt.
Inszeniert wurde die Aufführung vom Leiter des Hamburg-Balletts John Neumeier. Der 79 Jahre alte Choreograph und Regisseur hat den 1877 vom russischen Schriftsteller Leo Tolstoi geschriebenen Roman in die heutige Zeit übertragen. Es gibt keine klassischen, sondern schlichte, moderne Kostüme. Auch die Bühne ist nur spärlich dekoriert, mal mit kubistischer Grafik, mal mit weißen Stellwänden, mal mit einer weißen Wolke vor hellblauem Himmel. Neumeier hat sich aus dem Roman von Tolstoi das genommen, was er für das Interessanteste hält, die Gefühle der einzelnen Personen.
Drei Paare zwischen Liebe, Eifersucht und Depression
Die Hauptrollen in dem Ballett spielen drei Paare, Anna Karenina und ihr Mann Alexej Karenin, ein Politiker aus Sankt Petersburg, sowie Stiwa - der Bruder von Anna -, der ständig fremdgeht und seine Frau Dolly zur Verzweiflung treibt. Dann sind da noch der aufgeklärte Aristokrat Ljewin und seine Frau Kitti, die auf dem Land leben.
Annas Mann, der Politiker Alexej, wird tragisch-komisch getanzt. Man sieht einen steifen, völlig auf sich selbst bezogenen Mann, der durch seine kerzengerade Haltung und harte, abrupte Bewegungen auffällt. Mit leicht zurückgelegtem Kopf genießt er seine Popularität. Abends liest er die Zeitung. Als seine Frau sich an ihn schmiegt, reagiert er nicht. Karenin ist ganz in der kalten Welt der Politiker gefangen.
Wenig überraschend verliebt sich Anna in den jungen Grafen Wronski. Als dieser sich bei dem Feldspiel Lacrosse verletzt und Anna zu ihm eilt, um ihn zu trösten, wird die außereheliche Beziehung öffentlich. Alexej Karenin zieht seine Frau grob von dem Verletzten weg. Ein Gefühl zeigt er dabei nicht. Alexej Karenin handelt mehr wie eine Maschine, die verlorengegangenes Eigentum einsammelt.
Erst später – Anna hat das eheliche Haus verlassen und ist mit ihrem Geliebten nach Italien gereist - sieht man Alexej Karenin deprimiert, den Kopf in die Hände gestützt. Eine Gehilfin kümmert sich um ihn, zieht ihm Schuhe und Strümpfe aus. Doch Karenin bleibt in seiner Trauer gefangen.
Auch Anna findet kein Glück. Die Oberschicht, zu der sie gehört, erkennt ihre Lebensart nicht an. Anna leidet unter der Trennung von ihrem Sohn und verfällt in Depressionen. In einem Traum erscheint ihr ein Bauarbeiter, der bei einem Unfall vom Gerüst fiel, fast direkt vor die Füße des frischverliebten Paares Anna und Wronski. Doch die Liebenden steigen achtlos über den gerade zu Tode Gestürzten.
Als Anna und Wronski in Italien leben, stellt sich der Bauarbeiter in seiner orangenen, zerschlissenen Kluft als böser Traum immer wieder zwischen die beiden. Manchmal schleppt der Arbeiter auch einen weißen Sack hinter sich her. Darin scheint ein zweiter Toter zu liegen. Der bärtige Mann in Orange wirkt wie ein bedrohlicher Abgesandter einer Welt, für die sich die Oberschicht nie interessiert hat, der sie aber ihren Reichtum verdankt.
Anfall von Verzweiflung
Von der tänzerischen Leistung her am ergreifendsten ist jedoch Kitty, die sich ebenfalls in Wronski verliebt hatte, von diesem aber zurückgewiesen wird. Später wird Kitty dann die Frau des Grundbesitzers Ljewin, der auf dem Land lebt. Zuvor hatte Kitty ihren zukünftigen Mann schon einmal abgewiesen. Ljewin ist ein aufgeklärter Leiter eines Landwirtschaftsguts. Er sucht nach Lösungen, um die Bauern zu effektivierer Arbeit zu animieren. Um die Praxis zu verstehen, mäht er mit seinen Bauern Heu. Die Bauern mit ihren Sensen werden von Neumeier in schwarzes Licht getaucht. Man sieht die Bauern als schwarze, gesichtslose, fast bedrohliche Masse, die sich noch nicht befreit hat.
Irgendwann wird auch Kitty von ihrer Vergangenheit eingeholt. In einem Anfall von Wahnsinn schlägt sie sich und rauft sich die Haare. Dazu hört man "Sad Lisa" von Cat Stevens. Schließlich sinkt Kitty in die fürsorglichen Arme ihres Mannes. Ljewin wirkt wie das exakte Gegenstück zu Alexej Karenin, der die Selbstdarstellung liebt. Im Gespräch betont Neumeier jedoch, er habe keine positiven und negativen Rollen schaffen wollen.
Das Ballett hat eine ungewöhnliche musikalische Begleitung. Außer Cat Stevens werden Stücke von Tschaikowski gespielt. "Tschaikowski verbindet das Ballett mit der Original-Zeit", sagt der Choreograph. Das sei für den Zuschauer wichtig, "als Erinnerung an die Zeit, als der Roman geschrieben wurde". Die Musik des dritten Komponisten im Ballett, Alfred Schnittke (1934-1998), habe er gewählt, weil dieser die "extremen Emotionen in der Erzählung" am besten auszudrückt.
Bei dem Treffen mit Journalisten im Bolschoi-Theater wies der deutsche Botschafter Rüdiger von Fritsch darauf hin, dass Schnittke ein Deutsch-Russe war. Außer durch den Choreographen ist die Inszenierung also noch durch einen zweiten Strang mit Deutschland verbunden.
Ein Gefühls-Puzzle
Das Ballett "Anna Karenina" hält einen in Atem. Keine Sekunde will man verpassen. Es ist wie ein Puzzle der Gefühle, welche sich vor einem ausbreitet. Anna bringt unter Qualen den unehelichen Sohn Serjoscha zur Welt. Später vermisst sie ihren Sohn. Die Trennung von Mutter und Kind wird grandios durch eine kleine Modelleisenbahn symbolisiert, die am Bühnenrand entlangrattert und, als Anna Karenina schließlich fern der Heimat stirbt, dampfend stehend bleibt.
Auf die Frage des Autors dieser Zeilen an Neumeier, ob es für ihn wichtig war, dass Anna Karenina von einem russischen Schriftsteller geschrieben wurde, antwortet der Choreograph, er habe nicht versucht, etwas spezifisch Russisches auf der Bühne umzusetzen. Sein Thema sei "die universelle, zeitlose Botschaft" des Schriftstellers.
Den Roman von Tolstoi habe er das erste Mal im Alter von 15 Jahren gelesen. Das zweite Mal habe er die Erzählung vor fünf Jahren gelesen. Für ihn seien das im Grunde "zwei verschiedene Erzählungen" gewesen. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur TASS sagte der Choreograph, er habe das Wesentliche ergründen wollen. Dafür habe er das Stück aus seiner Zeit befreien müssen, um dann zu ergründen, was es bedeute, eine Frau zu sein, und was ist ihr zu tun erlaubt ist, beziehungsweise was es bedeute, ein Mann zu sein, und was ihm zu tun erlaubt ist.
Die russische Klassik für sich entdeckt
Es ist nicht das erste Mal, dass Neumeier sich von russischer klassischer Literatur inspirieren lässt. In Moskau hat der Choreograph und Regisseur mehrere Ballettaufführungen auf die Bühne gebracht. Im Moskauer Stanislawski-Musik-Theater inszenierte er "Die Möwe" von Anton Tschechow sowie "Tatjana" und "Eugen Onegin" von Alexander Puschkin.
Mit dem Bolschoi-Theater verbindet Neumeier eine langjährige Zusammenarbeit. Mehrmals war der Hamburger Choreograph Mitglied der Jury und Preisträger beim Ballett-Festival "Benois de la Danse" im Bolschoi-Theater. Auf die Bühne des bekanntesten Moskauer Theaters brachte er seine Inszenierungen der Stücke "Ein Sommernachtstraum" von William Shakespeare (2004) und "Die Kameliendame" von Alexandre Dumas (2014). Im Jahre 2012 erhielt Neumeier den Orden der Freundschaft der Völker.
Auf die Frage, des Autors, wie er sich in diesen schwierigen Zeiten in Moskau fühle, antwortete der Regisseur: "Ich bin sehr froh, in diesem Land zu sein, wo die Kunst so wichtig ist, dass all die Kameras heute hier sind zu unserem Stück, wo die Bürger vier Stunden in einer Schlange stehen, um die Ausstellung von Serow zu sehen, wo das Orchester 18 Minuten länger spielt als geplant, um die Arbeit zu beenden. Es ist der einzige Ort auf der Welt, wo so was möglich ist. Aus diesem Grunde halte ich es für wichtig, die Verbindungsbrücke aufrechtzuhalten, was auch immer an politischen Schwierigkeiten zwischen Staaten passieren kann. Ich bin ein Künstler."