Interview mit Oleg Schein: Russlands Sozialisten zwischen Kapitalismuskritik und Putin-Loyalität

Die Partei "Gerechtes Russland" ist für ihre soziale Agenda bekannt. Ihre Sternstunde, als sie 2011 mit 13,2 Prozent Stimmen in die Duma einzog, hat die Partei jedoch hinter sich. Kritiker erklären das mit ihrer Abwendung von der radikalen Regierungskritik.

Die Duma-Wahl 2016 brachte für die Partei einen dramatischen Rückgang in der Wählergunst: Mit nur 6,2 Prozent nahm "Gerechtes Russland" die Fünf-Prozent-Hürde für den Parlamentseinzug nur knapp. Die Abwendung von den Straßenprotesten und Unterstützungsappelle zu Gunsten des im Jahr 2012 wieder ins Amt gewählten Präsidenten Wladimir Putin haben viele kritische Wähler enttäuscht.

Die Situation, immer mehr zwischen der politischen Mitte und den Kommunisten zerrieben zu werden, wirft die Frage auf, wozu das "Gerechte Russland" eigentlich noch gebraucht wird.

Das offene Bekenntnis zum Sozialismus im Programm böte zumindest eine Option, um das Profil der Partei im Land der Revolution zu schärfen. Dafür steht Oleg Schein, einer der Köpfe des linken Flügels im Parlament.

Sergej Mironow, der Chef der Partei, pflegt hingegen enge Kontakte zum Kreml. Er behauptet, auf den sozialen Teil des Programms des unabhängigen Kandidaten Wladimir Putin entscheidend eingewirkt zu haben. Deswegen unterstütze "Gerechtes Russland" seine Kandidatur. Er wolle sich nicht gegen die Meinung einer Großteils der russischen Bürger stellen, so Mironow.

Doch auch "Einiges Russland" unterstützt Wladimir Putin. Für Oleg Schein eine rechtskonservative Partei des Großkapitals, mit der er niemals ein Bündnis schließen würde. Wie passt das zusammen? Im einem exklusiven RT-Deutsch-Interview begründet der Duma-Abgeordnete seine Kritik der regierenden Partei und setzt sie in einen historischen Kontext. Auch zu anderen politischen Kräften im Land zieht er die Trennlinien: Ein seltener Einblick in die russische Politik. 

Sehr geehrter Herr Schein, der Vorsitzende der Partei [Gerechtes Russland], Sergei Mironow, kommt dem Standpunkt der Partei Einiges Russlands sehr nahe, wenn er sagt, dass man keine Erschütterungen brauche und eine Revolution etwas Böses sei. Und Sie sagen, dass man Lehren ziehen sollte. Kann man sagen, dass die russische politische Elite ihre Lehren aus diesen Vorgängen zieht?

Ich glaube, sie sind unzureichend, durchaus unzureichend. Wenn man die Geschichte des modernen neuen Russlands betrachtet, so kann man darin mindestens zwei Ereignisse hervorheben, bei denen es vollkommen unerwartet für politische Akteure – große Parteien, Analytiker, Soziologen, die journalistische Gemeinschaft – zu massenhaften Volksausschreitungen kam, die das ganze Land umfassten. Die erste Welle fiel auf Januar 2005, als Menschen im Protest gegen heftige Sozialreformen auf die Straßen gingen, und es kam völlig unerwartet. Zuerst protestierten Menschen gegen den Entzug ihrer Rechte, indem sie die Straßen in Chimki blockierten. Und später schauten andere Menschen auf ihre Bildschirme und sagten: "Sie wurden uns bereits entzogen." Dann kam es landesweit zu Massenausschreitungen, die einige Zeit später den Rücktritt des zuständigen Ministers Surabow herbeiführten und einfach mit Geld überschüttet und damit aufgelöst wurden.

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Das zweite Ereignis sind natürlich die ganz jüngsten Massenausschreitungen gegen die Manipulationen bei der Stimmenauszählung nach den Wahlen Ende 2011. Denn genauso erwartete keiner, dass bei dem üblichen Manipulationssystem bei der Stimmenauszählung die Menschen einfach auf die Straßen gehen werden und sagen: "Das ist uns nicht recht." Und es gab genauso wenig irgendwelche Kristallisationszentren, erst später erschienen am Rednerpult jene Sprecher wie Alexei Kudrin, Xenija Sobtschak und andere. Aber ursprünglich war das eine Aktion der Beobachter mehrheitlich von den Parlamentsparteien, die die ganze Nacht hindurch während der Stimmenauszählung erniedrigt und verhöhnt wurden. Niemand glaubte, dass in Moskau für die allseits bekannte Partei angeblich 50 Prozent der Stimmen abgegeben wurden, und dass in den wenigen Wahllokalen, die mit Wahlautomaten ausgestattet waren, sich ihr Ergebnis auf etwa 30 Prozent belief. Das löste eine ernsthafte gesellschaftliche Reflexion aus.

Blicken wir kurz auf den Februar 1917 zurück. In einem Brief an schweizerische Arbeiter schrieb Lenin damals aus Genf, dass "unsere Generation wohl kaum eine Revolution in Russland erleben wird". Die Revolution in Russland ereignete sich einen Monat, nachdem Lenin diesen Brief geschrieben hatte. Genauso kamen die Ereignisse auf der [Moskauer] Sacharow-Allee im Dezember 2011 überraschend für absolut alle. Das ist das Erste. Und man sollte verstehen, dass die Ereignisse völlig unerwartet aufflackern können. Wenn in einer Gesellschaft tiefgreifende Voraussetzungen reif werden, können die Auslöser vollkommen verschieden sein, wenn Menschen innerlich, psychologisch dazu bereit sind, das Geschehen zu verleugnen. Kann man davon sprechen, dass irgendwelche Lehren gezogen werden? Ich glaube nicht. Wenn man grundlegende Sachen betrachtet, so sollte man wahrscheinlich an erster Stelle das erwähnen, wie Menschen leben und ob sie anders leben könnten.

Die Menschen sind sehr arm. Heutzutage belegt Russland weltweit den 95. Platz gemessen an der Höhe des Mindestlohns. Und sogar nachdem der Mindestlohn bis zu einem Existenzminimum erhöht worden war, rückte Russland erst auf den Platz 86 vor, wobei es zum Beispiel der Republik Honduras unterlag. Momentan beziehen die Menschen in unserem Land kleinere Renten als Rentner in chinesischen Städten. Heutzutage sehen wir sehr ernstzunehmende Herausforderungen im Bildungssystem, das immer weiter kostenpflichtig wird, sowie im Gesundheitssystem, das ebenso einen latenten privatisierten Charakter annimmt. Und dabei akkumulierte ein halbes Prozent der Bevölkerung 62 Prozent des Nationaleinkommens in seinen Händen. Dabei wurde ungefähr eine Trillion US-Dollar ins Ausland gebracht, und unmittelbar in diesem Jahr verdoppelte sich im Vergleich zum Jahr 2016 die Zahl der Überweisungen auf Offshore-Konten. Man sieht, dass die Steuersätze degressiv sind. Man weiß, dass dem russischen Großkapital eine Steuervergünstigung in Höhe von 9,5 Trillionen Rubel jährlich gewährt wurde. Kann man unter diesen Bedingungen etwa sagen, dass die Herausforderung beantwortet wurde? Natürlich nicht. Wenn ein halbes Prozent der Bevölkerung das ganze Geld bekommt, wird man den Rest vergeblich darum bitten, das eine oder andere Jahr abzuwarten, weil dann alles wieder gut werde. Ein oder zwei Jahre werden sie vielleicht noch zuhören, aber natürlich wird auch die so genannte innerliche Verleugnung gebildet. Und die Frage besteht sogar nicht einmal darin, ob sich bei solcher Vernachlässigung der Gesellschaft etwas ändern wird, sondern darin, wer von diesen Veränderungen profitieren würde.

Wir haben am Beispiel unserer Nachbarn vom Westen gesehen, dass am Ende gar keine progressiven politischen Mächte in der Ukraine zu Profiteuren wurden. So brachte die Verweigerung von Janukowytsch die Menschen an die Macht, die noch aktiver als Janukowytsch neoliberale Reformen durchsetzen, die ukrainische Arbeitnehmer um ihre Renten und Medizinversorgung bringen. Aber diese Frage bezieht sich bereits darauf, wer durch eine gewisse innerliche Energie, politische Aktivität und Machtkonstellation in den Vordergrund tritt. Die Frage besteht nicht darin, ob es Transformationen geben wird oder nicht. Der wichtigste Revolutionär in Russland war natürlich der Nikolaus II., genau er, und ganz bestimmt kein Lenin, Tschernow und schon gar nicht Kerenski war der Organisator der großen Russischen Revolution. Er hat seine ganze Regierungszeit hindurch eine Grundlage dafür geschaffen.

Kann man sagen, dass die Protestbewegung, die sich um Alexei Nawalny bildet, ein revolutionäres Potential besitzt und diesem Paradigma zugeordnet werden könnte, oder ist das etwas anderes?

Gewissermaßen ja, anscheinend.

Ist das ein sozialer Protest?

Absolut. Und das lässt sich an der Agenda erkennen, die dort besprochen wird. Das heißt, es ist eine soziale Agenda. Aber die Frage besteht nicht darin... Die Frage ist, inwiefern die wirtschaftlichen Angebote die Umsetzung dieser oder jener sozialen Agenda gewährleisten können. Ein markantes Beispiel dafür, wenn man Russland im Jahr 2000 ansieht, ist die Teilnahme der Union der rechten Kräfte an den Wahlen. Die Union der rechten Kräfte ["Rechts" war in diesem Zusammenhang ein Synonym für "liberal"; Anm. d. Red.] trat mit einer absolut sozialen Agenda an, wobei sie unbestreitbar eine Partei des Großkapitals darstellte, die dazu noch den Geldabzug ins Ausland aktiv begrüßte. Deswegen spiegelt jede Agenda von Menschen, die sich aktiv am politischen Leben beteiligen, zweifellos die Antworten auf die Fragen des Volkes wider. Und die Fragen des Volkes beziehen sich auf den Arbeitslohn, die Rentenversicherung, die Bildung und die Medizinversorgung, das heißt darauf, was mit ihrem Leben zu tun hat, also nicht auf den Film "Mathilde".

Aber die Aufgabe besteht nicht nur darin, dass man antwortet: "Ja, man soll die Löhne erhöhen, ja, man soll Geldmittel für Medizin und Gesundheitswesen bereitstellen.". Die Frage ist, ob der wirtschaftliche Hintergrund des Programms einer entsprechenden politischen Macht das gewährleistet. Vor ein paar Wochen habe ich an Debatten mit Wladimir Milow auf Navalny.live teilgenommen. Er gilt als großer Ökonom und kennt sich in den Grundlagen der Wirtschaft tatsächlich gut aus. Wir haben uns sehr heftig gestritten, denn meiner Meinung nach würden Milows Vorschläge die vorhandenen russischen Schätze im Gegenteil noch mehr zugunsten dieser sehr kleinen Spitze extrem wohlhabender Menschen umverteilen.

Sie betrachten ziemlich kritisch die Prozesse, die hier in Russland seit den 1990er Jahren ablaufen. Ich meine, dass wir den Weg des Kapitalismus eingeschlagen haben. Was hindert Sie daran, sagen wir mal so, lassen sie uns ein bisschen fantasieren, irgendwelche Koalitionen mit den Kommunisten zu bilden? Denn ihre Agenda ist ja ähnlich.

In der Tat hat Gerechtes Russland bereits eine Koalition mit den Kommunisten im Parlamentssaal, sie existiert. Eine Koalition mit den Kommunisten gibt es nicht nur bei den Gesetzentwürfen, sondern auch bei der Abstimmung. Im Großen und Ganzen sind die Abstimmungen des Gerechten Russlands und der KPRF ähnlich. Es gibt gewisse Diskrepanzen bei einzelnen Punkten, wenn wir das Muster der Abstimmung aber insgesamt betrachten, sind das sehr ähnliche Abstimmungen, wie bestimmt auch in den regionalen Parlamenten. An dieser Stelle soll die Frage nicht an uns, sondern an unsere Kollegen gerichtet werden. Wir haben ihnen mehrmals vorgeschlagen, nicht nur gemeinsam die Kontrolle am Wahltag zu gewährleisten, sondern auch zum Beispiel einheitliche Kandidaten für Gouverneurposten zu bestimmen. Wir sind bereit, Daten aus den Regionen auswerten, zu beobachten, wo unsere Kandidaten stärker sind und wo ihre, und von dieser Logik ausgehend sich rund um die erfolgversprechendsten Kandidaten zusammenzuschließen.

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Das Modell der KPRF ist das Modell einer Partei vom so genannten avantgardistischen Typ, weswegen sie alle ihre Verbündeten eingebüßt hat. Dazu gehört, dass es nur eine einzig richtige Partei gibt, und alle anderen in ihrem Fahrwasser schwimmen müssen. Gerechtes Russland geht von einer anderen Logik aus. Wir arbeiten mit Partnern zusammen, zum Beispiel mit sozialen Bewegungen, mit der Logik, dass die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen die Gesellschaft allgemein transformiert, mehr Leute ins gesellschaftliche Leben, in die Politik anlockt und das Leben im Land allgemein verändert. Wir gehen davon aus, dass, wenn wir jemandem helfen, dieser Mensch, wenn er vernünftig ist, seine Stimme bei den Wahlen für uns abgeben wird, weil er damit sich selbst helfen wird, indem er uns stärker macht und unsere Möglichkeiten erweitert. Und wir sind eben für eine breite Allianz mit der KPRF. Die KPRF ist gegen eine breite Allianz. Ihre Haltung ist sektiererischer.

Lassen Sie uns zum Schluss kommen: Soweit ich verstehe, sind Sie grob geschätzt in Richtung links mehr offen als in Richtung Zentrum?

Selbstverständlich.

Das heißt, wenn man vom "Einigen Russland" spricht.

Einiges Russland ist gar kein Zentrum, Einiges Russland ist eine rechte konservative Partei. Von welchem Zentrum sprechen Sie, wenn ihre Gesetze den russischen Großunternehmen jährlich Ermäßigungen in Höhe von 9,5 Trillionen Rubel gewähren? Das heißt, während gegen einfache Bürger immer schwerere Steuerzahlungen verhängt werden, wie eine Kernsanierung zum Beispiel, aus den letzten Neuerungen, die Erhöhung der Benzinsteuer und vieles mehr, werden die Vergünstigungen an das Großkapital staffelweise verteilt. Das ist eine Partei, die unmittelbar eine rechte konservative Position vertritt, im Interesse der Großunternehmen. Das sind unsere Opponenten, wo sollte man mit ihnen kooperieren?

Wenn wir nochmal zurück zum Thema Revolution gehen: Wodurch unterscheidet sich Ihrer Meinung nach Ihre Tagesordnung von den Kommunisten, dem Einigen Russland und der Liberal-Demokratischen Partei?

Von den Kommunisten unterscheidet sich unsere Agenda dadurch, dass es bei uns weniger ideologische Scheuklappen gibt. Wir sind definitiv eine linke Partei, wir nehmen die Ereignisse aus dem Jahr 1917 eindeutig als progressiv wahr, die aus unserem Land das wegfegten, was seine Entwicklung gehemmt hatte. Dennoch machen wir eine kritische Analyse, wobei wir davon ausgehen, dass einige Entscheidungen, die ausnahmslos alle großen Politiker vom linken Feld damals trafen, den Bürgerkrieg nicht vermeiden ließen und die sowjetische Demokratie nicht aufrechterhielten.

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Die sowjetische Demokratie verschwand innerhalb von einem Jahr. Während im Jahr 1917 in der Sowjetunion die ganze Palette verschiedenster Parteien vertreten war, so blieb bereits Ende 1918, buchstäblich ein Jahr später, niemand außer den Bolschewiki übrig. Und dann wurden natürlich innerhalb der Bolschewisten-Partei Fraktionen gebildet, weil sich das gesamte Mehrparteisystem in eine einzige politische Organisation verwandelte. Diese Fraktionen wurden im Laufe der folgenden Konfrontation aufgefressen, und daraus entstanden Stalin und sein Terror. Die KPRF betrachtet Stalin natürlich apologetisch, und darin liegt unsere tiefgründige Diskrepanz. Wir stufen Stalins Modell nicht als Sozialismus und ein Nachahmungsbeispiel im Sinne der gesellschaftlichen Prozesse ein. Und auch die Industrialisierung hätte mit deutlich wenigeren Opfern durchgeführt werden können.

Was Einiges Russland betrifft, tritt bei dieser Partei, wie man jetzt so zu sagen pflegt, eine gewisse kognitive Dissonanz auf. Einerseits besteht sie grundsätzlich aus ehemaligen Mitgliedern der KPdSU, die in Zeiten der UdSSR immer den 7. November feierten und die Leute, die ihn nicht feierten, sehr hart behandelten. Sie hielten Vorlesungen, darunter auch im Rahmen der Politischen Bildung, über das Jahr 1917. Irgendwo im Inneren ist es natürlich bestehen geblieben, nicht umsonst behandeln sie so pingelig den Tag des Komsomol, indem sie ihn als ihren Personalfeiertag wahrnehmen. Andererseits haben sie natürlich Angst vor jeder Volksbewegung, und eine Revolution flößt ihnen gar einfach Furcht ein. Wenn ihnen schon gerechte Wahlen Furcht einflößen, so macht es eine Revolution umso mehr. Deswegen ist ihre Einstellung dazu äußerst ängstlich, und darin liegt zweifellos unsere Differenz.