von Ulrich Heyden, Moskau
Lagerfeuer brannten vor dem Weißen Haus. Vor der ganzen Front des hohen weißen Gebäudes an der Moskwa standen Barrikaden. In dem Gebäude tagte weiter der Oberste Sowjet, das damalige Parlament Russlands, obwohl Präsident Boris Jelzin den Obersten Sowjet am 21. September mit seinem berühmten Ukas 1.400 abgesetzt hatte. Die Abgeordneten verurteilten den Ukas von Jelzin als Staatsstreich. Sie sammelten sich hinter dem 1991 gewählten Vizepräsidenten und ehemaligen Afghanistan-Piloten Aleksandr Ruzkoj und tagten bei Kerzenschein, als man ihnen im Weißen Haus den Strom abgestellt hatte. Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow, ein in Grosny geborener Tschetschene, zeigte sich während der Oktobertage vor Fernsehkameras selbstbewusst lächelnd in einer schusssichern Weste.
Die tragischen Ereignisse im Oktober 1993 hatten sich bereits Monate zuvor angedeutet. Zwischen dem Parlament und Präsident Jelzin kam es zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Weg Russlands in die Marktwirtschaft. Während der stellvertretende Ministerpräsident Jegor Gajdar Planwirtschaft und Staatseigentum mit einer Geldreform und einer überstürzten Privatisierung abschaffen und die russischen Volkswirtschaft mit eiserner Hand auf westliche Standards trimmen wollte, sollte nach Meinung des Obersten Sowjet die Einführung der Marktwirtschaft mit sozialen Garantien für die Bevölkerung verbunden werden.
Angst vor dem Zerfall des Staates
Auf den Straßen Moskaus häuften sich blutige Zusammenstöße zwischen Jelzin-Gegnern und der Polizei. Bei einer Demonstration am 1. Mai 1993 hatten Demonstranten einen Polizei-Lastwagen gekapert. Ein Polizist wurde durch den gekaperten Wagen zerquetscht.
An einem Abend Anfang Oktober besuchte ich den Platz vor dem Weißen Haus, wo das Parlament damals seinen Sitz hatte. Die gesamte Front des Gebäudes war mit Barrikaden versperrt. Die Menschen, die sich da im kalten Herbstwetter versammelt hatten, standen in dicken Jacken und Mänteln an Lagerfeuern. Sie sangen Lieder von einem großen Land und dem Sieg. Ich sah Männer mit düsteren Gesichtern und Fellmützen und Frauen, die Zeitungen wie die nationalpatriotische Sawtra und kommunistische Blätter verkauften. Durch den Rauch der Lagerfeuer sah ich die gelb-weiß-schwarzen Banner der Monarchisten und rote Fahnen.
Was die Demonstranten dachten, dokumentiert ein Foto von einer der Barrikaden vor dem Parlament. Darauf sieht man drei Plakate. Auf einem steht ein Zitat des anti-bolschewistischen russischen Philosophen Iwan Ilin: „Russland ist kein menschlicher Staub und kein Chaos, es ist vor allem ein großes Volk, welches seine Kraft nicht verschleudert.“ Der Philosoph Ilin war ein Gegner des von Lenin deklarierten Selbstbestimmungsrechts der Völker. Als die Sowjetunion aufgelöst wurde, meinten die Monarchisten Russlands, diese Worte des Philosophen seien höchst aktuell.
Kommunisten und Monarchisten standen im Oktober 1991 gemeinsam auf den Barrikaden. Für beide politischen Richtungen schien der Erhalt der Sowjetunion und Russlands – mit unterschiedlichen Begründungen – unabdingbar für das Wohl der Bürger. Die beiden anderen Plakate vor der Barrikade zeugten von einer großen Antipathie gegen Jelzin. Dort konnte man lesen: „Wacht auf! Es wurde ein Staatsstreich verübt. Jelzin und die Regierung sind Verbrecher. Vor Gericht mit ihnen!“ Und: „Verwandelt den vom Volk Gewählten in den vom Volk Gestürzten!“
Immer wieder hörte ich nach den Demonstrationen in den Oktobertagen, wie sowjetische Lieder in den großen Sälen der Moskauer U-Bahn-Stationen gesungen wurden, was besonders eindrucksvoll klang. „Steh auf du großes Land!“ Es waren ältere Frauen, die da sangen. Sie fühlten, dass etwas nicht stimmt. Dass man sie betrügt und über den Tisch zieht.
Ich war damals hin- und hergerissen. Ich verstand diese Frauen, die fühlten, dass die Ordnung, die ihnen einen minimalen sozialen Schutz gab, zerbricht. Und ich glaubte nicht an die Schauergeschichten westlicher Korrespondenten, wonach die Anti-Jelzin-Demonstranten alles Apparatschiks seien, die nur um ihre Jobs bangten. Die Lieder der Frauen waren wie ein Schrei der Seele. Genossen, werft nicht alles fort, haltet ein! Das – so schien mir – war ihre Botschaft.
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Doch der patriotische, anti-westliche Impuls spülte damals auch Zweifelhaftes an die Oberfläche. Auf den Demonstrationen der Linken sah ich damals nicht selten Plakate gegen die „Schidi“ (Juden), die angeblich an der ganzen Armut und dem Zerfall des Landes Schuld seien. Ist das möglich, fragte ich mich. Kann es sein, dass Russland in eine antisemitische Richtung abgleitet? Wo sind sie, die normalen Linken?, fragte ich mich.
Die Panzer schießen
Am 3. Oktober spitzte sich die Situation zu. Um 15:30 Uhr durchbrach ein Demonstrationszug mit 10.000 Jelzin-Gegnern die Polizeiabsperrungen und gelangte zum Weißen Haus. Um 15:43 rief Vizepräsident Aleksandr Ruzkoj zur Besetzung des nahegelegenen Bürgermeisterhauses und zur Besetzung des Fernsehzentrums Ostankino im Norden der Stadt auf.
Ruzkoj begründete seinen Sturmbefehl damit, dass Scharfschützen vom Bürgermeisterhaus auf Demonstranten geschossen hätten. Sieben Demonstranten und zwei Polizisten waren tödlich getroffen worden. Anwohner und Jelzin-Gegner berichteten, von umliegenden hohen Gebäuden habe es Schüsse sowohl auf Polizisten als auch auf Anti-Jelzin-Demonstranten gegeben. Bis heute hält sich das Gerücht, dass es sich bei den Scharfschützen um Leute aus westlichen Ländern gehandelt hat. Wer diese Schützen waren, ist bislang nicht festgestellt worden.
Die Ereignisse überstürzten sich. Unter Führung des radikalen Generals Albert Makaschow fuhren Demonstranten mit von der Polizei erbeuteten Lastwagen zum Fernsehzentrum Ostankino. Dort sammelten sich 6.000 Demonstranten.
In dem Fernsehzentrum hatten sich Spezialeinheiten des russischen Innenministeriums verschanzt. Nachdem Demonstranten mit einem der erbeuteten Laster in die Glasfassade des Fernsehzentrums gefahren waren, begann eine Schießerei zwischen Polizei und Demonstranten, von denen einige Waffen erbeutet hatten.
Um 20:45 Uhr wandte sich Vize-Ministerpräsident Jegor Gajdar mit einer aufrüttelnden Fernsehansprache an das Volk. Er rief dazu auf, den Polizisten zu helfen, die Kontrolle über Moskau wiederzugewinnen. In diesen Stunden, so schien es, waren sich Präsident Jelzin und seine Minister nicht mehr völlig sicher, ob sie die Kontrolle über das Land behalten werden.
Am nächsten Tag, dem 4. Oktober, ging Jelzin dann in die Offensive. Er ließ vor dem Parlament Panzer auffahren. Um 9:30 Uhr nahmen die Stahlkolosse die oberen Etagen des Weißen Hauses unter Beschuss. Dort vermutete man die Vertreter des Obersten Sowjets und den Vizepräsidenten Aleksander Ruzkoj.
Während die Panzer schossen, hatte sich eine Gruppe der Sondereinheit Wimpel an das Weiße Haus herangeschlichen. Der Befehl lautete, das Gebäude zu stürmen. Doch der Befehlshaber der Spezialeinheit entschloss sich, selbst zu den beiden Anführern der Aufständischen - Aleksandr Ruzkoj und Ruslan Chasbulatow - die Treppen hochzusteigen und sie zum Aufgeben zu überreden. Ruzkoj sträubte sich zunächst. Er verlangte Sicherheitsgarantien westlicher Botschaften, denn er traute den Sicherheitsgarantien des Kreml nicht.
Bill Clinton: „Das Parlament ist nationalistisch“
Die ganze Welt schaute am 3. und 4. Oktober auf Moskau. Nie wieder gab es in der russischen Hauptstadt so viele Korrespondenten aus westlichen Staaten wie in jenen Tagen. Es war einer der größten Hypes der neueren Mediengeschichte. CNN berichtete ununterbrochen. US-Präsident Bill Clinton bezeichnete das widerspenstige Parlament als „nationalistisch“. Die westlichen Medien behaupteten allen Ernstes, es bestehe die Gefahr, dass Russland in eine Diktatur zurückfalle, dabei hatte Ruzkoj im Juni 1991 im Doppelgespann mit Jelzin kandidiert. Wie auch Jelzin galt er als demokratischer Hoffnungsträger.
Doch in den Oktobertagen 1993 schrieben fast alle deutschen Moskau-Korrespondenten, Vizepräsident Ruzkoj sei im Gegensatz zu dem mutigen Reformer Jelzin, den alle Russen unterstützten, ein gefährlicher Aufständischer, unter dem eine braun-rote Macht in Russland drohe. Ich selbst habe damals weder Jelzin noch Ruzkoj vertraut. Ich war nicht gegen die Demokratisierung in Russland. Aber mich schockierte damals, wie stark diese Wende die Menschen in die Armut geworfen hatte. Und auf ein gewähltes Parlament zu schießen, war das ein Zeichen einer neuen Epoche, ein Zeichen von Demokratie? Das waren die Gründe, warum ich Zweifel hatte.
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Als am 4. Oktober Panzer auf das Weiße Haus schossen, schrieb die deutsche Presse von einer notgedrungenen Maßnahme gegen die Gefahr einer „braun-roten Diktatur“ in Russland. Einziger Beleg für diese Behauptung waren hundert Anhänger des damals bekannten russischen Faschisten, Aleksandr Barkaschow, die von Journalisten vor dem Weißen Haus gesichtet worden waren.
Wurde das Parlament wegen dieser 100 Faschisten beschossen? Wohl kaum. Der Hauptgrund war, dass es der westlich orientierte Flügel der russischen Elite sehr eilig mit dem Umbau des Landes hatte. Berater der USA hatten in den Hotels von Moskau Quartier bezogen. Sie hatten Zugang zur russischen Regierung und sie erkannten die Chance, sich über russische Geschäftsleute und Beamte einen Zugriff auf die russischen Rohstoffe zu verschaffen.
Den ganzen 4. Oktober über versuchten die Spezialeinheiten Wimpel und Alpha, unterstützt durch die Panzer, in das Weiße Haus vorzudringen. In den oberen Stockwerken des Parlamentsgebäudes brannte es. Die Außenwände färbten sich schwarz. Über dem Gebäude kreisten Kampfhubschrauber. Am Abend wurden Vizepräsident Ruzkoj und Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow verhaftet. Sie kamen zusammen mit anderen Aufständischen in das Untersuchungsgefängnis Lefortowo, wurden aber später im Rahmen einer Amnestie freigelassen.
Was wurde aus Jelzins Widersachern?
Chasbulatow wurde 1994 Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft an der Moskauer Plechanow-Universität und hat dieses Amt bis heute inne. Ruzkoj war einige Jahre lang Gouverneur des südlich von Moskau gelegenen Gebietes Kursk und versuchte danach erfolglos, für die Duma zu kandidieren. Valeri Sorkin, der seit 1991 Vorsitzender des russischen Verfassungsgerichtes war und den Ukas von Jelzin zur Auflösung des Parlaments als nicht verfassungsgemäß kritisiert hatte, musste seinen Posten im Oktober 1993 räumen und wurde einfacher Richter. Zehn Jahre später wurde er jedoch wieder zum Vorsitzenden des Verfassungsgerichts gewählt.
Dass man den Widersachern relativ schnell wieder erlaubte, gesellschaftlich bedeutende Positionen einzunehmen, hing damit zusammen, dass eine Stigmatisierung der Widersacher von der russischen Bevölkerung nicht verstanden worden wäre. Nach den dramatischen Oktobertagen ging es der russischen Führung darum, den Staat zu stabilisieren. Lange Haftstrafen mit dem Risiko, dass die Widersacher zu Märtyrern werden, wären kontraproduktiv gewesen.
In den beiden tragischen Tagen des Oktober 1993 starben nach offiziellen Angaben 160 Menschen. Nach Angaben der Kommunistischen Partei waren es weit mehr, nämlich 1.600 Tote.
Ein wichtiger Faktor, den die westlichen Medien in ihrer Berichterstattung während der Oktobertage meist ausblendeten, war, dass sich der Kampf zwischen Jelzin und dem widerständigen Parlament nur im Zentrum von Moskau abspielte. Im gesamten übrigen Russland war die Lage ruhig. Die Menschen saßen vor den Fernsehern und warteten. Die Leute hatten damals keine Lust auf Demonstrationen. Sie verstanden den Konflikt nicht. „Warum schlagen sie sich in Moskau?“, fragten sich die Bewohner der Provinz. Ihr drängendstes Problem: „Wir brauchen Arbeit und Einkommen. Wir wollen einfach leben.“
Wahlerfolg der Oppositionsparteien bei den ersten Duma-Wahlen
Am 12. Dezember 1993 fand die Krise Russlands mit einem Referendum über eine neue Verfassung ihren Abschluss. Von den Abstimmenden votierten 58 Prozent für eine neue Verfassung, welche dem Präsidenten weitgehende Vollmachten einräumt und die Macht des Parlaments einschränkt.
Die politische Basis, auf der Boris Jelzin von nun an Politik machte, war trotz erweiterter präsidialer Vollmachten jedoch nicht übermäßig stark. Denn bei den ersten Duma-Wahlen im nachsowjetischen Russland, die am gleichen Tag wie das Verfassungsreferendum stattfanden, wurde die ultranationalistische LPPR mit sensationellen 22 Prozent der Stimmen stärkste Partei, gefolgt von der Kommunistischen Partei mit zwölf Prozent, den „Frauen Russlands“ mit acht Prozent und der Agrarpartei mit sieben Prozent der Stimmen.
Das Wahlergebnis der westlich orientierten Parteien – die „Wahl Russlands“ des Vizeministerpräsidenten Jegor Gajdar und Jabloko mit 15 Prozent beziehungsweise 7,8 Prozent – zeigte, dass die westlich orientierten Politiker vor dem Hintergrund von Fabrikschließungen und sozialer Not der Bevölkerung einen schweren Stand hatten.
Tragische Ereignisse von 1993 bisher nicht aufgearbeitet
In Moskau gab es in diesen Tagen zu den tragischen Ereignissen im Oktober 1993 zwei kleinere Gedenkkundgebungen auf öffentlichen Plätzen. Russland denkt nur ungerne an die blutigen Tage zurück. Das liegt wohl daran, dass diese sehr viele schmerzliche Fragen aufwerfen und es aus den Ereignissen keine eindeutige Lehre zu ziehen gibt.
Nach einer aktuellen Umfrage des Lewada-Instituts sind 16 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Oberste Sowjet Recht hatte. 13 Prozent meinen dagegen, dass Boris Jelzin auf dem richtigen Kurs war. 27 Prozent meinen, dass beide Seite teilweise Recht hatten. 22 Prozent sind der Ansicht, dass weder die eine noch die andere Seite Recht hatte. 22 Prozent der Befragten gaben an, ihnen falle eine Antwort schwer.
In den russischen Medien spielten die Ereignisse vom Oktober 1993 keine Rolle, ähnlich wie schon in den Jahren zuvor. Doch in den im Internet geführten Debatten spürt man, dass dieses Schlüsselereignis der jüngeren russischen Geschichte die Menschen bis heute bewegt. Dass die politische Führung Russlands bis heute keine offizielle Position zu den Ereignissen bezogen hat, hängt wohl damit zusammen, dass man sich vor unangenehmen Fragen fürchtet und keine alten Wunden aufreißen will.
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