Es ist erstaunlich, aber in Russland, das schon vor der Revolution des 20. Jahrhunderts sehr guten Wein produziert hatte, gab es bis vor Kurzem keine Rechtsvorschriften, die den Weinbau und den Verkauf von Wein genau geregelt hätten. Alles, was mit anderen Getränken zu tun gehabt hatte, hatte sich in den Gesetzen wiedergefunden, aber Wein war außen vor geblieben.
Dieser Mangel wurde erst vor ein paar Jahren behoben. Konkret im Jahr 2020, als das Gesetz über den Weinbau und die Weinbereitung verabschiedet wurde, das eine Reihe von Branchenkonzepten und Regeln für russische Erzeuger festlegt. Nun hat Russland neun Weinbauzonen gesetzlich festgelegt, in denen eine Gebietseinteilung vorgenommen wurde. So sind beispielsweise die Krim, Dagestan, Ossetien und die Untere Wolgaregion als eigene Weinbaugebiete eingestuft worden. Das Wirtschaftsportal RBK erklärt:
"Im Jahr 2021 entstand in Russland eine Selbstregulierungsorganisation, der Verband der Winzer und Weinbauern Russlands, dem inzwischen mehr als 80 Prozent der Betriebe angehören. Die föderale Gesetzgebung hat ihr eine Reihe von Aufgaben übertragen, darunter die Genehmigung zusätzlicher Weinqualitätsstandards und die Kontrolle der Einhaltung dieser Standards. (...) Zudem erhalten die Winzer neuartige föderale Sondermarken 'Wein Russlands', die bestätigen, dass der Wein zu 100 Prozent aus Trauben hergestellt wurde, die auf dem Territorium des Landes gewachsen sind. Die Verschärfung der gesetzlichen Regelung der Herkunftsgarantien für Wein erhöhte die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Weine."
Seit die neuen Gesetze in Kraft getreten sind, hat die Weinindustrie einen großen Sprung nach vorn gemacht. Die Rebfläche hat zugenommen – im Jahr 2022 wurden beispielsweise 43 Prozent mehr Weinberge angelegt als in den Vorjahren. Damit steht Russland nach Indien an zweiter Stelle auf der Welt, was das Wachstum der Weinanbaufläche angeht. Die Erträge sind ebenfalls sprunghaft angestiegen. RBK schreibt:
"Die Traubenernte in Russland ist in den letzten Jahren allmählich gestiegen. Der Rekord wurde im Jahr 2022 erreicht, als 890.000 Tonnen geerntet wurden – 18 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Insgesamt stieg die Ernte zwischen den Jahren 2018 und 2022 um 42 Prozent, wobei die Krim (+ 49 Prozent), Kuban (+ 39 Prozent) und Stawropolje (+ 31 Prozent) den Anstieg unter den Traubenanbaugebieten anführten. Gleichzeitig stieg in Tschetschenien, das zu keiner Weinbauzone gehört, die Bruttoernte von Tafeltrauben im Zeitraum 2018 bis 2022 um das Zwölffache auf drei Prozent der gesamtrussischen Ernte an."
Es gibt auch neue, bekannte Wein- und Schaumweinmarken, die bereits an Popularität gewonnen haben. Zum Beispiel Chateau Tamagne – diese Marke hat sich in Russland bereits zu einem der Favoriten entwickelt und ist in den Supermärkten sehr rasch vergriffen. In den Weinbergen, in denen dieser Wein angebaut wird, kommen die Touristen in Scharen zu Führungen und Weinproben.
Natürlich haben auch die westlichen Sanktionen zur Entwicklung des russischen Weinbaus beigetragen. Zum einen wurde deutlich, dass es notwendig ist, westliche Weine durch eigene zu ersetzen, und zum anderen gab das Verschwinden einiger Anbieter vom Markt grünes Licht für russische Marken.
Wenn man einen Russen fragt, wie alt die Geschichte des russischen Weinbaus ist, wird er wahrscheinlich sagen: "15 bis 20 Jahre." Aber Weinprofis erzählen einem, dass der Weinbau in Russland viele Jahrhunderte alt ist. Anders als in Europa führte die turbulente Geschichte Russlands mit ihren endlosen Eroberungen von außen und Kriegen, Veränderungen der Gesellschaftsordnung und ähnlichem jedoch dazu, dass die Tradition immer wieder unterbrochen wurde.
Völker, Epochen und Staaten lösten einander ab. Man erinnerte sich an den Wein oder vergaß ihn. Und dann begannen neue Generationen von Winzern wieder von vorne. Iwan Lasarew, Präsident des Ural-Sibirischen Sommelierverbandes, erzählt in einem Interview mit dem Fachportal Kontur Market:
"Oft haben wir alles bei null angefangen. Wir kennen die Zeiten von Gorbatschows Prohibitionsgesetz oder des Ersten Weltkriegs, als die Herstellung und der Verkauf von Alkohol in Russland verboten waren. Die Frage, wie viele Jahre die Geschichte des russischen Weinbaus zurückreicht, ist also eher rhetorisch. Und jeder hat seine eigene Antwort darauf, wann genau wir begonnen haben, unseren Wein immer wieder neu zu erfinden und zu überdenken.
Die ununterbrochene Geschichte des russischen Weinbaus kann ab dem Jahr 1613 gezählt werden, als in Astrachan, auf der Schildkröteninsel, die ersten Weinberge angelegt wurden. Unser berühmter Winzer Lew Sergejewitsch Golizyn scherzte gerne über dieses Thema, wenn er gefragt wurde: 'Wieso entwickelt sich der russische Weinbau so langsam?' Er antwortete: 'Wir haben also auf der Schildkröteninsel angefangen und machen so im Schildkrötentempo weiter.'"
Viele der Rebsorten, die vor der Revolution in Russland angebaut worden waren, stammen aus der alten Vergangenheit der Weinbauregionen. So hatte es im 19. Jahrhundert im zaristischen Russland auf der Krim mehr als 110 autochthone Rebsorten gegeben, deren Abstammung praktisch bis ins antike Griechenland hatte zurückverfolgt werden können, betonen Weinexperten.
In den letzten Jahren hat sich der russische Weinbau jedoch keineswegs im "Schildkrötentempo"entwickelt – Lew Golizyn wäre mit der aktuellen Weinstatistik zufrieden gewesen. So ist die Nachfrage nach russischen Weinen im Jahr 2024 um fast 50 Prozent gestiegen, die Beliebtheit heimischer Schaumweine hat zugenommen, ihr Absatz ist um 76 Prozent gestiegen. Eine große Rolle spielten dabei auch die protektionistischen Maßnahmen, die zugunsten des heimischen Weins eingeführt wurden. So wurden die Steuern auf importierten Wein aus den sogenannten "unfreundlichen" Ländern erhöht, wodurch billiger Importwein aus den Regalen verschwand und russischem Wein Platz machte.
Auch russische Investoren fühlen sich von der Weinbranche angezogen – es ist für sie eine attraktive Perspektive geworden, in russische Weinberge zu investieren. So wird in diesem Jahr ein neues Wachstum in der Branche erwartet. "Der Anteil russischer Weine in den Verkaufsregalen wird im Jahr 2024 60 Prozent erreichen", stellt RBK unter Berufung auf eine Studie der Nationalen Ratingagentur fest und fügt hinzu: "Die Schutzmaßnahmen der russischen Regierung werden dazu beitragen."
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