Von Alex Männer
Der russische Atomenergie-Sektor gehört seit Jahrzehnten zu den weltweit führenden Nuklearbranchen und macht zurzeit eine sehr vielversprechende Entwicklung durch. So baut Russland nicht nur die fortschrittlichsten Kernkraftwerke auf der ganzen Welt, sondern investiert auch massiv in die atomare Forschung.
Den Russen ist schon im vergangenen Jahr ein unglaublicher Erfolg gelungen, der die gesamte Herangehensweise bei der Nutzung der Kernenergie revolutionieren könnte: In einem Atomkraftwerk am Ural haben sie für einen industriellen Reaktor erstmals in der Geschichte ein ganzes Jahr lang wiederaufbereitete Brennelemente und damit quasi Nuklearabfälle als Treibstoff verwendet. Dabei hat der Reaktor vom Typ BN-800 planmäßig 800 Megawatt generiert und in das Stromnetz eingespeist. Den russischen Angaben zufolge soll er inzwischen für den kommerziellen Einsatz bereit sein.
Den Forschern ist es gelungen, die Spaltung von Uran-Isotopen durch Neutronen so zu optimieren, dass das Ergebnis erneut gespalten und als Brennmaterial in anderen Reaktoren verwendet werden kann. Mit diesem Ansatz gewährleistet man im BN-800 den sogenannten "geschlossenen Brennstoffkreislauf" – eine schier unendliche Energiequelle und die vermeintliche Lösung für das Atommüllproblem. Bislang ist diese Lösung zwar noch eine Zukunftsvision, perspektivisch könnte sie aber durch eine industrielle und kommerzielle Anwendung der russischen Technologie realisiert werden.
Zukunftsprojekt "BREST-OD-300"
An diesen Erfolg will Russland, beziehungsweise sein Megakonzern Rosatom, der auch das BN-800-Projekt umsetzt, anknüpfen. Der Konzern kündigte an, bei der Realisierung eines nachhaltigen geschlossenen Brennstoffkreislaufs und somit der praktischen Entwicklung der Nukleartechnologie der vierten Generation in den kommenden Jahren einen Durchbruch zu bewerkstelligen. Die Russische Akademie der Wissenschaften kennzeichnet die AKWs der vierten Generation als ein "System", das sowohl den Reaktor als auch eine Anlage zur Aufarbeitung von Brennmaterialien umfasst. Ziel ist es, eine höhere Sicherheit, mehr Zuverlässigkeit sowie einen besseren Schutz bei der Kernspaltung zu gewährleisten und so die Wettbewerbsfähigkeit der Atomenergie zu steigern.
Einige dieser Kernkraftwerke sollen auf der Basis der sogenannten Brutreaktoren wie dem BN-800 entstehen, in dem die Spaltung von Uran durch schnelle sowie besonders energiereiche Neutronen möglich ist. Bei diesem Spaltprozess wird das Isotop Uran-238 zu Plutonium-239 zerlegt. Das Plutonium-239 wird erneut gespalten und soll wieder als Brennmaterial zum Einsatz kommen, bis seine gefährlichen radioaktiven Substanzen (Radionuklide) "verbrannt" sind.
In einem AKW der vierten Generation hätte man damit dank einer quasi Reproduktion von atomaren Treibstoffen einen geschlossenen Kreislauf eingerichtet. Das würde die bisher in großen Mengen notwendige Urangewinnung verringern, das Problem der radioaktiven Abfälle größtenteils lösen und die Effizienz der Kernenergie signifikant erhöhen.
Um dieses Ziel zu erreichen, hatte Rosatom im Rahmen seines Vorzeige-Projektes "Proryw" (zu Deutsch: Durchbruch) schon im Sommer 2021 mit dem Bau eines ganzen experimentellen Atomkomplexes der vierten Generation im westsibirischen Sewersk begonnen. Sein Herzstück bildet der hochmoderne Brutreaktor "BREST-OD-300", der mit einer Uran-Plutonium-Oxid-Mischung betrieben werden und eine Leistung von 300 Megawatt erreichen soll. Gemäß den zuvor beschrieben Eigenschaften dieser neuen Technologie umfasst das Kraftwerk auch eine Anlage zur Wiederaufbereitung respektive Wiederverwendung von atomaren Abfällen.
In puncto Sicherheit weist der Atommeiler gegenüber vielen anderen Reaktoren einen wesentlichen Vorteil auf: Er schaltet sich automatisch ab, falls es zu einer Abweichung bestimmter Parameter kommt. Zudem bietet die darin verwendete Kombination aus schwerem Bleikühlmittel und dem innovativen Mischoxid-Treibstoff optimale Bedingungen für die Stabilisierung des Reaktors während des Spaltprozesses und ermöglicht einen Betrieb mit geringer Reaktivitätsreserve. Damit sollen Unfälle, die durch eine unkontrollierte Leistungssteigerung oder die Freisetzung von Radioaktivität entstehen, vermieden werden.
Bei Rosatom erklärte man, dass der experimentelle Atomkomplex in Sewersk zum ersten Mal in der Geschichte den nachhaltigen Betrieb eines geschlossenen Brennstoffkreislaufs demonstrieren soll. Gegenwärtig laufen noch die Bauarbeiten des Reaktors, dessen Start für spätestens 2027 anberaumt ist. Die Anlage zur Reproduktion des nuklearen Treibstoffs hingegen ist so weit bereits eingerichtet und könnte in diesem Jahr in Betrieb genommen werden. Die kommerzielle Inbetriebnahme des gesamten Komplexes als fertige industrielle Einheit ist für die Jahre 2028 beziehungsweise 2029 geplant.
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