Von Alex Männer
Trotz der vielen Spekulationen um eine mögliche Großoffensive der russischen Streitkräfte dämpfen viele Experten die Erwartungen in Russland diesbezüglich. Nicht zuletzt, weil offensive Aktionen angesichts der bereits verhärteten Front beim Angreifer zu erheblichen Verlusten führen können, wie die Erfahrungen der Ukraine zeigen.
Ihre Truppen hatten im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres über mehrere Monate hinweg erfolglos versucht, gegen eine sehr gut ausgebaute Verteidigung aus Feuerstellungen, militärischen Befestigungen und unzähligen Minenfeldern anzukommen. Am Ende verloren sie nach Schätzungen mehr als 100.000 Soldaten, ohne auch nur ein einziges ihrer Ziele zu erreichen.
Viele Experten warnen, dass Russland vor ähnlichen Problemen stehen könnte, sollte es sich doch zu einem breit angelegten Angriff entschließen. Denn auch die Ukrainer verfügen an den meisten Frontabschnitten bereits über ein Verteidigungssystem samt Transport- und Logistiknetz, das eine schnelle Truppenverlegung und Munitionsnachschub ermöglicht. Zudem können sie auf die Aufklärung der NATO sowie eine dem Gegner in der Reichweite überlegene Artillerie zurückgreifen.
Dass die Ausgangslage schwierig ist, zeigten schon diverse Offensivaktionen der Russen in der jüngsten Vergangenheit, die nicht immer erfolgreich waren und meist nur mühselig vorangingen. Erklärt wurde dies etwa mit dem starken Abwehrkampf des Gegners oder dessen moderner Bewaffnung.
Offensivplanungen in der Sackgasse?
Viele Experten sind mittlerweile jedoch der Ansicht, dass die Ursachen für problematische Offensiven im Ukraine-Krieg sowie in anderen modernen Militärkonflikten der heutigen Zeit generell viel tiefer liegen und im Grunde alle Armeen betreffen. Die Rede ist von der sogenannten "positionellen Sackgasse" – einer Situation, die den Angreifer vor das Problem stellt, seine zahlreichen Stoßtruppen – vom Gegner unbemerkt – an einem Frontabschnitt zu konzentrieren. Aufgrund des hohen Aufkommens an (FPV-)Drohnen ist ein Überraschungsangriff oder zumindest eine verdeckte Truppenkonzentration derzeit praktisch unmöglich.
Der zweite entscheidende Aspekt, der die These von der "positionellen Sackgasse" komplett macht, ist die überwältigende Feuerkraft der Artillerie auf beiden Seiten. Vor allem im Ukraine-Krieg sorgt der massive Einsatz von Haubitzen und Raketenwerfern dafür, dass der vorrückende Gegner relativ schnell schwere Verluste erleidet. Zugleich ist aber keine der Seiten stark genug, um die gegnerische Artillerie bei dem Gegenbatteriekampf auszuschalten oder die zahlreichen Verteidigungsanlagen zu zerstören.
Insofern ist ein Positionskampf unumgänglich, falls die Kriegsparteien in etwa die gleichen Möglichkeiten bei den Drohnen oder Geschützen haben und in metertiefen Betonbunkern ausharren.
Dabei ist dieser Aspekt nicht neu. Schon im Ersten Weltkrieg war der sogenannte Stellungskrieg charakteristisch für die jahrelangen blutigen Kampfhandlungen. Diese Taktik wurde aber mit der Entwicklung der Panzer- und Luftwaffe bereits am Vorabend des Zweiten Weltkriegs abgelöst.
Erst im Zuge des Ukraine-Krieges rückte das Problem der positionellen Sackgasse wieder in den Vordergrund und wurde etwa im Zusammenhang mit der gescheiterten "Gegenoffensive" Kiews von vielen Experten thematisiert. So auch von dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschny, der in seinem Artikel für die britische Zeitung The Economist das Problem indirekt bestätigte. Saluschny hat den Misserfolg seiner Truppen unter anderem damit begründet, dass der derzeitige Entwicklungsstand bei Waffen und militärischer Ausrüstung den Positionskampf begünstige.
Was nun eine mögliche russische Großoffensive betrifft, so ist noch mal zu betonen, dass die vermeintliche Dominanz Russlands über die Ukraine in bestimmten Bereichen nicht so eindeutig ist, wie sie beschrieben wird. Denn die Ukrainer verfügen dank der Waffenlieferungen aus dem Westen über hochpräzise taktische Raketen, unzählige Artilleriesysteme mit großer Reichweite sowie mehrere Tausend FVP-Drohnen. Zudem kann das ukrainische Militär offenkundig sowohl auf westliche Satellitendaten als auch die Aufklärungsarbeit der Awacs-Flugzeuge der NATO zurückgreifen, die im Schwarzen Meer und entlang der ukrainischen Westgrenze operieren und unter anderem Zielvorgaben für präzise Raketenangriffe liefern.
In Anbetracht dessen könnte die Konzentration größerer russischer Kräfte nahe der Frontlinie durchaus Raketenangriffe der Ukrainer nach sich ziehen und damit zu hohen Verlusten führen. Ganz zu schweigen von massiven Drohnen- oder Artillerieangriffen. Ein Angriff mit kleineren Kräften dagegen wäre angesichts der ukrainischen Befestigungen, die vor mehreren Jahren errichtet wurden, zu schwach und würde früher oder später ebenfalls unter feindliches Artilleriefeuer oder Drohnen-Attacken geraten.
Solange also die ukrainische Artillerie weiterhin gefährlich agiert und Kiew seine technischen Möglichkeiten bei der Aufklärung nutzen kann, bleibt es für Russland schwierig, größere Angriffsverbände zu positionieren. Damit könnte der Positionskampf die Großoffensive zumindest in diesem Krieg bald endgültig ablösen.
Mehr zum Thema - Asia Times: Washington plant Übergang zu Guerilla-Taktik und offenem Terror im Ukraine-Krieg