Von Alex Männer
Die zivile Luftfahrtbranche Russlands entwickelt sich trotz Wirtschaftsbeschränkungen der westlichen Staaten nicht nur relativ stabil, sondern steht neuerdings sogar vor einem regelrechten Boom. Wie die russische Regierung am Montag angekündigt hat, plant man bis 2030 mehr als 600 in Russland entwickelte Passagierflugzeuge für den inländischen Markt zu produzieren und und in Betrieb zu nehmen.
Dieses ambitionierte Vorhaben soll die zivile Luftfahrt künftig von ausländischen Herstellern wie Boeing oder Airbus unabhängig machen und zudem die heimische Industrieproduktion ankurbeln, schreibt die Zeitung Wedomosti. Die russischen Fluggesellschaften erhalten demnach 270 Mittelstreckenjets MS-21 sowie 115 Tupolew Tu-214-Maschinen der gleichen Klasse, 142 Kurzstreckenflugzeuge Suchoi Superjet New, 70 Iljuschin Il-114 und zwölf Langstrecken-Großraumflieger vom Typ Il-96.
Finanziert wird dieses Megaprojekt laut Regierungsangaben unter anderem aus Mitteln des Nationalen Wohlfahrtsfonds, mit Geldern des staatlichen Programms "Entwicklung der Luftfahrtindustrie" sowie mit Zuschüssen aus dem Haushalt, wobei der genaue Umfang der Finanzierung Wedomosti zufolge rund eine Billion Rubel (etwa zehn Milliarden Euro) beträgt. Damit will man erreichen, dass die in Russland entwickelten und gebauten Passagierjets ab 2030 mehr als 80 Prozent des eigenen Flugparks ausmachen.
Angesichts der antirussischen Sanktionen im Bereich der zivilen Luftfahrt ist dieses Vorhaben auch bitter nötig. Schließlich sollten die besagten Strafmaßnahmen des Westens, wie etwa der Lieferstopp von Ersatzteilen, längst dazu führen, dass die von Russland genutzten Flugzeuge westlicher Hersteller am Boden bleiben. Dies hätte für die Russen schlimme Folgen haben können, weil man derzeit noch kaum Alternativen zum westlichen Fluggerät hat und weil die einwandfreie Verbindung zwischen den einzelnen Regionen in dem flächenmäßig größten Land der Erde ohne eine (eigene) moderne Luftflotte kaum zu gewährleisten ist.
Obwohl Moskau den breiten Ausfall westlicher Passagierflugzeuge mithilfe des Parallelimports von Ersatzteilen über Drittländer bislang verhinderte, kann sich diese Situation dennoch jederzeit ändern. Darüber hinaus werden die westlichen Jets aus Sicherheitsgründen ohnehin früher oder später abgeschrieben werden müssen. Das russische Verkehrsministerium hatte in diesem Zusammenhang zwar erklärt, dass die vorhandenen Maschinen wohl noch zehn Jahre weiterbetrieben werden könnten, allerdings sollen sich Berichte über Sicherheitsprobleme in der russischen Luftfahrt bereits häufen, wie Medien melden. Insofern wird die Zeit für die russische Luftfahrtbranche knapp.
Doch abgesehen von dem Sicherheitsaspekt oder der Mobilität ist eine moderne Luftfahrtindustrie für Russland heute auch in anderer Hinsicht von zentraler Bedeutung. Nämlich im Hinblick auf die Gewährleistung der eigenen technologischen Unabhängigkeit, die den heimischen Flugzeugbau schon zu Sowjetzeiten überhaupt erst möglich machte.
Präsident Wladimir Putin bezeichnete die Gewährleistung der technologischen Unabhängigkeit sowie die Schaffung eines vom Ausland unabhängigen Systems der wirtschaftlichen Entwicklung einst als einen Schlüsselaspekt der staatlichen Souveränität.
Schlüsselbereich Triebwerksherstellung
Im heutigen Flugzeugbau gilt die Herstellung von Triebwerken für moderne Passagierjets als jener Bereich, wo die technologische Souveränität mit Abstand am meisten gefragt ist. Denn die Entwicklung eines modernen Düsentriebwerks, die übrigens mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Entwicklung des Flugzeugs selbst, ist so kompliziert, dass gegenwärtig nur vier Staaten auf der Welt solche Aggregate bauen können: Großbritannien, die USA, Frankreich und Russland.
Russland zählt in der Triebwerksbaubranche eigentlich schon seit den 1960ern (damals noch Sowjetunion) zu den wichtigsten Akteuren weltweit, allerdings hatte der allgemeine wirtschaftliche Niedergang im Land in den 1990er Jahren die Luftfahrtindustrie dermaßen hart getroffen, dass von neuen Entwicklungen lange Zeit keine Rede war. Vor mehreren Jahren meldeten sich die Russen dann mit dem PD-14 zurück, dem ersten seit dem Zerfall der UdSSR in Russland entwickelten Antrieb. Es gilt als das erste zivile Flugzeugantriebssystem der neuen Generation und erreicht eine Schubleistung von 14 Tonnen. Damit wird inzwischen das Flaggschiff der russischen Luftfahrt, die innovative MS-21, ausgestattet.
Im Rahmen der Herstellung des PD-14 sollen nach Angaben des staatlichen Unternehmens Rostech mehr als ein Dutzend Schlüsseltechnologien entwickelt und eingeführt worden sein. Zum Beispiel Turbinenschaufeln aus leichter und zugleich hochfester Titanlegierung oder ein neuartiges Kühlsystem, das die Turbine sogar bei Temperaturen von 1.700 Grad Celsius funktionstüchtig erhält.
Des Weiteren wurde der Kraftstoffverbrauch durch andere Innovationen erheblich reduziert und das Triebwerk damit ökonomischer sowie umweltfreundlicher gemacht, heißt es. Dadurch verbraucht das PD-14 bis 17 Prozent weniger Treibstoff als andere Motoren ähnlicher Bauart. Zudem sollen seine Lebenszykluskosten bis zu 20 Prozent niedriger sein als bei der Konkurrenz.
Als weiterer Erfolg der russischen Triebwerkshersteller gilt das PD-8 mit einem Schub von acht Tonnen, das für den Suchoi Superjet New, den Nachfolger der bewährten SSJ 100, vorgesehen ist. Dieses ebenfalls innovative Düsentriebwerk durchläuft noch die letzte Testphase und soll in naher Zukunft das russisch-französische SaM-146 ersetzen ‒ unter anderem, weil die Franzosen die Lieferung von Teilen, die Wartung und die Reparatur dieses Triebwerks seit der Verhängung westlicher Restriktionen vollständig eingestellt haben.
Neben den Triebwerken für Kurz- und Mittelstreckenjets entwickelt man in Russland mit dem PD-35 derzeit auch ein vielversprechendes Großtriebwerk. Damit soll die Il-96-400 sowie ein neues Großraumflugzeug ausgestattet werden, das aber noch entwickelt wird. Ursprünglich sollte bis Ende 2024 ein erster Prototyp des PD-35 präsentiert werden, doch aufgrund der steigenden Fertigungsmengen unter anderem des PD-8 und PD-14 wurde seine Entwicklung um einige Jahre verschoben. Laut russischen Medien soll das PD-35 damit frühestens 2029 oder 2030 zur Verfügung stehen.
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