Von Wladislaw Sankin
Ein Vorfall in einer Schule ist in Russland seit einer Woche das Thema. Nach übereinstimmenden Angaben der russischen Medien wurden in Nischni Tagil im Gebiet Swerdlowsk zwei Kinder von gleichaltrigen Zwillingsbrüdern aus der fünften Klasse verprügelt. Am 29. Dezember 2023 versetzten K. und R. in der Nähe der Schule Nr. 56 zunächst einem Jungen einen Schlag ins Gesicht, schlugen dann ein Mädchen mit einem Schlag gegen die Schläfe nieder und begannen, das auf dem Boden liegende Kind brutal zu treten. All das geschah in der Gegenwart eines Schulwachmanns, der nicht einschritt. Auch andere Zeugen mischten sich nicht ein.
Das verletzte Mädchen S. wurde danach ins Krankenhaus eingeliefert, wo es mehrere Tage verbrachte. Die Schülerin erlitt eine geschlossene Kopfverletzung und ein stumpfes Trauma im Bauchbereich.
Nischni Tagil ist eine Arbeiterstadt im mittleren Ural mit 330.000 Einwohnern. Der Vorfall in dieser Stadt war keine kleine Schulrauferei, denn auch die Mutter der Brüder war in der Nähe, filmte die Schläge und nahm Medienberichten zufolge sogar persönlich daran teil, indem sie dem Opfer mehrere Schläge versetzte.
In der Schule Nr. 56 landeten die Brüder, nachdem sie von ihrer vorherigen Schule wegen Mobbings, Beleidigung und Rowdytums verwiesen worden waren. In der neuen Schule blieben ihre Gewohnheiten offenbar unverändert, und die Brüder suchten sich als Opfer Kinder aus, die offensichtlich schwächer sind als sie – zumindest hatten sie zuvor die Brille eines Mitschülers zerbrochen, wie Medien berichteten.
Beide Täter sind angeblich aserbaidschanischer Herkunft. Aber nicht diese bloße Tatsache macht den Vorfall zu einem möglichen Konflikt mit einer politischen Komponente, sondern der spätere Umgang damit. Viele Beobachter ‒ darunter der Journalist und Politiker Andrei Medwedew, der Blogger Sergei Koljasnikow aus dem benachbarten Jekaterinburg, das Mitglied der Gesellschaftskammer und Chef-Redakteurin des Nachrichtenportals Regnum, Marina Achmedowa ‒ sehen im Umgang der zuständigen Lokalbehörden und Medien mit der Situation die Anzeichen eines Komplotts, in das sogenannte "Diasporas" – eher informell funktionierende Migrantenvertretungen – involviert sind.
Gleich nach Bekanntwerden der Geschichte gab Faruch Mirsojew, der Vorsitzende der "Vereinigung der ethnischen Kulturvereine des Gebiets Swerdlowsk", der als Führer der Swerdlowsker Diaspora gilt, eine Erklärung ab: "Wenn die Brüder schuldig sind, wird die Diaspora sie nicht decken, die Jugendlichen werden sich vor dem Gesetz verantworten."
"Entschuldigung, was ist eine Diaspora? Sie ist ein außerstaatliches Gebilde, das nach bestimmten Vorstellungen lebt und versucht, diese Vorstellungen über das Gesetz zu stellen. Wie soll die Diaspora jemanden schützen oder bestrafen? Wir haben das Gesetz, das Gericht und die Ermittlungen", schreibt Marina Achmedowa dazu. Auch der Abgeordnete Nikolai Walujew kommentierte: "Noch einmal: Diaspora-Migranten und Ohnmacht, Ohnmacht. Hier geht es um ein Gesetz, das scheinbar für alle gilt."
Zwar wurde ein Strafverfahren eingeleitet und die lokale Schulbehörde gab einen allgemein gehaltenen Kommentar ab, doch der Eindruck, dass die Behörden nicht angemessen auf den Vorfall reagieren, wurde mit jedem Tag stärker. Auffällig war beispielsweise das bisherige Schweigen des Oberbürgermeisters der Stadt, während der Skandal in den Medien tobte. Eine Stellungnahme, die ein Sprecher des Innenministeriums am 5. Januar veröffentlichte, beinhaltete ausführliche Informationen zu der schwierigen Familiensituation des Opfers und keine Angaben zur Familie der mutmaßlichen Täter.
Die Eltern des Opfers hätten Probleme mit dem Gesetz, wobei die Mutter derzeit eine Gefängnisstrafe absitze, und den Vormund habe die Großmutter, so der Sprecher. Er zählte auch alle Delikte der Eltern des Mädchens auf, so als ob diese Tatsachen etwas mit dem Vorfall zu tun hätten. Der Sprecher kündigte zudem umfassende Untersuchungen nach dem Ende der Neujahrsferien an und deutete darauf hin, dass zwölf weitere Schüler in die Anstachelung des Konflikts beteiligt gewesen sein könnten.
Wird mit diesen Angaben eine Kampagne zur Entlastung der Täter, die womöglich "provoziert" worden waren, vorbereitet? Einige Beobachter befürchten dies. Unterfüttert werden solche Bedenken durch tägliche Berichte über Migrantenkriminalität und einen angeblich lascheren Umgang der Strafverfolgungsorgane mit den Tätern. Mächtige halbkriminelle Lobbyistennetzwerke scheinen das angemessene Eingreifen der Behörden oft zu verhindern. In der Regel werden die Opfer brutal verprügelt oder niedergestochen. Meist haben die Opfer Angst davor, die Polizei einzuschalten, weil sie eingeschüchtert werden.
Nach Meinung des Bloggers Sergei Koljasnikow sei das Problem der Migrationspolitik nicht die Migrantenkriminalität an sich, sondern die Beamten auf lokaler Ebene, die ein Auge zudrücken und, statt im Rahmen ihrer Befugnisse zu handeln, Treffen mit "Diasporas" abhalten. Oft müsse Moskau eingreifen, um Bewegung in manch stockendes Verfahren zu bringen.
Der Vorsitzende des russischen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, berichtete im April von einem Anstieg der Migrantenkriminalität, wobei die ausländischen Täter in der Regel mit einem Arbeitsvisum aus den Ländern Zentralasiens anreisen. "Die Statistiken über schwere und besonders schwere Verbrechen sind besonders alarmierend", sagte er in einem Interview mit Interfax: "Im Jahr 2022 wurden 893 Strafverfahren wegen Straftaten wie Mord und vorsätzlicher schwerer Körperverletzung mit Todesfolge eingeleitet. Das ist fünfmal mehr als im Jahr 2021."
Laut Alexander Bastrykin hat allein das Ermittlungskomitee im Jahr 2022 4.231 Strafverfahren gegen Ausländer eingeleitet, insgesamt gingen bei den Ermittlungsbehörden 4.729 Anzeigen ein ‒ fast dreimal mehr als 2021. Auch bessere technische Ausstattung habe es ermöglicht, mehr Fälle aufzudecken.
Der in Zahlen gemessene Anstieg könnte auch auf das erhöhte öffentliche Interesse zurückzuführen sein. Viele Aktivisten rütteln die Öffentlichkeit und die Behörden auf. Sie verfolgen über Telegram-Kanäle den Verlauf der Aufklärung, decken Fälle mutmaßlicher Korruption auf, verschicken Behördenanfragen oder Paralleluntersuchungen – so auch im Fall des Angriffs auf die 11-jährige Schülerin in Nischni Tagil.
Das Fachportal für Fragen der Arbeitsmigration Media-Mig hat zu der Problematik eine ganz andere Meinung. Die Angaben des Ermittlungskomitees würden nicht das ganze Bild widerspiegeln und "Mythen produzieren", schreibt das Portal in einem Faktencheck unter Verweis auf die Statistiken des Generalstaatsanwalts: "Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft liegt der Anteil der Kriminellen unter den ausländischen Bürgern bei 2 bis 3 pro 1.000, unter Russen bei etwa 6 Personen." Laut dem Innenministerium haben im Jahr 2022 etwa 3,5 Millionen ausländische Bürger ein russisches Arbeitsvisum erhalten. Insgesamt halten sich in Russland bis zu 15 Millionen Migranten auf.
"Happy End" in der Schule Nr. 56?
Als dieser Artikel bereits fertiggestellt war, teilte der Vize-Gouverneur des Gebiets Swerdlowsk mit, dass der Vorfall in der Schule Nr. 56 nun auf regionaler Ebene behandelt werde – nach einer Woche Bedenkzeit. Es werde umfassende schulpädagogische Maßnahmen des Bildungsministeriums zur Untersuchung und Verbesserung des psychologischen Schulklimas geben, heißt es in der Mitteilung. Darüber hinaus wurde ein Strafverfahren gegen die Eltern der mutmaßlichen Täter eingeleitet.
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