Von Iwan Timofejew
Im vergangenen Jahr stand vieles auf dem Spiel. Alle wollten herausfinden, ob Russland der Wende, der es sich selbst ausgesetzt hatte, standhalten würde. Würde Moskau verhindern können, dass die russische Wirtschaft aufgrund der Sanktionen zusammenbricht? Würde der Kreml in der Lage sein, sowohl die Eliten als auch die breite Öffentlichkeit insgesamt zu konsolidieren?
Das Jahr 2022 endete noch ohne klare Antworten auf diese Fragen. Das Jahr 2023 hat jedoch wesentlich mehr Klarheit gebracht. Der Umbruch ist vollbracht: Russland lebt in einer Welt, in der zwar neue Bedingungen der Konfrontation herrschen, aber das Land kommt damit zurecht.
Das wichtigste Ergebnis der vergangenen zwölf Monate ist der Übergang zu einer neuen Normalität in der russischen Außen- und Innenpolitik. Im Vergleich dazu war 2021 eine Zeit, in der sich die Gewitterwolken zunächst noch zusammenbrauten. Damals schon zeichnete sich ein bevorstehender Umbruch ab, doch viele wollten nicht glauben, dass dieser eintreten würde. Die Gemütslage in den dreißig Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges – der Frieden, die Offenheit und die Kooperation – war vielen zu vertraut geworden.
In den Beziehungen zum Westen begann sich jedoch das Blatt schon lange vor 2021 zu wenden. Bereits Ende der 1990er Jahre zeigten sich Risse, die seit 2014 zunehmend nicht mehr zu kitten waren. Aber wie so oft war die Möglichkeit einer größeren Veränderung kaum vorstellbar – gerade weil die Trägheit der Realität von den Anzeichen tektonischer Verschiebungen ablenkt. Im Nachhinein sind diese Anzeichen natürlich immer klar zu erkennen und ergeben auch einen Sinn. Aber in der Vergangenheit selbst – also während der damaligen Gegenwart – wollten nur wenige Menschen das wahrhaben, was da kommen wird.
Das Jahr 2022 war ein Jahr, in dem ein dynamisches Chaos herrschte, und es markierte den Übergang Russlands zu einer neuen Realität in seiner politischen und sozialen Ordnung. Auslöser des Wandels war der Ausbruch von Widersprüchen in den Beziehungen zum sogenannten "kollektiven Westen". Die militärische Sonderoperation gegen die Ukraine und die darauffolgende Kette konfrontativer Ereignisse wurden zu einem konzentrierten Ausdruck dieser Krise: Durch eine Beschleunigung des Wettrüstens und der NATO-Erweiterung, durch groß angelegte Sanktionen und den Versuch, Russland zu isolieren, durch militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine und andere Faktoren, die alle eine Rolle spielten. Aber wo stehen wir jetzt? Und welche Parameter hat diese neue Realität?
Als Erstes sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu betrachten. Im Jahr 2022 erreichten diese Beziehungen das Format einer akuten Konfrontation. Das Format war geprägt von der Bereitstellung umfangreicher militärischer und finanzieller Hilfen für die Ukraine, von einer erneuten Erweiterung der NATO und einem Kurs zur Remilitarisierung Europas. Derzeit befürchten die Mitglieder der EU und der NATO einen direkten militärischen Konflikt mit Russland, wegen der Gefahr einer nuklearen Eskalation. Sie sehen jedoch offenbar kaum ein Risiko darin, die Quantität und Qualität der Waffenlieferungen an die Ukraine zu erhöhen. Die Lieferungen umfassen sowohl Waffen und Munition aus der Sowjetzeit als auch im Westen produzierte Waffen. Die Lagerbestände des Westens wurden bisher jedoch durch die finanziellen und industriellen Kapazitäten erkennbar begrenzt. Wenn sich der Konflikt weiter hinzieht, könnten jedoch solche Engpässe im Laufe der Zeit überwunden werden.
Ideologisch sind Russland und der Westen zu prinzipiellen Rivalen geworden. Und für diese Widersprüche gibt es keine Kompromisslösungen. Jede Seite erwartet, dass die andere Seite die eigenen Bedingungen akzeptiert. Der Westen tut dies, indem er Russland mit Sanktionen belegt, den militärischen Gegner Moskaus aufrüstet, einen Informationskrieg an der Propagandafront führt und seinen Einfluss gegenüber neutralen oder befreundeten Ländern zu vertiefen versucht. Russland auf der anderen Seite tut dies, indem es der Ukraine eine militärische Niederlage zufügt und Kiew nach und nach entmilitarisiert, sowie durch asymmetrische Vergeltungsmaßnahmen.
Beide Seiten haben nicht die Fähigkeit, sich gegenseitig zu vernichten, aber beide Seiten rechnen mit einem Sieg. Der Westen geht von Schwachstellen in der russischen Wirtschaft aus und von der theoretischen Möglichkeit innerer Unruhen oder von einem radikalen Kurswechsel in der russischen Außenpolitik oder gar von einer Niederlage des Landes im Konflikt mit der Ukraine aus. Russland geht davon aus, dass die zunehmenden Konflikte, in die sich die USA und der Westen als Ganzes verwickeln werden, ihre Ressourcen zu sehr belasten werden. Und Russland rechnet auch mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb des westlichen Blocks selbst – sei es innerhalb der EU oder innerhalb der NATO.
Der zweite Aspekt ist die militärische Lage in der Ukraine. Das Jahr 2023 begann mit großen Erwartungen an die in Kiew geplante Gegenoffensive. Diese Erwartungen wurden durch informative und politische Äußerungen westlicher Führer hochgejubelt, und der Erfolg dieser Gegenoffensive sollte unter anderem großzügige Militär- und Finanzspritzen der westlichen Partner für die Ukraine rechtfertigen. Das Scheitern dieser Offensive kann als eines der wichtigsten militärischen Ergebnisse des Jahres 2023 betrachtet werden. Die russische Armee entschied sich nicht für einen unmittelbaren Vergeltungsschlag, sondern übte Druck aus, entlang der gesamten Frontlinie.
Derzeit haben westliche Diplomaten vernünftige Gründe, das Terrain für Waffenstillstandsgespräche zu erkunden, auch wenn sich die Positionen ihrer jeweiligen Regierungen offiziell nicht geändert haben. Moskau hingegen hat keinen triftigen Grund, jetzt einer Einstellung der Kampfhandlungen zuzustimmen. Eine Kampfpause würde es vielmehr der Ukraine ermöglichen, sich weiter aufzurüsten, die Kapazität ihres militärisch-industriellen Komplexes zu erhöhen und den Konflikt zu einem für Kiew günstigen Zeitpunkt wieder in die Gänge zu bringen. Offensichtlich glaubt man in Russland, dass nur eine schmerzhafte und groß angelegte Niederlage der Ukraine dazu führen kann, dass die russischen Forderungen und Interessen berücksichtigt werden. Darüber hinaus kann eine solche Niederlage entweder zu einem vernichtenden Schlag oder zu einem endlosen Zermürbungskrieg werden. Die zweite Option scheint derzeit die wahrscheinlichere zu sein.
Ein dritter Faktor sind die Sanktionen gegen Russland. Das Jahr 2022 war von einem "Tsunami der Sanktionen" geprägt, bei dem in kürzester Zeit eine Vielzahl restriktiver Maßnahmen verhängt wurde. Dazu gehörten die Blockierung staatlicher Vermögenswerte und die Unterbindung finanzieller Transaktionen gegen systemrelevante Unternehmen sowie Exportkontrollen, Importverbote für Öl, Kohle, Stahl, Gold und andere Beschränkungen. Im Jahr 2023 wurden alle diese Maßnahmen verlängert. Sie haben zwar Schaden angerichtet, aber die russische Wirtschaft nicht zerstört.
Der Schockeffekt lag 2022 in der Luft und wurde 2023 etabliert. Die USA, die EU und andere Initiatoren von Sanktionen haben versucht, einer Umgehung dieser Sanktionen entgegenzuwirken. Gegen mutmaßliche Verstöße, darunter auch durch russische Staatsbürger, wurden sekundäre Sanktionen verhängt und Strafverfahren eingeleitet. Aber selbst diese Maßnahmen steigerten die Wirkung dieser Maßnahmen nicht radikal. Außerdem zeigte Moskau kein Interesse daran, in Reaktion auf die Sanktionen zur deren Lockerung die Frage nach politischen Zugeständnissen anzusprechen.
Im Jahr 2023 wurden neue doktrinäre Grundlagen der russischen Außenpolitik formalisiert. Eines der Schlüsselereignisse war die Entstehung eines neuen außenpolitischen Konzepts. Zu den konzeptionellen Neuerungen gehören die Vorstellung einer grundlegend neuen eigenen Staatszivilisation und die Wahrnehmung der Außenwelt als eine Reihe zivilisatorischer Einheiten mit jeweils unterschiedlichem Grad an politischer Konsolidierung. Theoretisch handelt es sich hierbei um eine der gravierendsten Veränderungen innerhalb der jüngsten Geschichte, die sowohl Stärken als auch Schwächen aufweist. Daher bedarf es einer ernsthaften theoretischen und politisch-philosophischen Aufarbeitung dieses neuen Ansatzes. Aber die bloße Tatsache seiner Entstehung deutet auf den Beginn einer Bewegung hin, die russische Identität neu zu überdenken und die Fragen "Wer sind wir?" und "Wer sind wir nicht?" und auch die Frage "Wer sind unsere wichtigen Partner?" zu beantworten.
Auch in der russischen Gesellschaft fanden und finden nach wie vor Veränderungen statt. Das Jahr 2022 war nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine von Schockgefühlen geprägt. Aber dies war angesichts der radikalen Natur der außenpolitischen Kursänderung unvermeidlich. Im Jahr 2023 scheint sich auch die russische Gesellschaft der neuen Realität angepasst zu haben. Trotz der Durchführung groß angelegter Militäreinsätze hat das Land im Allgemeinen eine stabile und einigermaßen vorhersehbare Lebensweise aufrechterhalten können. Einige besorgniserregende Auswirkungen, wie zum Beispiel eine verstärkte Inflation, der Mangel an Arbeitskräften und der Niedergang einer Reihe von Branchen, gehen einher mit einer rekordverdächtig niedrigen Arbeitslosigkeit, mit einer rasanten Entwicklung in neuen Marktnischen, nachdem sich ausländische Unternehmen aus Russland zurückgezogen haben, und mit einer Wiederbelebung der industriellen Basis auf der Grundlage der Substitution von Importen und der Wiederbelebung des militärisch-industriellen Komplexes.
Die innere Lage in Russland bleibt offenbar stabil, was ein wichtiger psychologischer Faktor für die Gesellschaft bedeutet. Die versuchte militärische Meuterei im letzten Juni und deren Scheitern offenbarten die Stabilität des politischen Systems in Russland. Auch die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft an neue Bedingungen gehört zu dieser neuen Normalität.
Aber wie lange wird dies alles andauern? Welche neuen Veränderungen erwarten uns in Zukunft? Und wie wird Russland damit umgehen? All diese Fragen bleiben vorerst unbeantwortet. Derzeit ist lediglich klar, dass der Umbruch im Jahr 2022 durch die Stabilisierung im Jahr 2023 ausgeglichen wurde.
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Aus dem Englischen.
Iwan Timofejew ist Programmdirektor im Waldai-Klub und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.