Eine Reportage von Dawid Narmanija
"Da fahren wir hin"
"An dieser Stelle warne ich normalerweise meine Leute: 'Ihr biegt jetzt auf die Heldenstraße ab'", sagt der stellvertretende Bataillonskommandeur mit dem Funknamen Mamont (zu Deutsch "Mammut"), als wir in Richtung Rabotino abbiegen. Die erste Linie der russischen Verteidigung liegt hinter uns. Vor uns das "Vorfeld".
Der Fahrer bringt seinen Wagen an die Grenze des Möglichen. Am Horizont steigen Rauchschwaden von den jüngsten Schlägen der ukrainischen Artillerie auf.
Der Beschuss erfolgt ununterbrochen, Russlands Artillerie erwidert ihn. "Ein solcher 'Regen' kommt hier jeden Tag. Zwischen 300 und 500 Schüssen pro Tag ist die Norm", erklärt der Offizier.
Er zeigt auf Splittereinschläge an einer "Buchanka" ("Brotlaib"), wie der Kleintransporter UAZ-452 im Volksmund genannt wird. Dieses Fahrzeug wird von den Medizinern zur Evakuierung Verwundeter genutzt. Einmal musste sie sogar selbst gerettet werden. Die Mediziner gerieten unter Beschuss und ein Reifen der "Buchanka" wurde beschädigt. Mamont eilte mit seinen Kameraden zur Hilfe:
"Wir ersetzten den Reifen unter feindlichem Feuer, doch das machte nichts, wir schafften es. Es war ein schnellerer Pitstop als bei der Formel-1. Wir retteten sowohl die Mediziner, als auch das Auto."
"Genauigkeit ist nich vonnöten"
An einem anderen Frontabschnitt bei Rabotino finden ständig Infanteriegefechte statt. Hier halten mobilisierte Soldaten die Stellung. Der Großteil von ihnen kommt von der Krim oder vom Kuban, deswegen ertragen sie die Hitze leichter. In Erwartung der Angriffe muss man Stunden unter sengender Sonne verbringen.
Zunächst versuchte das ukrainische Militär, mit Technik anzugreifen, berichten die Soldaten. Nun habe es seine Taktik geändert.
"Jetzt haben sie sogar die Evakuierungslinie um zwei bis drei Kilometer weiter weg vom Dorf, wo wir stehen, verlegt. Kaum jemand wagt es noch, mit Fahrzeugen näherzukommen – das Feuer ist zu dicht. Sie versuchen, sich uns über Waldstreifen zu nähern. Meist die Infanterie", sagt der Militärangehörige mit dem Funknamen Jakub.
Minenfallen helfen. Den ukrainischen Kämpfern gelingt es manchmal, sie zu finden und zu entschärfen, doch schon am nächsten Tag stellen die Russen neue.
Laut Jakub versucht das ukrainische Militär immer öfter, die russischen Truppen in Infanteriegefechte zu verwickeln, um Feuernester der Marineinfanteristen ausfindig zu machen und sie mit Artillerie zu beschießen.
"Sie sehen selbst, an Waffenzusätzen haben wir nur 'Dosen' (Mündungsfeuerdämpfer – Anm. der Redaktion)", sagt er und zeigt auf die alten Kalaschnikows seiner Kameraden. "Nicht weil wir sonst nichts haben, Kollimatoren zum Beispiel gibt es im Überfluss. Doch mit der Zeit verzichteten wir darauf."
Die Kämpfe finden nämlich auf einer Distanz von etwa 150 Meter statt, manchmal sogar im gleichen Schützengraben.
"Präzise Schüsse sind nicht nötig. Wichtig ist etwas anderes – unser Krieg ist die Zerstörung ihrer Kräfte und schnelles Bewegen zwischen Deckungen zum Schutz vor Artillerie. Das AK hat ein starkes Kaliber, mit wenigen Schüssen schlägt es die Panzerplatten auf NATO-Schutzwesten durch. Doch die Waffe wird durch Zusätze schwerer, deswegen nehmen wir alles Unnötige ab. Die 'Dose' aber sorgt für Tarnung – so ist es schwieriger, unsere Feuernester zu entdecken", erklärt Jakub.
"Sie nutzen Wegeführer"
In den ersten Angriffswellen gab es laut den Soldaten viele Söldner, vor allem Polen.
"Sie kleben ihre Flaggen gerne an ihre Helme. Wir hörten auch Gespräche auf Polnisch", erklärt der stellvertretende Kompaniekommandeur mit dem Funknamen Gagarin und fügt hinzu: Die Rede sei hier nicht von Funkverkehr, sondern von einem Gefecht direkt am Schützengraben.
Diese Position hielt Gagarin mit zwei Kameraden einen halben Tag lang. Die Ukrainer waren in einer fünf- bis siebenfachen Überzahl. Geschossen wurde aus kleinstmöglicher Distanz – 20 Meter. Als die Verstärkung – fünf Marineinfanteristen – ankam, wurde der Angriff zurückgeschlagen.
Im südlichen Teil von Rabotino stehen noch einige Häuser. Doch insgesamt ist der Ort praktisch vom Antlitz der Erde getilgt. Dort lange durchzuhalten, ist unmöglich.
Die Artillerie visiert ihre Ziele mit Drohnen an und schießt ununterbrochen. Das ukrainische Militär bringt Verstärkung. Doch sie alle erwartet dasselbe Schicksal.
"Von den Gefangenen erfuhren wir, dass sie 'Wegeführer' haben. Erst dachten wir, das sei jemand von den Einheimischen. Später stellte es sich heraus: Es ist einfach ein Soldat, der seinen Kameraden den Weg zu den Stellungen zeigt, aber nicht mitkommt. Er bleibt im nächsten Waldstreifen zurück", sagt Jakub.
Westliche Technik
Manchmal kehrt das ukrainische Militär zur alten Praxis zurück und versucht, mit Technik durchzubrechen. So war es beispielsweise Ende Juli.
"Sie fuhren buchstäblich in Kolonnen", erinnert sich Jakub. "Und wenn es vorher klar war, dass die Fahrer die Routen kannten, so brachen sie, sobald sie unter Feuer gerieten, in Panik aus und versuchten, sich in einem Waldstreifen zu verstecken. Sie wurden wie am Schießstand zusammengeschossen. Es kam sogar zu Staus, sie fuhren ineinander. Unsere Jungs mit Panzerabwehrraketen verbrannten vier Fahrzeuge in anderthalb Minuten."
Einer der Batteriekommandeuren schoss sechs Panzer ab. Dafür wurde er zur Auszeichnung mit dem Heldenstern vorgeschlagen. Weitere 60 Marineinfanteristen erhielten für die Abwehr jenes Angriffs den Tapferkeitsorden. Manche wurden direkt an der Front ausgezeichnet.
Zwei Wochen später, Mitte August, kam es in der Nähe der Stellungen zu einem für diesen Konflikt seltenen Ereignis – einem Panzerduell.
"Zu uns kam ein Leopard in Begleitung von zwei Schützenpanzern. Ihnen entgegen fuhr ein T-90 'Proryw'. Der westliche Panzer war nach zwei Schüssen fertig – einer frontal, der zweite seitlich. Auch die Schützenpanzer bekamen was ab", berichtet der Soldat.
Von NATO-Waffen sprechen die Soldaten gerne. Sie haben verschiedene gesehen, der Großteil davon modern. Freilich hilft alles nichts: So werden etwa die deutschen Leopards 2A4 und 2A6 von Panzerabwehrraketen "Kornet" und den noch älteren "Metis" abgeschossen.
"Sie setzen alles ein, was sie haben"
Die größte Bedrohung stellt für die Soldaten nach eigener Aussage die Artillerie dar, ganz zu schweigen von den Risiken für die Zivilbevölkerung. Natürlich ließ sich der Großteil der Einwohner noch zu Beginn des Sommers evakuieren.
"Manche gingen zu uns, manche zu den Ukrainern. Im Dorf selbst blieben ganz wenige, hauptsächlich Rentner. Als wir am 19. Juni einrückten, gab es noch acht von ihnen. Wir redeten lange auf sie ein, wegzufahren, doch sie weigerten sich. Und sie mit Gewalt wegbringen dürfen wir nicht", erklärt der stellvertretende Brigadekommandeur mit dem Funknamen Bootsmann.
Die Zivilisten versteckten sich in Kellern. Die Soldaten gaben ihnen Essen, Wasser, Medikamente und versorgten sie medizinisch. Schließlich stimmten die Zivilisten einer Evakuierung zu.
"Nur ein 80-jähriger Mann ging nicht weg. Er starb in meiner Anwesenheit am 10. August: Er ging in den Hof hinaus, um die Hühner zu füttern, und da kam eine ukrainische Granate. Und einige Tage zuvor wurde eine Frau durch einen Splitter getötet", seufzt der Offizier.
Am häufigsten kommen Streubomben, die viel tödlicher als die herkömmlichen sind.
"Die ukrainischen Truppen setzen alles ein, was sie haben. Egal, welches Abkommen welche Waffen verbietet. Wir haben Streumunition immer noch nicht eingesetzt", sagt Bootsmann. "Es ist sehr schwierig: für uns wie für sie. Manchmal graben wir, wie Maulwürfe, mannestiefe Schützengräben, und nach einiger Zeit sind es schon knietiefe Gartenbeete. Im freien Feld, wenn über dem Kopf Granaten explodieren, kann man nicht viel kämpfen."
Dennoch verließ die Brigade keine Stellung ohne Befehl, auch wenn sie einen weiten Weg zurücklegte. Zunächst befreite sie Melitopol, Berdjansk und Mariupol, später verteidigte sie den Frontabschnitt Süd-Donezk. Danach wurde sie nach Cherson verlegt.
"Als wir uns vom rechten Dnjepr-Ufer zurückzogen, verloren wir keinen einzigen Mann. Später stürmten wir die dortigen Inseln. Und nun sind wir seit über zwei Monaten bei Rabotino und verhindern einen ukrainischen Durchbruch."
Freilich sei die Marineinfanterie nicht auf Verteidigung spezialisiert, fügt der Offizier hinzu. Sie seien Stoßtruppen, und sie warten sehnlichst auf den Befehl zum Vorrücken.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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