Als im Februar 2022 der Ukrainekrieg ausbrach, befanden sich die politischen Beziehungen Russlands mit den USA bereits auf einer fast jahrzehntelangen Talfahrt. Mit dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine erreichte die Abwärtsspirale ihren vorläufigen Tiefpunkt. Die Gefahr eines Atomkriegs, die seitdem wieder droht, erinnert an die dunkelsten Tage des Kalten Krieges. In dieser konfrontativen Stellung mit den USA und ihren Verbündeten als Kriegspartei ist es zumindest nachvollziehbar, dass die vorherrschende Meinung im Westen Russland bzw. Präsident Putin an allem die Schuld in die Schuhe schiebt. Aus zurückliegenden Auseinandersetzungen mit Russland wird das Argument konstruiert, dass nur ein entschiedeneres Vorgehen der USA die heutige Tragödie hätte vermeiden können.
Der Russland-Experte und ehemalige Sicherheitsberater der US-Regierung von George W. Bush, Thomas Graham, vertritt hier eine andere Ansicht, wie er in einem Beitrag für die Zeitung The Nation kürzlich darlegte. Auch wenn er das antirussische Argument nicht vollständig zurückweist, hält er es doch für zu undifferenziert. Graham zufolge sollte man nicht davon ausgehen, dass der russische Präsident von Beginn seiner Amtszeit an entschlossen war, Europa "auf den Kopf zu stellen" und die USA "auf breiter Front herauszufordern". Nicht nur Moskau, auch Washington hatte die Wahl, in der Vergangenheit an vielen Punkten anders zu handeln.
Wenn die USA in den Bereichen europäische Sicherheit, Demokratieförderung und Terrorismusbekämpfung anders gehandelt hätten, so Graham, wäre Russland heute womöglich nicht auf Konfrontationskurs mit den USA. Putin wollte eben nicht den Konflikt mit den USA und die vergangenen 20 Jahre waren keine unaufhaltsame Entfaltung von "Putins Plan". Angesichts der heutigen Misere wäre es daher plausibler, von einem schädlichen Zusammenspiel amerikanischer und russische Entscheidungen auszugehen.
Beginn von dauerhaften, konstruktiven Beziehungen
Wie bekannt ist, stand Russland nach dem desaströsen Liberalisierungskurs der 1990er-Jahre vor einem historischen Scherbenhaufen. Am Vorabend seiner Amtsübernahme im Jahr 1999 schrieb der designierte Präsident Wladimir Putin, dass Russland zum ersten Mal seit 200 bis 300 Jahren vor der Realität stand, in die zweite oder dritte Reihe der Weltmächte zurückzufallen. Dass dies nicht geschehe, machte Putin zum Zielentwurf seiner Amtszeit. Russland sollte eine Großmacht bleiben, jedoch in Partnerschaft mit den USA, die als unbestrittene Supermacht aus dem Kalten Krieg hervorgegangen waren, nicht als ihr Feind.
Den USA waren Putins Hoffnungen auf eine russisch-amerikanische Partnerschaft durchaus willkommen. Für den damaligen US-Präsidenten George W. Bush war es die Gelegenheit, die Beziehungen mit Russland, "auf einen dauerhaften, konstruktiven" Weg zu bringen. Graham spricht hier aus Erfahrung. Immerhin war er von 2002 bis 2007 der führende Russland-Experte im Nationalen Sicherheitsrat von Bush Junior.
In den ersten Jahren von Putins Amtszeit erlebte Russland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Nach Jahren des politischen Chaos kehrte Ordnung zurück. Eine starke Rolle auf der politischen Weltbühne war noch nicht möglich. In der internationalen Politik konnte Russland aber bereits seine Rohstoffe in die Waagschale werfen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unterstützte Putin die USA bei ihrem Krieg gegen Afghanistan, half bei der Errichtung von Militärstützpunkten in Zentralasien und erlaubte Transporte durch den russischen Luftraum.
Im Mai 2002 gaben Bush und Putin eine gemeinsame Erklärung über den Rahmen einer strategischen Partnerschaft ab. Die Bereiche der Zusammenarbeit waren weitreichend. Sie betrafen die Bekämpfung von Terrorismus, Drogenhandel und organisierter Kriminalität, die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, den Friedensprozess im Nahen Osten und die nukleare Rüstungskontrolle. Der Moskauer Vertrag sah sogar vor, dass die USA und Russland die Zahl ihrer strategischen Nuklearsprengköpfe innerhalb eines Jahrzehnts um annähernd zwei Drittel reduzieren würden. Investitionen und Handel sollten vorangetrieben werden.
Kurz gesagt wurden Anfang der 2000er-Jahre günstige Voraussetzungen für einen Neuanfang der Beziehungen zwischen den USA und Russland gelegt, die auch zunächst zu positiven Ergebnissen für beide Länder führten. So vielversprechend der Neustart der russisch-amerikanischen Beziehungen aber war, so schnell welkte er wieder dahin. Putins historische Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 war nur ein lauter Knall, der die Beteiligten endlich aufwecken sollte, nachdem bereits einiges schiefgelaufen war. Denn eigentlich war es hier schon fast zu spät.
NATO-Osterweiterung – Putin war kompromissbereit
Häufig wird die erste und zweite Ost-Erweiterung der NATO 1999 und 2004 auf dem eurasischen Kontinent als Ursache für die Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen angeführt. Für Graham waren es aber nicht die Erweiterungswellen der NATO, die die Abwärtsspirale einleiteten. Russland hätte damals noch wenig gegen den Vormarsch des westlichen Militärblocks tun können. Trotzdem, Putin schien sehr kompromissbereit, reagierte Graham zufolge "relativ gelassen" und ließ sich mit der Einrichtung von NATO-Russland-Foren besänftigen.
"Putin war bereit, mit dem Bündnis zu leben."
Diese Bereitschaft endete endgültig mit dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, als die USA auf die Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens drängten – für Russland eine eindeutige rote Linie. Sowohl Georgien als der Teil des Kaukasus als auch die Ukraine waren für Russland Sicherheit und regionale Vormachtstellung entscheidend. Außerdem gehörten sie zu einer Region, in der Russland jahrhundertelang und unter großem Einsatz von Opfern seine Herrschaft aufbaute. Ohne Vormachtstellung im Kaukasus und in der Ukraine wäre der historische Großmachtstatus Russlands, den Putin erhalten wollte, ernsthaft bedroht gewesen, so Graham.
"Wie könnte der Kreml also etwas anderes sein als beunruhigt über Washingtons wachsendes Profil in seiner Nachbarschaft?"
Schon die vom Westen unterstützte "Orange Revolution" November 2004 ließ am Wert der Partnerschaft mit den USA stark zweifeln. Die amerikanische "Demokratieförderung" wurde in Moskau als Trick aufgefasst, um Washingtons geopolitische Interessen auf Kosten Russlands durchzusetzen. Neben dem Griff der USA nach der Ukraine und Georgien war es der lasche Umgang der USA mit tschetschenischen Terroristen, der die anfällige Grundlage der russisch-amerikanischen Beziehungen ins Wanken brachte.
Das Attentat auf die Schule in Beslan am 1. September 2004 durch kaukasische Terroristen war in den Augen vieler Russen eine Tragödie, vergleichbar mit dem 9. September 2001 in den USA. Moskau argwöhnte, ob Bushs Beileidsbekundungen echt waren; ob die USA die Terrorismusbekämpfung nicht als Deckmantel nutzten, um Russlands territoriale Integrität zu untergraben. Immerhin drängte Washington Moskau dazu, mit sogenannten gemäßigten Tschetschenen zu verhandeln. Vertreter der tschetschenischen Exilregierung, die gegen Russland kämpften und auch mit Terroristen zusammenarbeiteten, durften sich in den USA frei bewegen.
Misstrauen in Washington wächst
Gleichzeitig wurde die neu erwachende Stärke Russlands von Washington misstrauisch beäugt. Die Furcht vor einer Sowjetunion 2.0 befeuerte den amerikanischen Argwohn. Die Unterstützung der ehemaligen sowjetischen Staaten reichte den USA bald nicht mehr. Noch unter Bush wurden Maßnahmen ergriffen, die darauf zielten, den erstarkenden Einfluss Moskaus zu begrenzen – während Putin eigentlich eine engere Beziehung zu den USA aufbauen wollte.
"Putin hoffte, dass engere Beziehungen Washington dazu bewegen würden, zumindest implizit eine russische Einflusssphäre in der ehemaligen Sowjetunion anzuerkennen."
Einflusssphären unabhängig von der amerikanischen waren und sind in Washington jedoch nicht beliebt. Die von der Clinton-Regierung eingeleiteten Bemühungen zur Förderung des Baus von Öl- und Gaspipelines aus dem Kaspischen Becken wurden verstärkt, damit die Energieträger möglichst mit Zwischenstation nach Europa gelangten. Zudem unterstützte die Bush-Regierung die Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung der Staaten Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldau, ein Konkurrenzprojekt der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) mit ihren Mitgliedern Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan. Auch gegen Russlands Regelung des Transnistrien-Konflikts unter Einsatz eines bescheidenen russischen Militärkontingents intervenierte Washington.
Bald wurde zudem klar, dass die Militärpräsenz der USA in Zentralasien niemals vorübergehend sein sollte, sondern Teil eines ganzen Netzes von Stützpunkten sein würde, die über den gesamten Nahen Osten und andere Regionen verteilt wurden. Die Verstärkung der amerikanischen Präsenz im Herzen von Eurasien bot Washington Zugang zu einer ressourcenreichen Region und ermöglichte nebenbei die nachrichtendienstliche Aufklärung Westchinas. Auf Amerika zu setzen, schien sich nicht auszuzahlen, folglich änderte Putin seinen Kurs. Der Anfang vom Ende der russisch-amerikanischen Beziehungen nahm seinen Lauf.
"Unnötig": Die härtere Linie setzte sich fast immer durch
Für Graham wurde die Kursänderung an verschiedenen Maßnahmen Russlands sichtbar: Moskaus Vorgehen gegen vom Ausland unterstützte Organisationen, die die Grundlage für eine Farbrevolution bilden konnten, Versuche, die Militärpräsenz der USA in Zentralasien zu begrenzen, die Unterstützung Südossetiens und Abchasiens im Kaukasuskrieg 2008 und eine konsequentere Preispolitik im Erdgasexport. Angesichts dieser Aktionen beklagten sich Beamte der Bush-Regierung bald, dass der amerikanisch-russische Wettbewerb in der ehemaligen Sowjetunion die gesamten Beziehungen vergiftet habe. Graham:
"[Die US-Beamten] versäumten es, anzuerkennen, dass sie möglicherweise eine Rolle dabei gespielt hatten, das Gift zu kochen."
Laut Graham habe Putin mit der zunehmend gegen die USA und ihren Einfluss gerichteten Politik überreagiert. Aber dies sei der springende Punkt. Putin reagierte. Als überlegene Macht kam den USA auch die größere Verantwortung für die Ereignisse zu. Washington hätte anders handeln können, um das Misstrauen Moskaus nicht unnötig zu befeuern. Die Bush-Beamten seien sich der Alternativen durchaus bewusst gewesen. Doch in internen Debatten habe sich die härtere Linie fast immer durchgesetzt. Unnötig, wie Graham betont. Denn trotz eines beginnenden Aufschwungs habe Russland keine denkbare kurz- oder mittelfristige Bedrohung dargestellt.
Es wäre auch im Interesse der USA gewesen, wenn man Russland Zeit gegeben hätte, sich an die neuen geopolitischen Umstände anzupassen. Zur Entschärfung hätte die Neutralität der Ukraine unterstützt werden müssen, die "Programme zur Förderung der Demokratie" in Russland hätten zurückgefahren werden können. Auch eine Zusammenarbeit zwischen der NATO und der OVKS war denkbar. Durch die Politik der Ausdehnung war die russische Gegenreaktion jedoch vorprogrammiert.
Die Gelegenheit, Krisen einzudämmen und größere Kriege zu verhindern, wurde nicht genutzt, hält Graham fest. Zudem erscheint es angesichts des Krieges in der Ukraine und des völligen Bruchs zwischen den USA und Russland aktuell unmöglich, die Beziehungen wieder auf einen konstruktiven Weg zu bringen. Laut Graham wird es wahrscheinlich noch eine Weile so bleiben, zumindest, solange sich der Krieg in einer akuten Phase befindet. Aber sobald diese Phase vorüber ist, könnte sich eine neue Chance ergeben. Damit die Chancen der Zukunft nicht ungenutzt bleiben, müssten die USA die richtigen Lehren aus den fehlgeleiteten Bemühungen der Bush-Regierung ziehen.
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