Von Wladislaw Sankin
Die Nachricht über den Tod des russischen Geschäftsmanns und Chefs des Militärunternehmens "Wagner" Jewgeni Prigoschin und seines wichtigsten Kommandeurs Dmitri "Wagner" Utkin bei einem Flugzeugabsturz auf einer innerrussischen Flugroute traf die globale Medienlandschaft am Donnerstagabend schockartig. Ganz unerwartet kam sie jedoch nicht, denn Prigoschin lebte gefährlich, war ständig in den gefährlichsten Gegenden der Welt unterwegs und schaute oft dem Tod ins Auge.
Vor allem die Tatsache, dass Prigoschin sich während der Artjomowsk-Kampagne mit der russischen Militärführung medienwirksam anlegte und im Juni sogar einen bewaffneten Marsch seiner Kämpfer nach Moskau befehligte, machte ihn für den Westen und die Ukraine zu einem interessanten Akteur. So wurde die Erzählung über "die Rache Putins" für den angeblichen Verrat Prigoschins geboren, die nun vor unseren Augen in die Köpfe der Medienkonsumenten im Westen eingehämmert wird.
Aber auch in Russland gibt es genug Menschen, selbst im Pro-Putin-Lager, die die Rache- oder Abschreckungsoption bei einem mutmaßlichen Mordmotiv plausibel finden. Die Berichterstatter und Analysten müssen deshalb, wenn sie sachlich bleiben wollen, Ruhe bewahren und auf neue Informationen warten, die es erlauben, die Ursache des Absturzes genauer zu erklären. Bis dahin sind die Spekulationen nur ein sinnloser Hype und schizophrene Hysterie.
Als mögliche Ursachen für den Absturz kommen aktuell ein Abschuss, die Zerstörung des Flugzeugs durch einen an Bord versteckten Sprengsatz oder technisches Versagen infrage.
Der russische Militärexperte Wladislaw Schurygin erinnert in der auf seinem Telegram-Kanal geäußerten Analyse an den Absturz des Hubschraubers mit dem damals in Russlands sehr populären General Alexander Lebed an Bord im Jahre 2002. Lebed und sieben Menschen starben, zwölf überlebten. Da Lebed eine politische Karriere als erfolgreicher General und Regierungskritiker gemacht hatte, wurden jahrelang in den Medien die Gerüchte über einen Auftragsmord an dem "Rivalen Putins" geschürt. In Wirklichkeit gab es aber keine Verschwörung, der Hubschrauber stürzte wegen des Zusammenstoßes mit einer Stromleitung bei nebeligem Wetter ab. Die Tragödie war also ein Unfalltod. "Natürlich können wir auch die Version des technischen Versagens nicht ausschließen", sagte Schurygin in diesem Zusammenhang über den Absturz von Prigoschins Maschine.
Dann geht er allen anderen Versionen nach. Da bislang auf keinem der zahlreichen Augenzeugenvideos Spuren einer Boden-Luft-Rakete zu sehen waren, hält er einen Abschuss des Flugzeugs für wenig wahrscheinlich. Eine Bombe an Bord sei dagegen viel wahrscheinlicher. Mehrere Zeugen berichteten von zwei Explosionen, die zu hören gewesen sein sollen. Nach bislang nicht offiziell bestätigten Informationen "aus dem Umkreis der Ermittler" könnte ein Sprengsatz im Radkasten die Maschine zum Absturz gebracht haben. Aufgrund einer Detonation in der Luft stürzte das Heckteil des Flugzeugs mehrere Kilometer vom Rumpf ab. Einige Luftfahrtexperten halten jedoch eine Detonation im Inneren des Flugzeugs für wahrscheinlicher.
Der Militärexperte, der den Gründer des Militärunternehmens seit 2014 persönlich kannte, betonte, dass Prigoschin jede Menge Feinde und im Laufe der Zeit viel Blut vergossen hatte. Dass er mit neun Unbeteiligten jedoch von den russischen Geheimdiensten derart beseitigt werden konnte, hält er für äußerst unwahrscheinlich:
"Verdammt, am helllichten Tag, am russischen Himmel, in der Nähe von Moskau, und dann auch noch so, dass der Informationsraum in die Luft fliegt? Ich kann es nicht glauben! Prigoschin war gerade aus Afrika zurückgekehrt – niemand wurde daran gehindert, ihn dort 'auszuschalten'."
Der pensionierte Generalleutnant des Auslandsnachrichtendienstes Leonid Reschetnikow stellte im Gespräch mit Tsargrad fest, dass "kein Spezialdienst unseres Landes jemals eine Aktion durchführen würde, die irgendeine Beteiligung seiner Führung erkennen ließe".
Und was ist mit der Staatsführung? Hatte sie vielleicht doch Interesse an einer Beseitigung Prigoschins? Der Präsident habe Prigoschin sein Wort gegeben, dass ihm und seinen Kämpfern trotz menschlicher Opfer bei der regulären Armee während der kurzzeitigen Meuterei am 24. Juni keine Repressalien drohen, schreibt Schurygin dazu. Prigoschin habe ohnehin schon einen beträchtlichen Teil seines Besitzes und seines Ansehens verloren gehabt, und ihm nachzutreten würde weder für Putin noch für die russische Militärführung mehr Sinn machen. Außerdem berge so ein spektakulärer Anschlag in der Mitte Russlands viele unkalkulierbare Risiken, die die russische Führung auf keinen Fall eingehen würde.
Kalkulierbar ist dagegen der Nutzen, den ausländische Geheimdienste gerade aus einer derartig spektakulär ausgeführten Beseitigung Prigoschins schöpfen könnten. "Die CIA, der MI6, die französische DGSE und der ukrainische GUR könnten so etwas tun", sagt Schurygin. Er führt weiter aus:
"Die öffentliche Ermordung einer der medienwirksamsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist ein schwerer Schlag für das russische kollektive Unterbewusstsein. Auch hier geht es um die Beseitigung eines gefährlichen Feindes, der auf die Umverteilung Afrikas aus ist.
Die Ermordung Prigoschins ist eine Provokation der 'Zwietracht' in der russischen militärischen und politischen Führung und eine emotionale Explosion im militärischen Umfeld, wo Prigoschin und Wagner viele Anhänger und Bewunderer haben. Ein perfekter Treffer an der Schmerzgrenze der Gesellschaft!"
Ähnlich bewertet auch der Politikwissenschaftler und Medienexperte Semjon Uralow den Schaden für Russland. Er weist darauf hin, dass Prigoschin ein starker und unabhängiger medialer Akteur war, der die Probleme an der Front und in der Gesellschaft offen und frech anzusprechen wagte. Er stellte nicht nur eine äußerst kampffähige Privatarmee zusammen. Er leistete effektive Medienarbeit und war gewiefter Propagandist. "Solche Naturtalente können nicht gezielt gezüchtet werden, sie brauchen Jahre, um zu keimen. Dies ist ein großer Verlust für die Fronten im kognitiven Krieg. Russland hat nun keine Medienfigur mehr, die bedrohlich (nach außen) wirken könnte", schrieb Uralow auf seinem Telegram-Kanal.
Zudem wäre ein solcher Anschlag auch ein Zeichen der Schwäche der Staatsmacht. "Ein Terroranschlag solchen Ausmaßes, egal, wie er realisiert wird, wird von den Menschen als Schwächung der Kontrolle über die Eliten und der Kontrollierbarkeit der Eliten interpretiert", schreibt Tsargrad.
Für den geopolitischen Analytiker und Zukunftsforscher Sergej Pereslegin ist die Tragödie im Luftraum von Twer eine strategische Niederlage Russlands – ein Ereignis, das mit dem Scheitern der Mondlandung wenige Tage zuvor wie "bestellt" zusammenfällt. In einem Interview kam er in seinen Überlegungen zu dem Schluss, dass nur Frankreich einen eindeutigen geschäftlichen Nutzen an der Beseitigung Prigoschins hatte. Sie könnte Paris helfen, die antifranzösische Putschregierung in Niger gefügiger zu machen oder, die Schwäche Wagners nach dem Tod von dessen Führung nutzend, gar eine Intervention in das afrikanische Land zu wagen. In den letzten Wochen war Prigoschin wieder verstärkt im Afrika-Geschäft aktiv, was Putin in seinem Statement zu dem Absturz auch betonte.
In der russischen Expertenschaft gibt es kaum eine Stimme, die im mutmaßlichen Anschlag auf Wagners Führungsriege irgendeinen Nutzen für den Präsidenten und das Land erkennen könnte (moralisch Degenerierte aus der russischen Exil-Opposition, die auf Youtube in Champagner-Stimmung angesichts der Tragödie jubeln, einmal beiseitegelassen). In der breiten Bevölkerung löste die traurige Nachricht eine Welle der Anteilnahme aus. An vielen Orten im ganzen Land, die mit dem Militärunternehmen zu tun haben, etwa vor der Wagner-Zentrale in Sankt-Petersburg, werden derzeit zahlreiche Blumen und Kränze niedergelegt. Der Politiker, Geschäftsmann und gefragte Experte Oleg Tsarjow schrieb am Morgen nach der Tragödie auf seinem Telegram-Kanal:
"Das ist ein schwerer Schlag für das Land. Vielleicht ist es ihm noch gar nicht bewusst. Prigoschin war Russlands Joker, der es dem Land ermöglichte, auf der Weltbühne außerhalb der Regeln zu spielen. Unsere Feinde jubeln heute. Wir sind in Trauer."
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