Von Alexei Sakwaskin und Jelisaweta Komarowa
Die mögliche ukrainische Gegenoffensive ist ein großes Thema in den jüngsten Nachrichten. Ukrainische und westliche Medien und Politiker veröffentlichen und verkünden unterschiedlichste Angaben und Spekulationen.
So behauptete die stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine Anna Maljar in einer Fernsehsendung am 19. April, dass die ukrainische Armee sich de facto bereits in einer Offensive befinde und dass es falsch wäre, auf ein konkretes Datum zu warten.
Wie die Politikerin erklärte, impliziere die Gegenoffensive eine ganze Reihe von Maßnahmen, die bereits vom ukrainischen Militär ergriffen würden. Es handele sich um die Ausbildung von Truppen und Reserven und um das Entwerfen von unterschiedlichen Kampfszenarien.
Die kurzfristige Perspektive
Laut den vermutlichen geheimen Unterlagen des Pentagon, die vom 27. Februar bis 1. März datiert sind und die im April den Medien zugänglich wurden, ist die Gegenoffensive für den 30. April geplant. Dies berichtete die US-Zeitschrift Newsweek nach einer Analyse von über 40 Dokumenten.
Die übrigen westlichen Medien und Amtsträger verzichten auf die Ankündigung eines konkreten Datums der Gegenoffensive, bemerken aber, dass diese eine Frage der nächsten Zeit sei.
So gab der ukrainische Ministerpräsident Denis Schmygal auf einer Pressekonferenz in Washington am 15. April bekannt, dass die ukrainische Gegenoffensive mit Unterstützung der USA in den kommenden Tagen beginnen könnte.
Die mögliche Gegenoffensive war eines der Hauptthemen im Interview des ukrainischen Botschafters in London Wadim Pristaiko mit Newsweek am 18. April. Damals beklagte der Diplomat eine "ungesunde Obsession" mit dieser Idee.
Als er von den Perspektiven eines ukrainischen Angriffs sprach, erklärte Pristaiko, dass Russlands Streitkräfte aus ihren Fehlern lernen, weswegen Kiew eine effektivere Operation durchführen müsse, als es bei Charkow im September 2022 der Fall gewesen war. Darüber hinaus schloss der Diplomat nicht aus, dass das ukrainische Militär keine Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen könnte.
Dennoch zeigt die ukrainische Regierung sich von der Notwendigkeit der Gegenoffensive überzeugt. Mitte April bemerkte der Leiter des ukrainischen Militärnachrichtendienstes Kirill Budanow in einem Interview mit dem Fernsehkanal ABC, dass Kiew einen militärischen Erfolg dringend benötige. Sollte ein solcher ausbleiben, würden die westlichen Partner an der Zweckmäßigkeit der Unterstützung der Ukraine zweifeln.
Im März sprach der Befehlshaber der ukrainischen Landstreitkräfte Alexander Syrski von den Plänen einer Offensive. Ihm zufolge ist eine Fortsetzung der Kämpfe um Artjomowsk (Bachmut) für das ukrainische Militär von Vorteil. Laut Syrski könnten die ukrainischen Streitkräfte dies für eine spätere erfolgreiche Gegenoffensive ausnutzen.
Indessen erklärte der Oberst a. D. Anatoli Matwijtschuk in einem Kommentar für RT, dass die Lage bei Artjomowsk Syrskis Darstellung gänzlich widerspricht. Matwijtschuk betonte:
"Gerade wegen der erbitterten Kämpfe um Artjomowsk ist Kiew nicht in der Lage, einen schlagkräftigen Verband für eine groß angelegte Gegenoffensive zu bilden. Es verbraucht zu viele Menschen- und Materialreserven, um die vorrückende Wagner-Gruppe aufzuhalten. Seit Ende des vergangenen Jahres haben wir vielen Verbänden der ukrainischen Streitkräfte, darunter Eliteeinheiten, empfindliche Verluste hinzugefügt."
In Bezug auf das Datum der möglichen Gegenoffensive vermutete der Experte, dass sie mit den groß angelegten Manövern der NATO in Europa Defender 23 zusammenfallen könnte. Der Beginn der Manöver ist für den 22. April geplant, Armeen aus 25 Ländern werden daran teilnehmen. Matwijtschuk vermutete:
"Es ist nicht ausgeschlossen, dass das ukrainische Militär die Ablenkung eines Teils der russischen Streitkräfte durch Defender 23 auszunutzen versucht."
Risiko einer Unterschätzung
Nach unterschiedlichen Angaben könnte die ukrainische Armee über Dutzende oder gar Hunderte und Tausende Kämpfer verfügen, um die Front zu durchbrechen.
Laut den vermutlich geleakten geheimen Dokumenten des Pentagon sollen für den Durchbruch neun Brigaden eingesetzt werden, die das 10. Ukrainische operative Korps bilden.
Diese Verbände sind vollständig mit NATO-Waffen ausgerüstet. Planmäßig sollen sie insgesamt 253 Panzer, 381 gepanzerte Fahrzeuge, 480 Kraftwagen, 147 Artilleriegeschütze und 571 Fahrzeuge des Typs HMMWV erhalten.
Anfang April berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass das ukrainische Innenministerium acht neue Sturmbrigaden von einer Gesamtstärke von 40.000 Mann aufstelle, um sie bei einer Gegenoffensive in den kommenden Wochen oder Monaten einzusetzen.
Zuvor hatte der Chef der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin wiederholt erklärt, dass die Ukraine etwa 200.000 Rekruten ausgebildet habe. Am 9. April sagte er bei einem Treffen mit den Aktivisten der Bewegung "Cyberfront Z", dass die Menschenreserven des Kiewer Regimes "laut einigen Quellen" bis zu 400.000 Mann zählen können. Prigoschin betonte, dass der Gegner nicht unterschätzt werden darf.
Nach Angaben der Zeitung The Washington Post führt die ukrainische Regierung eine weitere Welle der Mobilmachung durch und verstärkt die Agitation unter der Bevölkerung. Die Journalisten bemerkten, dass im Jahr 2023 fast 250.000 Ukrainer 18 Jahre alt werden, sodass viele von ihnen eingezogen werden könnten.
Zuvor hatten die Autoren des Telegram-Kanals Wojennaja Chronika (russisch: Militärchronik) auf die Notwendigkeit verwiesen, Kiews Vorbereitungen auf eine mögliche Gegenoffensive ernst zu nehmen.
Insbesondere berichteten die Journalisten nach einer Analyse der vermutlich geleakten Pentagon-Dokumente, dass deren Verfasser zahlreiche falsche Schlüsse gezogen hätten. Nach Angaben von Wojennaja Chronika sind Angaben zur Kampfbereitschaft ukrainischer Truppen verfälscht und die erwähnte Anzahl der Militärtechnik "nicht aktuell". Der Kanal erklärte:
"Beispielsweise sollen von den 109 Schützenpanzern M2 Bradley, die der Ukraine geliefert wurden, angeblich nur 99 an der Offensive teilnehmen. Dabei sind die Maschinen nicht über Brigaden verteilt und zu einem einzigen Verband zusammengefasst, nämlich die 47. Mechanisierte Brigade, die über keine schwereren Kampfpanzer verfügt. Statt der sowjetischen T-72 oder T-64BW ist diese Brigade lediglich mit slowakischen T-55S mit Geschützen des Kalibers 105 Millimeter ausgerüstet, die schwerlich bei einer groß angelegten Offensive eingesetzt werden können."
Die Journalisten äußerten die Ansicht, dass die geheimen Dokumente nicht von Militärs, sondern von Zivilisten, "vermutlich proukrainischen Analytikern" angefertigt und verbreitet wurden, und führten aus:
"Das Ziel dieses Leaks könnte die Verringerung der realen Stärke der kampfbereiten ukrainischen Verbände oder die Ablenkung von anderen Ereignissen im Zusammenhang mit der echten Offensive sein."
Der Experte des Russischen Instituts für strategische Studien Sergei Jermakow erklärte RT, dass zahlreichen veröffentlichten oder geleakten Angaben nicht zu vertrauen sei. Bei ihren tatsächlichen Autoren könnte es sich um Geheimdienste der Ukraine oder der westlichen Staaten handeln.
Der Analytiker erinnerte daran, dass im Vorfeld der für Kampfhandlungen günstigen Frühlings- beziehungsweise Sommerperiode die USA und ihre Verbündeten die Ukraine aktiv mit schweren Waffen und anderer Ausrüstung belieferten. So erhielt das Kiewer Regime Leopard-Panzer, Selbstfahrlafetten M109L und diverse Panzerfahrzeuge. In nächster Zeit wird die Lieferung von sowjetischen Jagdflugzeugen MiG-29, französischen Selbstfahrlafetten CAESAR und Luftabwehrsystemen der Typen NASAMS, IRIS-T, Patriot und SAMP/T erwartet.
Hohe Ansprüche
In einem Gespräch mit RT vermutete der Militärexperte Alexei Leonkow, dass das Kiewer Regime über genügend Ressourcen für eine Offensive an mehreren Frontabschnitten verfüge oder diese Ressourcen in kurzfristiger Perspektive erhalten werde. Er erklärte:
"Die NATO rüsten das ukrainische Militär auf, und sie tut es nicht schlecht. Im Prinzip sollte unser Gegner über genügend Personal und Militärgerät verfügen, um eine Offensive an mehreren Frontabschnitten zu beginnen. Dabei wird der Hauptangriff an einem einzigen Abschnitt durchgeführt, an anderen finden Ablenkungsschläge statt."
Unter den Zielen einer möglichen ukrainischen Gegenoffensive hob Leonkow den nördlichen und den südlichen Frontabschnitt hervor. Im Norden könnte die Ukraine die russischen Stellungen bei Kremennaja, Swatowo und Kupjansk angreifen sowie versuchen, Ausfälle in die Gebiete Belgorod und Brjansk zu unternehmen. Leonkow sagte:
"Die Landschaft am nördlichen Frontabschnitt ist wegen ihrer Wälder und Geländeerhebungen im Hinblick auf Tarnung vorteilhaft, allerdings ist es schwierig, dort schwere Technik einzusetzen. Im Süden ist die Lage ganz anders. Dies ist die am meisten panzergefährdete Richtung, allerdings sind dort alle Ansammlungen von Technik gut sichtbar und können von russischen Streitkräften angegriffen werden."
Die anspruchsvollste Aufgabe für das ukrainische Militär wäre eine Einnahme des Kernkraftwerks von Saporoschje und ein Vorstoß zur Krim mit anschließender Unterbrechung der Landbrücke, die die Halbinsel mit dem restlichen Russland verbindet, so Leonkow.
Die gleiche Ansicht äußerte im Hinblick auf die Geografie der möglichen ukrainischen Angriffe auch Matwijtschuk. Dabei erklärte der Experte, dass das Kiewer Regime über die nötigen Ressourcen dafür nicht verfüge und diese auch kaum erhalten werde.
Laut Matwijtschuk wird Kiew zur Unterstützung von größeren Landverbänden mindestens 100 bemannte Luftfahrzeuge – Kampfhubschrauber und Flugzeuge wie die F-16 – sowie eine große Menge an Luftabwehrsystemen benötigen.
Die westlichen Medien, darunter die Zeitung Financial Times, meldeten ebenfalls den Mangel an Technik für eine größere Offensive gegen die russischen Stellungen. Nach Angaben der Zeitung benötigt das ukrainische Militär dringend Luftabwehrkomplexe, Munition und Jagdflugzeuge, um die Luftüberlegenheit zu erlangen.
Matwijtschuk zufolge könnte das Problem des Fehlens effektiver Mittel zur Bekämpfung der russischen Luftstreitkräfte dem Westen und Kiew durchaus bewusst sein, zumal die russischen Flugzeuge inzwischen steuerbare Bomben einsetzen und damit Luftschläge durchführen können, ohne in den gegnerischen Luftverteidigungsbereich einzudringen. Matwijtschuk erklärte:
"Ohne eine Deckung aus der Luft riskieren alle gegnerischen Truppenverbände in der Nähe der Frontlinie, zu einer Zielscheibe für unsere Luftstreitkräfte zu werden. Und hierbei wird die Anzahl der zum Durchbruch unserer Verteidigung versammelten Kräfte keine Rolle spielen."
Nach Meinung des Experten sei das ukrainische Militär wegen des Risikos von hohen Verlusten eher in der Lage, Ablenkungsschläge in den Gebieten Cherson und Saporoschje auszuführen und Sabotagegruppen in die westlichen Regionen Russlands zu schicken. Matwijtschuk sagte:
"Meiner Meinung nach wird es wegen des Risikos einer faktischen Niederlage keine ernsthaften Versuche geben, das Blatt zu wenden. Sollte die mehrmals angekündigte Gegenoffensive in den kommenden Wochen dennoch beginnen, wird der Gegner empfindliche Verluste erleiden, und Russland die Möglichkeit für einen Vernichtungsschlag erhalten."
Auch Leonkow vermutete, dass das Kiewer Regime bei einem Versuch, die russische Verteidigung zu durchbrechen, alle eingesetzten Landstreitkräfte verlieren könnte. Dennoch könne dieses Risiko nach Ansicht des Experten Kiew nicht vom Versuch einer Großoffensive abhalten. Leonkow sagte:
"Der Gegner verfügt über Kräfte, um die Gegenoffensive zu beginnen. Das muss man klar verstehen. Dass der Preis einer Niederlage zu hoch sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Dies wäre möglicherweise die Vernichtung sämtlicher beim Durchbruch eingesetzten Truppen und Technik."
Vom Risiko hoher Verluste sprach in seinem Interview mit Newsweek auch Pristaiko:
"Die Anzahl von Soldaten, die in Großbritannien ausgebildet werden, wird wachsen. Ich weiß, dass wir diese Menschen vorbereiten müssen. Und ich hoffe, dass einige von ihnen überleben."
Nach Meinung Jermakows ist das Risiko einer "Totalniederlage" Kiew und dem Westen bewusst. Allerdings werde die Lage vom Wahlkampf in den USA beeinflusst. Auch Wladimir Selenskijs Regime versuche, seinen westlichen Schutzherren zu demonstrieren, dass die umfangreiche Militärhilfe der NATO nennenswerte praktische Ergebnisse bringen könne. Jermakow erklärte:
"Washington und Kiew haben sehr große und realitätsferne Ansprüche. Für die Biden-Administration – den Hauptgeldgeber des Kiewer Regimes – ist es wichtig, zu zeigen, dass die USA mit den Händen der Ukrainer Russland eine Niederlage beibringen können. Sonst wird es für die Demokraten sehr schwierig sein, die hohen Ausgaben für die Hilfe an die Ukraine zu begründen. Selenskij und Saluschny verstehen ebenfalls, dass die Unterstützung stark beschnitten wird, wenn sie keine Erfolge vorweisen."
Eine andere Sorge für den Westen und Kiew bereitet nach Jermakows Ansicht der Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Gebiet der militärischen Spezialoperation. Dabei besuchte der russische Staatschef den Stab der Militärgruppierung Dnjepr am Frontabschnitt Cherson und den Nationalgardestab Ost. Jermakow schlussfolgerte:
"Den Besuch des Oberbefehlshabers könnte als ein Signal angesehen werden, dass die russische Armee bereit ist, dem Gegner Überraschungen zu bescheren und dass die sogenannte Gegenoffensive für das ukrainische Militär zu einer Falle werden könnte."
Übersetzt aus dem Russischen.
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