Chodorkowski warnt Westen: "Verlorener Ukraine-Krieg ist Sprungbrett für Krieg gegen China"

Chodorkowski versucht mit Präsenz in westlichen Medien die Wahrnehmung Russlands und einer russischen Opposition aktiv mitzugestalten – mit wechselndem Erfolg und irrlichternder Glaubwürdigkeit. Auf neun Wörter des Wahns folgt nur ein Wort der Vernunft. Ist diese Strategie beabsichtigt?

Von Elem Chintsky

Im letzten Monat gab es verschiedene Auftritte des russischen Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, der mit mindestens 15 Milliarden US-Dollar Vermögen vor seiner 2003 in Russland angetretenen Haftstrafe der reichste Mann des Landes war. Chodorkowski war damals wie heute politisch sehr aktiv und wurde von der prowestlichen Opposition sogar als möglicher Anwärter für den Präsidentschaftsposten gehandelt, bevor er für Korruption in Milliardenhöhe verurteilt wurde. Der russische Oppositionelle und Schachgroßmeister Garri Kasparow kürte Chodorkowski jüngst erneut als angebliche Schlüsselfigur im "Russland der Zukunft".

Mit den politischen Aussagen Chodorkowskis der letzten Wochen kommen immer wieder dieselben Fragen auf, über die man im Unklaren bleibt. Für den interessierten Betrachter ist von außen zwischen Mythomanie und kognitiver Dissonanz ein Unterschied schwer erkennbar. Mit der Crème de la Crème russischer Opposition auf Welttournee kann man erneut erst einmal mutmaßen, zu welchem Lager Michail Chodorkowski wohl gehört.

Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass Mythomanie ein pathologisches, oft zwanghaftes Lügen verschiedener Intensität, Frequenz und Dauer bezeichnet – und sich auf alle Lebensbereiche ausweiten kann. Ganze Außenpolitik-Strategien können heute darauf fußen, aber auch ein kurzes Gespräch am Kiosk kann davon geprägt sein. Mythomanie wird nicht nur aufgrund pragmatischer Überlegungen der Selbstbereicherung praktiziert, sondern noch eher einfach um des Lügens selbst willen. 

Kognitive Dissonanz hingegen bezeichnet einen Gemütszustand, in dem eine gewisse Weltanschauung bewusst und selbstsicher vertreten wird, wobei sich die Person jenseits jeder normalerweise zu erwartenden Vernunft weigert, etwas nachzujustieren, sobald neue Information, neue Daten, neue Fakten, die bisherige Position widerlegen oder anfechten oder zur strengeren Neubewertung einladen.

Aus seinem Gespräch mit der Washington Post geht hervor, dass Chodorkowski die USA weiterhin als unmissverständliche, schier allmächtige Weltpolizei sieht, die an ihrer moralischen und monetären Dominanz festhalten müsse. Er spricht sogar davon, dass ein für den Westen in der Ukraine verlorener Krieg noch Schlimmeres nach sich ziehen wird – nämlich einen Krieg des Westens im asiatischen Pazifik, mit der Volksrepublik China als Opponenten. An dieser Stelle sollte man Chodorkowski nicht ein wohlverdientes Lob verweigern, denn mit dieser Analyse könnte er sogar Recht haben.

Solche Einschätzungen werden aber wankelmütig an anderer Stelle wieder abgelöst von klassischen Wahnvorstellungen. So erzählte Chodorkowski britischen Medien von der Notwendigkeit "eines Dritten Weltkrieges" – als der einzigen Möglichkeit, den "russischen Diktator aufzuhalten". Zum einen behauptet er, dass "Putin bis zum Tod" kämpfen werde, zum anderen ignoriert er den Fakt, dass Russland das größte Atomwaffenarsenal der Welt besitzt, samt der fortschrittlichsten Hyperschall-Flugkörper-Technologie.

Seit seiner Entlassung im Jahr 2013 ist Chodorkowski mit seinen Medienprojekten einer der aktiveren und bekannteren Anführer der Exil-Opposition Russlands. Nun werden sogar Bemühungen eingeleitet, ihn als ein "hohes Mitglied" einer russischen "Exil-Regierung" darzustellen.

Im Gespräch mit dem Schweizer Medienportal Blick.ch erklärte aber der politische Aktivist, dass man nicht umhinkomme, den eigentlichen Systemwechsel in Russland selbst zu erzwingen. Nach einer Niederlage gegen die Ukraine müsse Russland ein "kompletter Neuaufbau" ereilen, und zwar "nach föderalistischem Modell – ähnlich wie die Schweiz", so der Oppositionelle. Des Weiteren negiert er Absichten, etwa selbst Präsident im Kreml werden zu wollen – dieses Amt müsse gänzlich abgeschafft werden. Zu dem Ausgang des Krieges nennt der Mann den Schweizern drei vermeintlich glaubwürdige Optionen: Entweder Putin stirbt, woraufhin die russische Führung (mit ihren militärischen Absichten) kollabieren würde. Zweitens, der Krieg geht auf unbestimmte Zeit mit großen Verlusten weiter – mit unklarem Ausgang. Die dritte Option, hier als Zitat:"Der Westen rüstet die Ukraine mit jenen Mitteln aus, die sie braucht, um den Krieg schnell zu beenden. Es muss sich um eine Art Hilfe handeln, bei der Putin weiß, dass er verlieren wird." 

Was das aber wohl für eine Art Hilfe sein soll und ob sich Chodorkowski der jetzt schon schwankenden Ressourcen der NATO überhaupt bewusst ist, geht aus seiner eindimensionalen Einschätzung nicht hervor.

Den Briten erzählt Chodorkowski, dass "Putin bis zum Tod kämpfen wird" und nur ein "Dritter Weltkrieg mit voller Teilnahme der NATO den Diktator aufhalten" könne, während er den Schweizern erzählt, dass bei "genügend geleisteter Hilfe der besonderen Art" an die Ukraine, "Putin wissen wird, dass er verloren hat" und der Konflikt auf diese Weise erfolgreich beendet werde. Vor den Schweizern gesteht er ein, dass "ein Atomkrieg" niemandem nützen würde – den britischen Boulevard-Blättern erzählt er hingegen vom "Dritten Weltkrieg" und der Notwendigkeit eines offiziellen NATO-Kriegseintritts. All diese Äußerungen wurden innerhalb weniger Wochen getroffen, zeigen aber, dass Chodorkowski keine kohärente, stark selektive Medienstrategie in seinen Auftritten verfolgt.

Wie erwähnt kann diese Inkohärenz von chronischer kognitiver Dissonanz angetrieben sein – oder von Mythomanie. Letzten Endes ist es aber irrelevant, welches der beiden Phänomene infrage kommt. Wichtig ist, ob halbwegs unvoreingenommene Einschätzungen der Lage kommuniziert werden oder nicht. Bisher war sein Gespräch mit der Washington Post noch das fundierteste – hatte er doch dort eine ukrainische Niederlage zumindest als möglich angesehen und glaubhafte Prognosen der weiteren Ereignisse für andere geopolitische Dampfkessel skizzieren können.

Als gelegentlicher Medienkonsument ist es umso schwieriger, nüchterne Urteilsfähigkeit walten zu lassen, wenn Chodorkowski in dem Strudel der westlichen Meinungsbildung über "Putins Russland" selbst eine ähnliche Rhetorik einsetzt, um sich daran zu beteiligen. Hatte er doch selbst oft, vor allem zu Beginn der militärischen Spezialoperation, behauptet, Putin habe "den Bezug zur Realität verloren". Diesen Vorwurf können wir heute mit Fallbeispielen auch an die Adresse Chodorkowskis richten.

Ein liberaler Stein, den nicht einmal die "richtigen Russen" stemmen können

Die dynamische Dreifaltigkeit der russischen Opposition – Chodorkowski, Kasparow und Alexei Nawalny, Letzterer vor Ort vertreten durch seine Ehegattin – sprachen als willkommene Gäste bei der Münchener Sicherheitskonferenz vor. Da man keine hohen Vertreter der russischen Regierung einlud, lässt das die weiter oben erwähnte Vermutung zu, dass man in den westlichen Macht-Logen gerne bereits eine nicht demokratisch legitimierte "russische Exil-Regierung" gerne vom Ausland aus stufenweise "legitimieren" würde. 

Aber woher kann man schon jetzt wissen, dass deren Anliegen als politisches Projekt gescheitert ist?

Einen Hinweis darauf gibt das Zitat einer gut in Kiew vernetzten ukrainischen Rechtsanwältin namens Lesja Wassilenko – zu ihren Bedingungen, die an die russischen Exil-Reformer gerichtet wurden:

"Um ein Russe zu sein, dem wir vertrauen können, muss man wirklich beweisen, dass man nicht nur gegen das eigene Regime in Russland ist, sondern auch gegen den Krieg in der Ukraine und dass man für all die Werte steht, die die Ukraine verteidigt – nämlich die territoriale Integrität, die Unabhängigkeit der Ukraine innerhalb der international anerkannten Grenzen."

Hinzu kommen noch die eigentlichen Werte, die Wassilenko ganz vergessen hat zu erwähnen. Nämlich die, welche der NATO-Westen perspektivisch von Kiew fordert: LGBT-Propaganda für alle Altersklassen, "Ehe für alle", Dekonstruktion der klassischen Familieneinheit und natürlich der komplette Ausverkauf des ukrainischen Landes an westliche Finanzkonglomerate. Trotz großer westlicher Bemühungen gibt es für diese lange Wunschliste, übertragen auf die Russischen Föderation, kein wahlberechtigtes Zielpublikum. Und genau deswegen kann das alles getrost als Hirngespinst verworfen werden.

Im Fall Chodorkowskis und seiner politischen Leidensgenossen ist eindeutig eine stark verzerrte Wirklichkeitskonstruktion am Wirken – egal, ob vorsätzlich erlogen oder aufrichtig von denen geglaubt.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.

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