Auch am dritten Tag nach der Ankündigung des Rückzugs der russischen Armee von der rechten (nordwestlichen) Flussseite der Region Cherson herrscht in den Debatten und Analysen in der russischen und oppositionellen ukrainischen Gesellschaft keine Einigkeit darüber, wie das nunmehr vollzogene Manöver zu interpretieren ist, und welche Auswirkungen es nach sich ziehen wird.
Der russische Präsident Wladimir Putin persönlich hat sich dazu bislang nicht geäußert. Die offizielle Kommunikation des russischen Staates beschränkt sich auf die am Mittwochnachmittag im Fernsehen gezeigte Befehlserteilung durch den Verteidigungsminister Sergei Schoigu an den Kommandierenden der im Rahmen der militärischen Sonderoperation in der Ukraine eingesetzten Truppen.
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, antwortete am Freitagvormittag auf Fragen von Journalisten zu dem Thema. Er sagte unter anderem, Moskau betrachte das gesamte Gebiet Cherson nach wie vor als verfassungsmäßigen Teil der Russischen Föderation und bedauere die Entscheidung über die Aufnahme nicht. Kiews Positionen ließen es zudem nicht zu, die Ziele der militärischen Sonderoperation auf diplomatischem Weg umzusetzen, weshalb diese weitergehen werde.
Der frühere Präsident Russlands, Dmitri Medwedew, äußerte sich am Freitag zu dem Vorgang. Auf seinem Telegram-Kanal erklärte er, alles werde "nach Hause zurückkehren":
"Der Begriff der territorialen Souveränität ist in unserem Land nicht obsolet geworden. Alles wird nach Hause zurückkehren. An die Russische Föderation.
Der Alarmismus der Betroffenen ist verständlich, Hysterie und Panikmache hingegen nicht. Geben Sie unseren Feinden in nah und fern keinen Grund zur Freude. Und erinnern Sie sie öfter an die Größe und Unbegrenztheit der russischen Welt."
Zwei russische Politiker, die als ausgewiesene Vertreter einer harten Linie gegenüber der Ukraine gelten, der Geschäftsmann und Gründer der sogenannten "Wagner"-Privatarmee Prigoschin sowie der tschetschenische Republikchef Ramsan Kadyrow äußerten Verständnis für die Entscheidung zum Rückzug auf das linke Flussufer.
Prigoschin sagte zu Journalisten:
"Die Entscheidung, die Truppen vom rechten Dnjepr-Ufer abzuziehen, war nicht einfach. Aber sie zeugt von der Bereitschaft des Kommandos, Verantwortung für das Leben der Soldaten zu übernehmen. Der Rückzug mit minimalen Verlusten ist eine Leistung Surowikins, die den russischen Waffen zu keiner Ehre gereicht, aber die persönlichen Qualitäten des Kommandeurs unterstreicht, der wie ein Mann gehandelt hat, der keine Angst vor der Verantwortung hat."
Kadyrow wiederum schrieb bei Telegram:
"Ich stimme Herrn Prigoschin in Bezug auf die Entscheidung von Surowikin vollkommen zu. Jewgeni Wiktorowitsch bemerkte sehr treffend, dass Surowikin tausend Soldaten in einer faktischen Umzingelung gerettet hat. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile traf General Surowikin eine schwierige, aber richtige Entscheidung zwischen sinnlosen Opfern für lautstarke Erklärungen und der Rettung unbezahlbarer Soldatenleben.
Cherson ist ein sehr schwieriges Terrain ohne die Möglichkeit einer stabilen, regelmäßigen Versorgung mit Munition und der Bildung einer starken, zuverlässigen Nachhut. Warum wurde dies nicht schon in den ersten Tagen des Sondereinsatzes getan? Das ist eine andere Frage. Doch in der jetzt gegebenen schwierigen Situation handelte der General weise und weitsichtig – er evakuierte die Zivilbevölkerung und gab den Befehl zur Umgruppierung.
Es gibt also keinen Grund, von einer 'Kapitulation' Chersons zu sprechen. Niemand hat sich 'ergeben'. Und Surowikin schont seine Soldaten und nimmt eine strategisch günstigere Position ein – bequem und sicher. Jeder wusste, dass Cherson von den ersten Tagen der Sonderoperation an ein schwieriges Schlachtfeld war. Die Soldaten meiner Einheiten berichteten ebenfalls, dass es sehr schwierig war, in diesem Gebiet zu kämpfen. Ja, es kann gehalten werden, es kann etwas Munition eingebracht werden. Aber der Preis dafür werden viele Menschenleben sein. Und eine solche Prognose passt nicht zu uns. Deshalb denke ich, dass Surowikin wie ein echter Kampfgeneral gehandelt hat, der keine Angst vor Kritik hat.
Er ist für die Menschen verantwortlich. Er weiß es am besten."
Die prominente ukrainische Anwältin und Menschenrechtlerin Tatjana Montjan unterstützt die Entscheidung Surowikins ebenfalls und warnt vor Panik und Endzeitstimmung in diesem Zusammenhang:
"In Cherson ist das geschehen, was ich schon vor mehreren Monaten vorhersagte. Es gab zwei Optionen für die Entwicklung dort, und ich war diesbezüglich ehrlich: eine schlechte und eine noch schlechtere.
Die schlechte Option war der Rückzug hinter den Dnjepr, bevor die ukrainische Armee genügend Ausrüstung und Munition für eine Großoffensive gesammelt hatte. Die schlechtere Option war, bis zum Winter mit Pontonüberfahrten über den zugefrorenen Dnjepr zu warten und tapfer zu sterben oder 30–40 Tausend gefangen genommene russische Soldaten hinzunehmen. 😨
Es gab keine anderen Möglichkeiten. Dies war seit dem Sommer bekannt, und die einzige Frage war, ob die militärische Logik oder die politisch-propagandistische Logik siegen würde.
Wie ich geschrieben habe, hätte das Militär gezwungen werden können, bis zum Ende durchzuhalten und die Schützengräben mit immer neuen Einheiten zu sättigen. Und ich habe davon gesprochen, dass einige unverantwortliche, hurra-patriotische Politiker auf dieser Option bestanden haben. Das Ergebnis wäre sehr schlecht gewesen, aber – der gesunde Menschenverstand hat gesiegt. Das Militär wurde erhört."
In einem weiteren Post kritisiert Montjan die russische Informationspolitik und die Verantwortlichen in den russischen Medien. Statt sich stets an die Wahrheit zu halten, auch wenn diese unangenehm sei, erzeugten sie mit Zweckoptimismus und unablässigen Siegesmeldungen übersteigerte Erwartungen in der Gesellschaft, die früher oder später an der Realität zerschellten und bitter enttäuscht würden. Dieses emotionale Auf und Ab, so Montjan, könne eine Gesellschaft nicht lange aushalten, ohne Schaden zu nehmen. Die Menschenrechtlerin weiter:
"Warum gleitet die russische Gesellschaft mehr und mehr in einen Zustand von Paranoia und manisch-depressiver Stimmungsschwankungen ab? Wo sind andere Farben als nur Weiß und Schwarz geblieben? 🤔
Hier müssen wir darauf eingehen, wie unsere Wahrnehmung der Realität funktioniert. Offizielle und halboffizielle Informationsquellen sagen uns immer wieder, dass alles in Ordnung ist und wir den Feind an allen Fronten besiegen. Und überhaupt werde der Feind, der ohne Licht und Wasser zurückgelassen wird, bald (...) um Gnade flehen. 😒
Diese Art von Allmachts-Rhetorik gaukelt der Öffentlichkeit vor, dass alles gut sei und der Sieg unmittelbar bevorstehe. Und dann bröckelt der von den Propagandisten aufgebaute Mythos im Nu – und eine völlig andere Realität kommt zum Vorschein. Sie trifft die Menschen mit einem Hammer auf den Kopf und entmutigt sie. 'Wie ist das möglich? Schließlich wurde uns gesagt, dass alles in Ordnung sei, und dann das? Verrat? Verrat!' 😱
Die Schuld für eine solche Reaktion der Gesellschaft liegt allein bei einer dummen und schädlichen Informationspolitik.
Die Hauptaufgabe des Medienapparats besteht darin, die Öffentlichkeit sowohl auf gute als auch auf schlechte Nachrichten vorzubereiten."
Der bislang prominenteste Vertreter der konstruktiven Kritiker des Rückzugs ist der frühere ukrainische Abgeordnete und einer der Vordenker der Antimaidan- und Noworossija-Bewegungen, Oleg Zarjow. Zarjow schreibt, dass die Entscheidung zum Rückzug vom rechten Dnjepr-Ufer schon vor einem Monat getroffen worden sei und er alles in seiner Macht Stehende getan habe, die Entscheidungsträger noch umzustimmen:
"Wir haben Cherson verlassen. Dass eine solche Entscheidung möglich ist, wurde klar, als die Evakuierung der Menschen von dort begann. Dies konnte nicht durch den möglichen Beschuss von Cherson erklärt werden. Donezk wird seit acht Jahren beschossen, und niemand ist von dort evakuiert worden, und es werden keine Wohnungszertifikate ausgestellt. Die Evakuierung der Denkmäler und der Asche Potjomkins, die Evakuierung der Verwaltung, der Gottesdienste und der Fahnen sprachen Bände über diese Entscheidung.
Ich bin damals nach Moskau gefahren. Dort habe ich mich getroffen, mit wem ich konnte. Ich habe versucht, sie umzustimmen. Ich schrieb (https://t.me/olegtsarov/3967), auch hier auf meinem Telegramkanal, dass Cherson nicht aufgegeben werden sollte. Ich wusste, dass der Beschluss bereits gefasst worden war, Cherson zu verlassen, und ich lebte etwa einen Monat lang mit diesem Wissen. Aber die Hoffnung hielt trotzdem. Viele Leute haben mir in den Kommentaren vorgeworfen, dass ich mit den Farben übertreibe. (...)
Trotzdem müssen wir leben. Leben in der neuen Realität. In dem Bewusstsein, dass unsere Armee in naher Zukunft in der Defensive sein wird. Der Fluss Dnjepr, die Wagner-Linie im Gebiet Lugansk, die gestaffelte Verteidigungslinie im Gebiet Saporoschje. In der Nähe von Donezk werden wir versuchen, anzugreifen.
Wie Sie wissen, werden Kriege nicht durch Verteidigung gewonnen, aber unsere unmittelbare Aufgabe wird es sein, nicht zu verlieren. Nicht zu verlieren ist in dieser Situation eine sehr schwierige Aufgabe. Deshalb sollten wir uns zusammenreißen. Der Preis der Niederlage wird exorbitant hoch sein. Entspannen geht also nicht. Mit der Zeit werden sich neue Möglichkeiten ergeben, und wir müssen bereit sein, sie zu nutzen."
In der Tat hatte Zarjow am 4. November ein längeres Statement geschrieben, in dem er die aus seiner Sicht wichtigsten Argumente gegen den Rückzug zusammentrug:
"Cherson. Ja, die Stadt ist bis heute nicht aufgegeben worden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche (gerade politische) Entscheidung getroffen wird, ist groß. Diesbezüglich möchte ich sagen, dass ich keinen Grund für diese Entscheidung sehe und auch keinen Vorteil, den wir daraus ziehen könnten.
Es ist absurd, Cherson zu verlassen und kolossale, ich würde sagen irreparable, Rufschädigungen zu erleiden. Die wir uns selbst zufügen, wenn wir das Land, das wir vor einem Monat so schön als das unsere anerkannt haben, kampflos aufgeben.
Der Abzug aus Cherson ist nicht so sehr ein Geschenk an die Ukraine, sondern an Biden und die gesamte antirussische Kampagne des Westens. Cherson ist das einzige regionale Zentrum, das von unserer Armee besetzt wurde. Jetzt holt sich die Ukraine die Stadt zurück, nachdem sie blutige Kämpfe durch die Erstürmung der verteidigten Stadt vermieden hat. Und die Demokratische Partei der USA erhält dieses Geschenk am Vorabend der Kongresswahlen.
Der Abzug aus Cherson bedeutet einen (baldigen) Angriff auf die Krim. Das Wasserkraftwerk Kachowka wird ein leichtes Ziel sein, und es besteht kein Zweifel, dass die Halbinsel wieder ohne Wasser sein wird.
Die Aufgabe von Cherson würde bedeuten, dass Nikolajew und Odessa aufgegeben wurden, die für die Attraktivität der Ukraine in den Augen des Westens eine entscheidende Rolle spielen. Wenn Cherson aufgegeben wird, wird jeder erkennen, dass wir nirgendwo (mehr) hingehen. Außerdem werden wir höchstwahrscheinlich auch nicht nach Cherson zurückkehren. Die kampflose Aufgabe der Stadt und ihre anschließende Einnahme durch die Überquerung des Dnjepr sind zwei große Unterschiede.
Der Abzug aus Cherson wird (für Kiew) eine Gelegenheit sein, ein neues Butscha zu inszenieren. Es gab keinen Rückzug, nach dem die Nazis nicht unsere Anhänger getötet und die Toten als von uns getötete Ukrainer ausgegeben hätten. In Cherson leben noch etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Glauben Sie mir, die (Nazis) werden darunter jemanden finden, den sie massakrieren können."
Drastischere Töne, die bis an Hysterie heranreichen, schlägt der im spanischen Exil lebende ukrainische Journalist, Blogger und Oppositionspolitiker Anatoli Scharij an. Der Rückzug sei ein Schandfleck in der russischen Geschichte, der nie mehr getilgt werden könne, und niemand werde Russland je wieder vertrauen. Ansonsten folgten auf seinem Telegram-Kanal in der Nacht von Donnerstag auf Freitag Meldungen in kürzeren Abständen, in denen ein Horrorszenario von bis zu 20.000 im Fluss schutzlos der ukrainischen Artillerie und ukrainischen Drohnen ausgesetzten russischen Soldaten gezeichnet wurde. Diese Meldungen haben sich größtenteils nicht bestätigt: Die russische Armee stand zwar während des Übersetzmanövers tatsächlich unter ukrainischem Feuer, hat aber nach Angaben des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation ohne Verluste übersetzen können.
Andere Kommentatoren in der Ukraine, soweit sie nicht gerade dabei sind, sich auf euphorische Siegesfeiern zu beschränken, vermuten hinter dem russischen Rückzug einen größeren Deal. Und sie fragen, worin die ukrainische Gegenleistung wohl bestehen werde oder welchen Trick das ukrainische Präsidialamt wohl dieses Mal nutzen wird, um sich der Erfüllung der eigenen Zusagen zu entziehen. So wie man sich im Frühjahr durch die Inszenierung von Butscha der Erfüllung der Vereinbarungen von Istanbul entzogen hatte:
"Wenn der Fall Cherson ein Deal ist, stellen sich gleich zwei Fragen:
Was hat Selenskij im Gegenzug versprochen?
Was werden die tun, wenn sich das Präsidialamt erneut unter irgendeinem Vorwand weigert, die hinter den Kulissen eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen? (Natürlich wird die Bankowaja-Straße (Sitz des ukrainischen Präsidenten – Anm. d. Red.) mit Butscha-2-3-4 aufwarten. Und, was noch schlimmer ist, Geschichten aus Cherson zum Besten geben, wo sie geheime Gefängnisse finden usw. Die Briten beraten dort und sie sind Meister der 'Inszenierung', mit genug Erfahrung in Syrien).
Die nahe Zukunft wird Antworten auf diese Fragen geben."
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