Eine Analyse von Andrei Restschikow
Selenskijs Antrag auf einen beschleunigten NATO-Beitritt der Ukraine deutet auf Nervosität in Kiew hin. Man versteht, dass die Aufnahme der verlorenen Gebiete in die Russische Föderation auch durch Erfolge auf dem Schlachtfeld nicht rückgängig gemacht werden kann, ohne dass es zu massiven ethnischen Säuberungen kommt. Die lokale Bevölkerung hat sich bereits im Rahmen der Referenden Russland eindeutig zugewandt und gewöhnt sich an die neue Realität. Was werden Selenskijs Bemühungen nach sich ziehen, der um Aufmerksamkeit bemüht ist und ein weiteres Geschäft mit der NATO aushandeln will?
Es war eine Überraschung für Washington, als der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij beschloss, einen beschleunigten NATO-Beitritt der Ukraine zu beantragen. Denn gemäß den Quellen der Zeitung Politico steht die Regierung unter Joe Biden einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz weiterhin ambivalent gegenüber.
Die Ankündigung des Antrags erfolgte am Freitag, den 30. September, unter Verweis auf die Erfahrungen Finnlands und Schwedens, die nach dem Beginn der russischen Spezialoperation beschlossen hatten, nicht länger neutral zu bleiben und dem Bündnis beizutreten. Helsinki und Stockholm reichten ihre Anträge im Mai ein und bereits im Juli waren die Verhandlungen über den Beitritt in der NATO-Zentrale in Brüssel abgeschlossen. Der unmittelbare Beitritt zum Bündnis könnte im Jahr 2025 erfolgen.
Ebenfalls am Freitag, den 30. September, fand im Kreml eines der wichtigsten Ereignisse der jüngeren Geschichte statt. Russlands Präsident Wladimir Putin, die Regierungschefs der Doneszker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik, Denis Puschilin und Leonid Passetschnik, sowie die Verwaltungsleiter der Regionen Saporoschje und Cherson, Jewgeni Balizki und Wladimir Saldo, unterzeichneten die Dokumente über die Wiedervereinigung der Regionen mit Russland.
Die Zeremonie fand im Georgssaal im Kremlpalast statt, am selben Ort, wo Wladimir Putin im Jahr 2014 die Dokumente zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland unterzeichnet hatte. In seiner Rede kündigte der russische Präsident den Beginn eines Zusammenbruchs der Hegemonie des Westens an, der in der postsowjetischen Ära "nach einer neuen Chance gesucht hat und das weiterhin tut, um Russland anzugreifen, um Russland zu schwächen und zu zerstören". Im Grunde genommen erklärte Putin Russland zum Vorreiter der antiglobalistischen Bewegung, zur zweiten Supermacht mit einer alternativen universellen Ideologie. Zahlreiche Beobachter verglichen die Rede mit dem Auftritt des russischen Staatschefs in München im Jahr 2007 und bezeichneten sie als "Sankt-Georgs-Rede".
Auf die Feierlichkeiten des Kremls reagierte man im Westen mit weiteren Sanktionen. Großbritannien und die USA kündigten Sanktionen gegen Elvira Nabiullina, die Chefin der russischen Zentralbank, an. Außerdem verhängte Washington Sanktionen gegen die Familienangehörigen von Verteidigungsminister Sergei Schoigu, den stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates Dmitri Medwedew, Ministerpräsident Michail Mischustin und den Gouverneur von Sankt Petersburg Alexander Beglow sowie den Schauspieler Dmitri Pewzow. Kanada hat weitere 43 russische Staatsbürger auf die schwarze Liste gesetzt.
Die westliche Presse vertritt die Auffassung, dass die Ausdehnung des russischen Hoheitsgebiets gegen internationale Normen verstoße. Allerdings versäumen die Autoren zahlreicher Publikationen zu erwähnen, was Putin in seiner Rede betont hatte: Die Aufnahme der vier Regionen in die Russische Föderation basiert auf dem in der UN-Charta verankerten Recht auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.
Dennoch propagiert die US-amerikanische Zeitung The Wall Street Journal, es seien die Ereignisse im Kreml, die zu einer Eskalation des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine führten. Dem Bericht von Fox News zufolge lehnten westliche Behörden die eindeutigen Abstimmungsergebnisse in den befreiten Gebieten ab und erklärten, sie seien gefälscht worden, um die politischen Ziele des Kremls zu erreichen. So wie es auf der Krim im Jahr 2014 der Fall gewesen sei. Der US-amerikanische TV-Sender CNN zitiert Aussagen von Analytikern, wonach sich Putin von den sogenannten "Annexionen" einen Meinungsumschwung in Russland zugunsten der militärischen Spezialoperation in der Ukraine erhoffe. Der Beitrag enthält keine Angaben bezüglich der Umfragen russischer Soziologen, die belegen, dass eine Mehrheit der Russen die Spezialoperation unterstützt. Unterdessen nimmt die gesamte britische Presse ausschließlich eine pro-ukrainische Position ein. Die Zeitung The Mirror schreibt, dass ukrainische Gebiete von den Truppen des "Tyrannen" Putin erobert worden seien.
Alexandr Perendschijew, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Russischen Wirtschaftsuniversität Plechanow und Mitglied des Expertenrats Offiziere Russlands, erklärte, die Reaktion des Westens auf Putins Sankt-Georgs-Rede sei zu erwarten gewesen.
"Zum heutigen Tag hat der Westen die gesamte Hebelwirkung auf Russland aufgebraucht. Sie haben sogar die Nord-Stream-Gaspipelines in die Luft gejagt. Wie geht's weiter? Was ihnen noch bleibt, ist Empörung und die Verhängung weiterer persönlicher Sanktionen gegen russische Politiker auf verschiedenen Ebenen bis hin zur regionalen oder kommunalen Ebene", so Perendschijew.
Der Politologe ist überzeugt, dass Selenskijs Appell den NATO-Beitritt der Ukraine nicht beschleunigen wird. Das Bündnis unterhalte Kontakte zu Kiew, um Druck auf Moskau auszuüben, ist sich Perendschijew sicher: "Die Ukraine ist nicht länger ein Staat, der in jede Gemeinschaft aufgenommen werden kann. Die Ukraine ist jetzt ein Quasi-Staat mit externer Steuerung. Wozu braucht die NATO ein Land, in dem es überhaupt keine Wirtschaft gibt, die erst wieder aufgebaut werden muss?"
Andrei Kortunow, Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Angelegenheiten, ist der Ansicht, dass Selenskij auf sich aufmerksam machen wolle. Selenskij wolle ein weiteres Geschacher veranstalten und versuche, den Druck auf die westlichen Partner zu erhöhen. Dieses Kalkül sei nicht darauf ausgerichtet, Kiew in die NATO einzuladen, sondern ernsthaftere Sicherheitsgarantien zu erlangen und den Plan der Ermak-Rasmussen-Gruppe umzusetzen. Kortunow erklärte, die Ukraine habe bisher keinen "bedeutenden, wegweisenden Sieg auf dem Schlachtfeld erringen können, weil der Angriff auf Krasny Liman ohne jene Ergebnisse geblieben ist, welche sich die ukrainischen Streitkräfte (AFU) erhofft hatten".
"Die Profis in Kiew wissen, dass man die Ukraine in naher Zukunft nicht in die NATO aufnehmen wird. Die Vereinigten Staaten sind mit der gegenwärtigen Situation zufrieden und leisten zunehmend militärische Unterstützung. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit nachrichtendienstlichen Informationen, der Umschulung der AFU und der Planung von Militäroperationen. Gleichzeitig minimieren die USA das Risiko für sich selbst, indem sie immer wieder beteuern, dass sie an Kampfhandlungen nicht direkt beteiligt sind", sagte Kortunow.
Der Politologe ist der Meinung, dass sich die Situation nur dann ändern kann, wenn Russland taktische Atomwaffen auf dem Territorium der Ukraine einsetzt. "Doch eine solche Entwicklung ist sehr unwahrscheinlich. Die Teilmobilmachung könnte als eine Alternative zur vertikalen Eskalation gesehen werden."
Perendschijew ergänzte, dass der Westen eine hybride Konfrontation mit Russland herbeiführt, indem er die Ukraine mit Waffen versorgt, Söldner und Ausbilder entsendet und auf andere Weise indirekt in den Konflikt eingreift. "Die NATO ist nicht bereit, Russland direkt zu konfrontieren. Der Generalsekretär der Allianz Jens Stoltenberg möchte nicht, dass Russland der NATO auf die Finger haut", sagte der Experte.
Kortunow ist sich sicher, dass die Ereignisse vom 30. September eine weitaus größere Wirkung in Kiew hatten als im Westen. Unabhängig vom Ausgang der Kampfhandlungen gibt es keine positiven Szenarien für die Ukraine. Selbst wenn man sich eine erfolgreiche Gegenoffensive der AFU vorstellt, werden die ukrainischen Behörden massenhafte ethnische Säuberungen oder Amnestien durchführen müssen, weil sich die Bewohner der befreiten Gebiete bereits Russland verpflichtet haben. "Dieses Ereignis im Kreml hat in Kiew für Nervosität gesorgt. In der Ukraine ist man sich bewusst, dass einige Prozesse unumkehrbar werden können. Das Land zerfällt. Heute ist es undenkbar, Cherson oder den Donbass zurückzuerobern und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Bevölkerung bereits an das Leben unter anderen Bedingungen gewöhnt, ist dies unrealistisch", resümierte Kortunow.
Übersetzt aus dem Russischen
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