Eine Analyse von Dr. Anton Friesen
Wir erleben eine Eskalation des Krieges in der Ukraine. "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen – es darf ihn aber auch nicht verlieren" (Dr. Alexander Gauland), da sonst aus russischer Sicht alle Optionen auf dem Tisch liegen. Für Russland steht viel mehr auf dem Spiel als für den Westen. Es geht russischen Experten wie Sergei Karaganow mit besten Beziehungen zum Kreml zufolge um das Überleben Russlands und seiner politischen Elite. Massive Waffenlieferungen und die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte verlängern nur den Krieg, sorgen für mehr zivile Opfer und treiben die beiden Konfliktseiten in eine vermeidbare Eskalation, die den Frieden nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa gefährden. Zum Beispiel wäre an eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland zu denken, die umso wahrscheinlicher wird, je massiver die westlichen Waffenlieferungen und sonstigen Unterstützungsleistungen wie Ausbildungsmissionen für die Ukraine werden.
Wie sähen unter diesen Bedingungen Schritte zu einer Friedenslösung aus? Bevor es zu Friedensverhandlungen kommen kann, braucht es erst einmal eine unbefristete Waffenruhe, wie sie schon vor Monaten von dem damaligen italienischen Regierungschef Mario Draghi entworfen worden war. An den Verhandlungstisch gehören international erfahrene Mediatoren, zum Beispiel Diplomaten aus neutralen Staaten wie Indien oder Brasilien. Natürlich käme auch der Heilige Stuhl in Frage – zumal Papst Franziskus bereit wäre zu vermitteln und der Vatikan in seiner tausendjährigen Geschichte schon viele Friedensschlüsse, nicht nur in Südamerika, auf der Habenseite verbucht.
Die Waffenruhe sollte genutzt werden, um ein Abkommen zu entwerfen, das internationale Sicherheitsgarantien für Russland und die Ukraine vorsieht. Der UN-Sicherheitsrat oder die UN-Generalversammlung sollten für die Einhaltung des Abkommens sorgen, gemeinsam mit einer Reihe von Staaten, von der Türkei bis Kanada und den USA, von China bis Israel. Möglich wäre aber auch eine stärkere Rolle für die OSZE, die in den letzten Jahren leider – nach den zahlreichen NATO-Osterweiterungsrunde – immer mehr an Bedeutung verloren hat.
Im Abkommen sollten Lehren aus den Ursachen des Krieges gezogen werden – von den NATO-Osterweiterungen bis zum Niedergang der Rüstungskontrollvereinbarungen zwischen Russland und den USA. Der Ukraine wie einer Reihe von weiteren Staaten, beispielsweise Weißrussland, sollte ein neutraler Status garantiert werden (kein Beitritt zur NATO oder dem russischen geführten Militärbündnis OVKS). In den umstrittenen Regionen der Ost- und Südukraine könnten nach Rückkehr der Geflohenen und Vertriebenen international unter Führung der UNO und der OSZE überwachte Referenden stattfinden, die über die Zugehörigkeit der Gebiete entscheiden. Die Russland- und Weißrussland-Sanktionen gehören nach Verabschiedung des Friedensabkommens vollständig aufgehoben.
Dr. Anton Friesen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und ehemaliger Bundestagsabgeordneter (Auswärtiger Ausschuss sowie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe). Der Autor vertritt im Artikel ausschließlich seine eigene Meinung.
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