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Von Bernd Murawski
Grundlage für einen Ausweg könnte die bei beiden Konfliktparteien bestehende Überzeugung sein, dass die Bürger gegen ihren Willen unter der Macht der gegnerischen Seite gehalten werden. Laut Putin besteht das Ziel der russischen Militäraktion darin, die ukrainischen Bürger von der Drangsalierung durch ultranationalistische Kräfte zu befreien. Selenskij spricht seinerseits von einer Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten und klagt deren vermeintliche Verschleppung nach Russland an. Beide Seiten glauben offenbar, dass die vom Kriegsgeschehen betroffene Bevölkerung hinter ihnen steht.
Naheliegend wäre in diesem Fall ein allgemein anerkanntes Plebiszit (Volksentscheid). Damit es als repräsentativ angesehen werden kann, bedarf es gründlicher Vorbereitungen. Unabdingbar ist ein Waffenstillstand, der jedoch voraussetzt, dass über das weitere Vorgehen weitgehend Einigkeit besteht. Zu diesem Zweck müssen zunächst die Gebiete markiert werden, in denen Referenden abgehalten werden sollen. Es würde sich hierbei um die vollständigen Oblaste Donezk und Lugansk sowie die von Russland gehaltenen Regionen der Oblaste Cherson, Saporoschje und Charkow handeln. Auch die Krim sollte einbezogen werden.
Ein Abzug der russischen und ukrainischen Truppen und deren Ersatz durch UN-Friedenstruppen wären wünschenswert, dürfte aber angesichts des verbreiteten Misstrauens nicht realisierbar sein. Die Vereinten Nationen wären dennoch der geeignete Akteur für die Gewährleistung eines Waffenstillstands und die Durchführung eines Referendums, da die OSZE als mögliche Alternative an Glaubwürdigkeit verloren hat.
Entscheidend für den Erfolg der Friedensoperation ist die Zusammensetzung des UN-Beobachterteams. Seine Vertreter sollten aus Staaten kommen, die über geopolitisches Gewicht verfügen und sich weitgehend neutral verhalten haben. Dazu gehören die Türkei und Indien, weitere Kandidaten wären Mexiko und Brasilien. Schließlich könnten Italien als Vertreter der westlichen und Iran als Fürsprecher der russischen Konfliktpartei einbezogen werden.
Die Vorbereitung eines Plebiszits würde mehrere Monate in Anspruch nehmen. In diesem Zeitraum sollte zum einen eine Rückkehr der Bewohner der betroffenen Gebiete ermöglicht werden, zum anderen ein medialer Zugang zu den Positionen und Argumenten beider Seiten geschaffen werden. Es könnten etwa ins Fernsehprogramm Spots der Kontrahenten wie auch Debatten aufgenommen werden, in denen die unterschiedlichen Standpunkte offengelegt werden.
Beide Konfliktparteien müssen bereit sein, ihr Militär innerhalb einer festgelegten Frist aus Gebieten abzuziehen, die sich in Referenden für die andere Seite entschieden haben. Über deren Ausgang kann spekuliert werden, jedoch dürfte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit für die russische Seite entscheiden. Da die Ergebnisse unter UN-Aufsicht zustande kommen würden, könnte der Westen sie ohne Gesichtsverlust akzeptieren. Bundeskanzler Olaf Scholz könnte seine Drohung, eine russische Annexion ukrainischen Territoriums nicht anzuerkennen, zurücknehmen, da sie gegenstandslos wäre.
Offen bleibt die Frage der künftigen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Für die Kiewer Führung wäre dies weiterhin eine Option, weil dadurch das Bedürfnis nach Sicherheitsgarantien befriedigt würde. Auch gäbe es keinen Territorialkonflikt mehr, der laut NATO-Statut ein Hindernis wäre. Ein Nachgeben Russlands könnte unter zwei Prämissen geschehen. Erstens müsste sich das westliche Verteidigungsbündnis verpflichten, keine ausländischen Truppen in der Ukraine zu stationieren. Und da Russland explizit als Feind bezeichnet wird, sollten zweitens die pro-russischen Oblaste in einem Referendum darüber befinden können, ob sie nach einem NATO-Beitritt weiter dem ukrainischen Staatsverband angehören wollen.
Vertrauensmangel als zentrales Problem
Das größte Problem dürfte der Mangel an Vertrauen sein, wofür die russische Seite gewichtigere Gründe hat. Nicht nur wurde die Schwäche Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch den Westen rigoros ausgenutzt, sondern es wurde seit dessen Stabilisierung unter Putin eine Hetzkampagne nach der anderen gestartet, um das Land zu demütigen und zu schwächen. Alle jene Fälle - erwähnt seien Magnitzky, Litvinenko, Skripal und Nawalny, der Doping-Skandal und der Abschuss der MH-17, Butscha und Isjum - zeichnen sich durch westliche Schuldzuweisungen aus, die bereits erhoben wurden, ehe es zu Ermittlungen kam, welche - wenn überhaupt - nie transparent und durch neutrale Instanzen erfolgten.
Doch auch die russische Führung ist nicht ohne Makel. So widersprach die Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband internationalem Recht und - gemäß den gängigen Interpretationen - dem Budapester Abkommen von 1994. Allerdings ging dem ein Vertrauensbruch des Westens voraus, der den Maidan-Umsturz begrüßte und zugleich das von Deutschland, Frankreich und Polen garantierte Abkommen zwischen dem Präsidenten Wiktor Janukowitsch und der Opposition verwarf. Kein Historiker würde bezweifeln, dass die Krim ohne den gewaltsamen Regierungswechsel in Kiew Teil der Ukraine geblieben wäre.
Der völkerrechtlich bedenkliche russische Ukraine-Feldzug folgte auf die Nichterfüllung von Minsk II, wobei der frühere Präsident Petro Poroschenko kürzlich äußerte, dass das Abkommen allein dazu diente, Zeit zu kaufen. Die Erwartung des Kremls, dass Deutschland und Frankreich als Garantiemächte Druck ausüben würden, löste sich in deren Stellungnahme Ende letzten Jahres auf, als sie das Dokument selbst in Frage stellten. Zudem war der Westen - nach der Kündigung bzw. Nicht-Ratifizierung mehrerer Abrüstungsabkommen - nicht bereit, die im Pariser Vertrag von 1990 vereinbarte "Unteilbarkeit der Sicherheit" auf dem europäischen Kontinent auch für Russland gelten zu lassen.
Wenn auch beiden Seiten Vertrauensbrüche vorzuwerfen sind, haben die USA und ihre Verbündeten jedes Mal den ersten Schritt unternommen. Dass der Kreml der reagierende Part war, veranschaulichen die Reduzierungen der diplomatischen Vertretungen und die Gegensanktionen, die von russischer Seite jeweils zu einem späteren Zeitpunkt "spiegelbildlich" erfolgten.
Die Kremlführung übte sich nicht nur in Zurückhaltung, sondern artikulierte fortwährend ein Interesse an diplomatischen Lösungen. Allerdings ist in letzter Zeit eine andere Tonart aus Moskau zu vernehmen, die nicht mehr durch Rücksichtnahme und Wohlwollen geprägt ist.
Kann Russland darauf vertrauen, dass der Westen sich an die Vereinbarungen hält? Bei dem hier vorgestellten Kompromissvorschlag wäre der erste Stolperstein die mögliche Weigerung Kiews, seine Truppen aus dem Donbass abzuziehen, nachdem eine Mehrheit der Bürger für einen Anschluss an Russland votiert hätte. Noch größer wäre das Risiko, dass den pro-russischen Oblasten bei einem NATO-Beitritt nicht die Chance geboten würde, die Ukraine über den Weg eines Referendums zu verlassen.
Der Westen könnte die Position Kiews unterstützen und darüber hinaus - entgegen der getroffenen Vereinbarung - NATO-Truppen auf ukrainischem Boden stationieren. Russland hätte in Konfliktsituationen keine andere Wahl, als auf entspannungswillige Kräfte im Westen zu setzen. Sollte die wirtschaftliche Vernunft in Westeuropa eine Renaissance erleben, dann besteht durchaus Hoffnung auf die Wiederherstellung vertraulicher Beziehungen.
Das Problem einseitiger Referenden
Die zwischen dem 23. und 27. September geplanten einseitigen Referenden in den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine dürften zwar ermöglichen, die Stimmung in der Bevölkerung zu erfassen. Eine Akzeptanz der Resultate durch den Westen ist jedoch nicht zu erwarten, und auch andere Staaten dürften sich mit einer Anerkennung vorerst zurückhalten. Voraussichtlich wird die ukrainische Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Referenden zu verhindern. Sie muss damit rechnen, dass Russland nach einer Übernahme der umstrittenen Regionen in seinen Staatsverband jeden Angriff als auf sein eigenes Territorium gerichtet interpretiert.
Doch es droht nicht nur eine Intensivierung der kriegerischen Aktivitäten. Je höher die Zustimmung für einen Anschluss an Russland ausfällt, desto geringer dürfte die Bereitschaft Kiews zu einer Wiederholung der Referenden unter internationaler Aufsicht sein, damit das eigene Narrativ nicht gefährdet wird. Desgleichen dürfte es für den Kreml kaum möglich sein, im Zuge einer Übereinkunft mit dem Westen die Ergebnisse der Referenden zu annullieren und die Übernahme der betroffenen Gebiete durch Russland rückgängig zu machen.
Die Existenz eines ungelösten Territorialkonflikts sowie fortgesetzte russische Militärschläge würden eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zwar dauerhaft verhindern. Diesen Vorteil müsste Russland jedoch bitter erkaufen. Die Kämpfe in der Oblast Donezk dürften noch monatelang dauern und würden Tausende von Todesopfern sowie die Zerstörung zahlreicher Ortschaften, darunter der Großstädte Slawjansk und Kramatorsk, zur Folge haben. Ebenso würde der ukrainische Beschuss russischer Militäreinrichtungen wie auch von Infrastruktur und Wohnvierteln in den "befreiten" Gebieten auf unbestimmte Zeit anhalten.
Indem Moskau mit seiner Entscheidung vollendete Tatsachen schafft, erschwert es gemeinsame Konfliktlösungen unter Einbeziehung neutraler Staaten und kooperationswilliger Kräfte im Westen. Daher sollte sich die EU in ihrem eigenen Interesse möglichst bald für ein international anerkanntes anstelle des durch Russland organisierten Referendums einsetzen.
Höchstwahrscheinlich würde der Kreml einen solchen Vorschlag begrüßen und Entgegenkommen signalisieren. Die Gefahr einer Eskalation der Kampfhandlungen in der Ukraine würde eingedämmt und die Versorgung der EU-Volkswirtschaften mit Gas und anderen Rohstoffen im Folgenden sichergestellt werden. Den Bürgern in den umkämpften Gebieten die freie Entscheidung über ihre Zukunft zu erlauben, sollte eigentlich dem westlichen Werteverständnis entsprechen.
Eine Übereinkunft zwischen Russland und der EU, etwa auf Grundlage des hier vorgeschlagenen Referendumskonzepts, verschafft zweifellos beiden Seiten Vorteile. Russland müsste nicht unter immensen Kosten eines starken militärischen Engagements und anhaltenden Angriffen in den Grenzgebieten zur Ukraine leiden. Die EU-Staaten hätten ihrerseits Zugang zu preiswerten Energieträgern und anderen Rohstoffen, die eine wesentliche Voraussetzung für ihre globale Wettbewerbsfähigkeit darstellen. Kaum wünschenswert ist die Alternative eines Wettstreits darüber, wer die aktuellen Belastungen über einen längeren Zeitraum besser stemmen kann.
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