Seit am späten Abend des 30. August der Tod des letzten sowjetischen Staatschefs Michael Gorbatschow bekannt wurde, äußern Persönlichkeiten in Ost und West, in Deutschland und Russland ihre Gedanken zum Wirken dieses Mannes.
Gegenüber RT sagte Willy Wimmer am Mittwoch, die Welt habe wohl die letzte Persönlichkeit verloren, die im Falle einer Krise alle Menschen weltweit hätte ansprechen können. Der 79-Jährige war von 1976 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages für die CDU und in der Phase der deutschen Wiedervereinigung parlamentarischer Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium.
Wimmer würdigte Gorbatschow als "vielleicht zusammen mit seinem amerikanischen Kollegen Ronald Reagan eine der größten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts". Beide Staatsmänner hätten durch ihr Zusammenwirken die Teilung der Welt aufgehoben. Zwar seien Gorbatschows Visionen für die friedliche Zukunft der Welt nicht verwirklicht worden, doch, mahnt Wimmer, gebiete es die Dankbarkeit des deutschen Volkes für die deutsche Einheit, dass Vertreter des deutschen Staates und der Bundesländer an der Beisetzung Gorbatschows teilnehmen, wenn ihnen die Möglichkeit dazu eingeräumt wird. Es gäbe niemanden, dem Deutschland so sehr zu Dank verpflichtet wäre, wie dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten.
Rainer Rupp sagte im Gespräch mit RT DE, dass er Michail Gorbatschow mit Blick auf den Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion keine verräterische Absicht unterstellt. Er sei unfähig gewesen, erforderliche Reformen so umzusetzen, dass sie den sozialistischen Ländern nutzen und nicht schaden. Ein entscheidender Faktor sei Gorbatschows Naivität bezüglich der Absichten des Westens und der Ehrlichkeit westlicher Politiker gewesen. Aus dieser Naivität heraus habe er auf verbindliche Vereinbarungen verzichtet, was später zur Ausbreitung der NATO in den Osten und auch zu der Hexenjagd gegen Kommunisten in der früheren DDR und Osteuropa geführt habe, deren Opfer auch Rainer Rupp wurde.
Rupp, der in einer Krisensituation Informationen aus dem NATO-Hauptquartier an die DDR übergeben hatte, die knapp einen durch ein Missverständnis ausgelösten Atomkrieg verhindert haben, wurde nach der deutschen Wiedervereinigung wegen seiner Spionagetätigkeit für die DDR zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Persönlichen Groll gegen Gorbatschow scheint er aber nicht zu hegen. Man habe eine Schlacht verloren, lautet Rupps Fazit, eine gerechtere Zukunft sei weiterhin möglich.
Bei Friedemann Munkelt, dem Vorsitzenden des NVA-Traditionsvereins, hält sich die Begeisterung über Gorbatschow "in Grenzen". Auch er sieht in der "Vertrauensseligkeit" Gorbatschows den Hauptgrund für die Katastrophen und Kriege, die die Republiken der Sowjetunion und den gesamten Ostblock nach 1991 ereilten, scheut aber anders als Rupp den Begriff "Verräter" nicht:
"Alles, was sich jenseits der 90er Jahre an Kriegen abgespielt hat, wäre wahrscheinlich zu verhindern gewesen, wenn es anders gelaufen wäre".
Oleg Eremenko, ein in der DDR geborener Sohn eines sowjetischen Offiziers, brachte im RT-Interview die Sicht zum Ausdruck, die in Russland wohl vorwiegend vorherrscht. Hier wird Gorbatschow mehrheitlich als Verräter gesehen, der das eigene Land und die Verbündeten dem Westen ausgeliefert hat.
In Online-Meinungsumfragen in Deutschland überwiegt derzeit die Sicht, dass Gorbatschow wohlmeinend war, das Ergebnis seines Wirkens die Welt aber unsicherer gemacht habe. Weniger als ein Fünftel der an diesen Umfragen teilnehmenden Deutschen sieht sowohl die Person Gorbatschow, als auch die Früchte seines Handelns uneingeschränkt positiv. Nur geringfügig kleiner ist in diesen Umfragen der Anteil jener, die auch an der Person selbst und ihren Absichten kein gutes Haar lassen.
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