In seiner Rede auf der Plenarsitzung des Internationalen Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg (SPIEF) vermutete der russische Präsident Wladimir Putin, dass alle derzeitigen Erzählungen im Westen über die sogenannte "Putinsche Inflation" für diejenigen gedacht seien, "die nicht lesen und nicht schreiben können".
Dieser Begriff wurde in erster Linie von dem US-Präsidenten Joe Biden und dem britischen Premierminister Boris Johnson verwendet. Damit ist jene Inflation gemeint, die sich aus den eigenen Schwierigkeiten bei der Energieversorgung, der Logistik und den Wechselkursen ergibt, welche durch die westlichen Sanktionen gegen Moskau verursacht werden. Dazu erklärte Putin:
"Unfähig oder nicht willens, andere Reserven zu nutzen, haben die Behörden der führenden westlichen Volkswirtschaften einfach die Druckerpresse angeworfen. Auf diese unkomplizierte Art und Weise begannen sie, zuvor nicht gesehene Haushaltsdefizite zu decken."
Souveränitätsverlust der EU
Der russische Präsident wies in seiner Rede außerdem darauf hin, dass die Europäische Union ihre politische Souveränität verloren hätte:
"Die Europäische Union hat ihre politische Souveränität vollständig verloren, und ihre bürokratischen Eliten tanzen nach der Pfeife eines anderen und akzeptieren alles, was ihnen von oben befohlen wird, was ihrer eigenen Bevölkerung und ihrer eigenen Wirtschaft schadet."
Nach Ansicht Putins werde die Politik der EU-Behörden die Spaltung des Westens vertiefen, und zwar nicht nur in wirtschaftlichen Fragen, sondern auch in Bezug auf sein Wertesystem:
"Eine solche Abkehr von der Realität, von den Anforderungen der Gesellschaft, wird unweigerlich zu einem Anstieg des Populismus und dem Wachstum radikaler Bewegungen, zu schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, zu Degradierung und in naher Zukunft zu einem Wechsel der Eliten führen."
Ende der unipolaren Welt
Der russische Präsident wies darauf hin, dass sich weltweit Systeme und Machtzentren bilden, die immer mehr eine Konkurrenz für die unipolare, westliche Welt darstellen. Er stellte fest:
"In den letzten Jahrzehnten haben sich auf dem Planeten neue mächtige Zentren gebildet, von denen jedes sein eigenes politisches System und seine eigenen sozialen Institutionen entwickelt, seine eigenen Modelle des Wirtschaftswachstums umsetzt und natürlich das Recht hat, diese zu schützen und die nationale Souveränität zu gewährleisten."
"Wir sprechen von objektiven Prozessen, von wirklich revolutionären, tektonischen Veränderungen in der Geopolitik, der Weltwirtschaft, im technologischen Bereich, im gesamten System der internationalen Beziehungen."
Schlüsselbegriffe für die Wirtschaft – wie der Ruf eines Unternehmens, die Unverletzlichkeit des Eigentums und das Vertrauen in die Weltwährungen – würden vom Westen aktiv untergraben, so Putin. Dies geschehe ganz bewusst aus Ehrgeiz, um überholte geopolitische Illusionen zu bewahren. Er fügte hinzu:
"Und es ist ein Irrtum zu glauben, dass man in Zeiten turbulenter Veränderungen einfach abwarten kann, dass sich alles wieder normalisiert und alles so wird wie früher. Das wird es nicht. Es scheint jedoch, dass die herrschenden Eliten einiger westlicher Länder derartigen Illusionen unterliegen, dass sie die offensichtlichen Dinge nicht sehen wollen und sich stur an den Schatten der Vergangenheit klammern."
"Status der Außergewöhnlichkeit" des Westens
Putin ging auch auf den postulierten "Status der Außergewöhnlichkeit" des Westens ein und betonte:
"Der Wandel ist der natürliche Lauf der Geschichte, denn die zivilisatorische Vielfalt des Planeten, der Reichtum der Kulturen, lassen sich nur schwer mit politischen, wirtschaftlichen und anderen Mustern kombinieren. Schablonen funktionieren hier nicht, also Schablonen, die unverhohlen und alternativlos von einem Zentrum vorgegeben werden. Der Fehler liegt in der Vorstellung, dass es nur eine, wenn auch starke Macht mit einem begrenzten Kreis von nahestehenden oder – wie man auch sagt – zugelassenen Staaten gibt."
"Unsere [westlichen] Kollegen leugnen nicht nur die Realität, sie versuchen, dem Lauf der Geschichte entgegenzuwirken, sie denken in Begriffen des letzten Jahrhunderts, sie sind gefangen in ihren eigenen Wahnvorstellungen über Länder außerhalb der sogenannten goldenen Milliarde, sie betrachten alles andere als Peripherie, als ihren Hinterhof, sie behandeln sie immer noch als Kolonien und die dort lebenden Völker als Menschen zweiter Klasse, weil sie sich selbst für außergewöhnlich halten."
Darüber hinaus würde der Westen allen anderen grob und unverschämt seine Ethik, seine Ansichten über Kultur und seine Vorstellung von Geschichte aufdrängen und zuweilen die Souveränität und Integrität von Staaten infrage stellen sowie deren Existenz bedrohen, so der russische Präsident. Er fügte hinzu:
"Alle Normen der Wirtschaft und der internationalen Beziehungen werden – wenn es notwendig wird – ausschließlich im Interesse desjenigen Staates ausgelegt."
"Eine Welt, die auf einem solchen Dogma beruht, ist definitiv instabil."
Mehr zum Thema - Scholz, Kiew und eine Zugfahrt ohne erhoffte Bedeutung