Reportage von Stepan Kostezki
Nur wenige Tage bevor Russland seinen militärischen Sondereinsatz auf ukrainischem Staatsgebiet begonnen hatte, berichteten die Staatschefs der damals nicht als Staaten anerkannten abtrünnigen ukrainischen Regionen im Donez-Becken öffentlich, dass die Spannungen zunehmen. In diesem Zusammenhang riefen sie zur Evakuierung der Zivilbevölkerung auf: Diese begann sofort in und über die russische Region Rostow.
Seit Beginn der Offensive hat Russland Berichten zufolge rund 200.000 Menschen aus der Republik aufgenommen, während die Vereinten Nationen die Gesamtzahl der aus der Ukraine geflohenen Menschen auf über zwei Millionen schätzen.
Viele Evakuierte und Geflohene wurden in andere Regionen Russlands weitergeleitet, viele wurden aber in der Region Rostow an der Grenze zur Volksrepublik Donezk (DVR) untergebracht und verbleiben zunächst auch dort. Örtliche Hotels dienen als Unterkunft, und im Rahmen der humanitären Maßnahmen werden weiterhin Lebensmittel und Hilfsgüter geliefert. Ich habe mich mit einer der Organisationen in Verbindung gesetzt, die das Flüchtlingsprogramm unterstützen, und konnte in einem Hotel am linken Ufer des Don eine Reihe von Menschen interviewen. Hier kann man Frauen und Kinder treffen, die vor dem Krieg geflohen sind, der ihre Heimat zerstört hat.
"Diese Ungeheuer … am besten nach Polen treiben und sie dort einschließen"
Natalja stammt aus Gorlowka, einer Stadt bei Donezk. Gorlowka wurde bekanntlich vor einigen Jahren Schauplatz der grausamsten und verheerendsten Kämpfe. Am Morgen vor dem Interview sah ich die aktuellen Berichte durch: Sie machten deutlich, dass sowohl Donezk als auch die umliegenden Gebiete wieder zum Gebiet aktiver Kriegshandlungen wurden – zu einem Gebiet, das selbst die meisten Kriegsberichterstatter nicht mehr betreten durften.
Während wir uns unterhalten, trinkt Natalja weiter Kaffee, raucht Kette und versucht, einen kräftigen Jungen von etwa fünf Jahren im Zaum zu halten. Natalja ist mit ihrem jüngeren Sohn und dem Enkel hier. Ihr Mann, der bei der Volksmiliz der DVR dient, hielt es für das Beste, sie an einen sichereren Ort zu bringen.
"Am 18. Februar wurden wir nachts beschossen. Ein Geschoss ist unweit von uns explodiert. Gott sei Dank wurde niemand von uns verletzt, aber wir haben große Angst bekommen, vor allem der Kleine. Sobald die Evakuierung angekündigt wurde, haben wir gepackt und gingen los. Dafür haben wir nicht länger als 15 Minuten gebraucht."
"Mein Mann ist seit Mai 2014 bei der Miliz. Letztes Jahr waren wir richtig mittendrin und haben alles mit eigenen Augen gesehen. Unser Sohn ist 14 Jahre alt – und ein sehr verängstigter Junge. Er war erst fünf Jahre alt, als der Krieg begann. Weit früher als viele andere Sachen hat er gelernt, auf Luftangriffswarnungen zu reagieren: Wenn wir 'Flur!' riefen, bedeutete das, dass er sich sofort im Wohnungsflur verstecken soll, denn dieser hat keine Fenster und war der sicherste Ort im Haus. Wir haben uns immer im Flur versteckt. Einen Keller, den wir benutzen konnten, hatten wir nicht."
"In den letzten Jahren gab es viel Artilleriebeschuss. Es fühlt sich fast so an, als hätte man uns jeden Tag beschossen. In den Jahren 2014 und 2015 wurde Gorlowka auch sehr viel beschossen. Dann wurde es weniger intensiv, und die Mörsergranaten landeten meist in den Außenbezirken – und die zentralen Teile der Stadt blieben sicher. Aber jetzt ist es wieder schlimm geworden, und es gibt kein Haus mehr, in dem die Fensterscheiben noch da wären. Der Beschuss ist massiv. Wir haben wirklich Angst um das Leben unserer Angehörigen, die noch dort sind. Ich habe Schwierigkeiten, meinen Mann zu erreichen. Er ruft mich an, wann immer er kann, und wenn ich sofort abnehme, dann können wir auch reden. Aber wenn ich sein Zeitfenster verpasse, muss ich bis zum nächsten Mal warten, wenn er versucht, mich zu erreichen. Ich habe Angst."
"Es war eine sehr beängstigende Erfahrung. Man lernt, die Bedrohung an ihrem Klang zu erkennen. Du hörst erst den Abschuss, hörst das Geschoss kommen – und zählst eins, zwei, drei, vier, fünf, Explosion ... Dann muss man sich im Flur verstecken. Wenn das Geschoss länger braucht, bevor es explodiert, dann landet das nächste vielleicht ebenfalls weiter weg – aber man weiß ja nie, vielleicht landet es ja auch näher. Wenn es ein pfeifendes Geräusch macht, ist es ein 120-Millimeter-Mörser. Wenn es ein raschelndes Geräusch macht, ist es ein 152-Millimeter-Geschütz. Aber man kann nicht wirklich abschätzen, wo es einschlagen wird. Nach jedem Schuss haben wir 10 bis 20 Minuten Ruhe. Und in dieser Zeit können wir uns fortbewegen."
"Man muss immer auf der Hut sein und genau hinhören, und darf nicht einmal im Schlaf unachtsam sein. Man muss sich auch umsichtig bewegen: Wenn man Explosionen hört, sollte man sofort in Deckung gehen und sich verstecken – daher muss man immer vorher überlegen, wo und wie man sich wird wegducken und verstecken kann."
"Im Jahr 2014 waren wir nicht vorbereitet, und viele wurden getötet oder verletzt. Jetzt versuchen die Menschen, sich in Sicherheit zu bringen – und sie wissen auch, wie man das macht. Meine Nachbarin kämpfte sogar an der Front – in den Schützengräben. Sie hatte drei Gehirnerschütterungen und kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dienen."
"Als wir hier im Hotel ankamen, gab es ein Feuerwerk. Es war wunderschön; nicht weit von hier wurde eine Party gefeiert, glaube ich. Mein Sohn sprang vom Bett auf und schmiss sich auf den Boden – bei ihm schon eine Gewohnheit. Mein Enkel wurde nervös, 'Oma, was ist das?' Also mussten wir mit ihm nach draußen gehen und ihm zeigen, dass es wirklich ein Feuerwerk war und nicht die Bomben."
"Auch vor Flugzeugen hatten wir hier anfangs Angst: Das letzte Mal, dass wir für kurze Zeit hierher evakuiert werden mussten, war nach Luftangriffen. Es ist ein Reflex – wenn man ein Flugzeug sieht, auch ein ziviles, duckst du dich weg, legst dich auf den Boden und suchst Deckung."
"Wir haben immer versucht, unsere Kinder zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Dann, wenn der Beschuss nicht so stark war, konnten die Kinder manchmal draußen frei spielen."
Auf die Frage, was die Menschen aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk über die aktuellen Ereignisse denken, antwortet Natalja sofort: Denn sie weiß, wem sie verbunden ist und warum.
"Die Menschen sind glücklich. Natürlich sind sie verängstigt – aber glücklich. Das ist ein Fortschritt, endlich. Acht Jahre lang haben wir von Feinden umgeben gelebt. Und jetzt beschießen sie uns noch mehr, Menschen sterben – doch das ist ein Anfang, wir werden diese ... Ungeheuer bestrafen. Ja, Ungeheuer, anders kann ich sie nicht nennen."
"Wir sind wütend. Wir sind müde. Wir warten darauf, dass sie endlich weggedrängt werden – je weiter weg, desto besser. Am besten nach Polen treiben und sie dort einschließen. Und mehr als alles andere wollen wir zu Hause leben. Hier ist es gut, die Leute helfen uns – aber wir haben ein Zuhause. Ich bin in Gorlowka geboren."
"Vor dem Krieg war mein Mann Bergarbeiter. Er arbeitete in einer Zeche, bis das Haus der Gewerkschaften in Odessa mit Menschen darin niedergebrannt wurde. Das geschah am 2. Mai – und am 5. Mai arbeitete mein Mann seine Schicht zu Ende und zog in den Krieg. Und seitdem habe ich ihn nicht mehr oft gesehen. Er kommt uns selten besuchen. Jetzt werden wieder Grad-Raketen auf Gorlowka geschossen. Die Explosionen habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: Es ist besser, sich von dort fernzuhalten."
"Im Jahr 2014 wurde eine Familie in einem Haus neben unserem getötet: Eine Granate schlug im 8. Stock des Wohnhauses ein. Ehemann, Ehefrau, ihr Sohn, der gerade in die erste Klasse eingeschult worden war, und ihre 5-jährige Tochter. Vier Stockwerke stürzten nach dem Einschlag der Granate ein. Das Gebäude wurde zwar repariert, aber die Menschen haben zu viel Angst, um dort zu wohnen."
"Womit haben wir das verdient? Weil wir uns geweigert haben, Ukrainisch zu sprechen und unsere Kinder auf Ukrainisch zu unterrichten? Weil wir den Tag des Sieges feiern wollten? Oder weil wir unsere Alten und unsere Geschichte achten? Warum mussten sie uns dafür umbringen?"
"Ich verstehe kein Ukrainisch. Ich bin in der Ukraine geboren und aufgewachsen, aber ich habe hauptsächlich russische Wurzeln. Mein Sohn kennt sich gut mit Geschichte aus – er lernt das gern. Und er weiß ganz genau, dass wir kein Teil der Ukraine sind und es auch nie waren. Es ist unsere Region mit all ihren Ressourcen, die die Ukraine 'ernährt' hat – und dann sagen sie, wir seien arm und müssten subventioniert werden."
"Wie das wirklich ist, können keine Worte beschreiben"
Die ältere Dame Nelli Iwanowna, ebenfalls aus Gorlowka, wurde mit ihrem Enkel nach Rostow evakuiert. Sie hat noch Verwandte und Freunde, die in Donezk und anderen Orten in der Volksrepublik Donezk leben. Bei unserem Gespräch mischt sich Jelena, eine jüngere Frau aus Donezk, gelegentlich in das Gespräch ein. Auch andere Frauen, alle mit kleinen Kindern, haben etwas zu sagen.
"Seit 2014 leben wir unter Artilleriebeschuss. Wir sprechen immer wieder mit den Medien darüber, aber es ändert sich nichts. Das ist nicht normal. Wir leben in einem ständigen Zustand der Angst und Sorge. Wenn sie uns tagsüber beschießen, dann wissen wir wenigstens, wohin wir rennen können – aber nachts ist es viel einfacher, in Panik zu verfallen. Man muss das selbst erlebt haben, um es zu verstehen: Ich könnte stundenlang über diese Sachen reden – aber wie das wirklich ist, können keine Worte beschreiben."
Der Krieg zog sich hin – und die Frauen in der Donezker Volksrepublik haben gelernt, sich bei Beschuss zu schützen. Sie erzählen uns, wie man sich von einer Deckungsgelegenheit zur anderen bewegt, wie weit die Splitter der Granaten fliegen, und viel mehr – wenn sie nach dem Leben in ihren Heimatstädten gefragt werden, kommt ihnen das alles anscheinend als Erstes in den Sinn.
"Früher war ich mit einer Familie aus Poltawa gut befreundet. Sie sprechen Ukrainisch. Die Sprache liebe ich ja, wirklich – sie ist so reich und melodisch. Man darf die Sprache niemals als Vorwand für einen Krieg benutzen! Früher rief ich meine ukrainischen Freunde an und erzählte ihnen von unserer Lage, von den ganzen Artilleriebeschüssen. Es schien, als ob sie uns in unserer Not hörten, als ob sie mit uns mitfühlten. Doch jetzt, wo sie Explosionen gerade einmal außerhalb ihrer eigenen Stadt gehört haben, geraten sie in Panik: Die Russen dringen in unser Land ein! Wir leben seit acht Jahren so, und es geht immer noch so weiter", sagt Nelli Iwanowna.
"Neulich habe ich meine Verwandten angerufen: Sie sagten, am 3. Februar sei eine Granate in ein Haus in der Korolenko-Straße eingeschlagen. Das ist der zentrale Teil der Stadt. Eine Familie wurde verwundet – mit zwei kleinen Kindern. Die Menschen haben Angst, ihre Häuser zu verlassen, aus Angst vor neuen Angriffen. Es ist ein Albtraum."
Nelli Iwanowna spricht auch von der "Madonna von Gorlowka": Unter diesem Namen wurde Kristina Schuk in den sozialen Medien bekannt, nachdem sie im Juli 2014 zusammen mit ihrer 10 Monate alten Tochter von der Explosion eines ukrainischen Geschosses getötet worden war. Als es passierte, war Kristina mit ihrer Tochter im Park spazieren. Ein Journalist, der zufällig dort war, wurde Zeuge der letzten qualvollen Momente der Frau (die Tochter war bereits in den Armen der Mutter gestorben) und lieferte einen der ersten fotografischen Beweise dafür, dass die Ukraine wahllos Waffen gegen Zivilisten im Donbass einsetzt.
Wessen Haus einen Keller hat, der hat Glück
Nelli Iwanowna kann sich nicht mehr an den Namen der ermordeten Frau erinnern. Doch sie sagt, dass deren Geschichte das Leben in Gorlowka während des ganzen Donbass-Konflikts widerspiegelt: Sowohl in Gorlowka als auch anderswo in der DVR stehen Denkmäler für die im Krieg ermordeten Kinder, erinnert die Dame. Doch die Erinnerung an diese Kinder lebt nur in den Herzen der Augenzeugen, die den Tod mit eigenen Augen gesehen haben – meist der Einwohner dieser Orte.
"2014 war ich losgegangen, um etwas zu kaufen, und hörte dieses Pfeifen. Jemand rief uns zu, wir sollten uns hinlegen, und alle legten sich hin. Mehrere Granaten schlugen ein. Ich lag eine Weile auf dem Boden, aber als es ruhiger wurde, beschloss ich, zu irgendeinem Schutzraum vorzustoßen. In der Nähe gab es eine Kirche – sehr schön und neu. Viele Menschen rannten dorthin, und ich fragte mich: 'Werde ich es wohl schaffen?' Also rannte ich. Ich schätze mal, die Angst hat mir geholfen – denn ich rannte sehr schnell. Ich war dabei, in den Keller der Kirche hinunterzusteigen, als ich wieder die Granaten anfliegen hörte. Sie schlugen in der Nähe ein, und ich war erleichtert, dass ich den richtigen Zeitpunkt gewählt hatte."
"Im Keller befanden sich viele Menschen, auch Kinder. Die Ministranten brachten allen Tee und etwas zu essen und legten Matratzen aus. Einige Familien lebten praktisch in diesem Keller und anderen Kellern – monatelang. Diejenigen, die noch in sowjetischen Wohngebäuden oder Privathäusern wohnten, also mit richtigen Kellern, waren die Glücklichen. Ich wohnte in einem neueren Gebäude, im obersten Stockwerk, sodass ich während des Beschusses nirgendwohin fliehen konnte. Es ist ein übles Gefühl, wenn man die Schrecken um sich herum sieht und nichts dagegen tun kann. Als ich im Jahr 2015 evakuiert wurde, wurde unser Wohngebäude von einer Granate getroffen. Mein Nachbar aus dem siebten Stock wurde verwundet."
"Meine Verwandten, die noch dort sind, sagen, dass der Beschuss nach der Evakuierung noch viel schlimmer wurde. Die ukrainischen Streitkräfte begannen, sowohl Donezk als auch dessen Außenbezirke zu beschießen. Aber es ist gut, dass es jetzt wenigstens keine Luftangriffe mehr gibt – früher haben sie uns aus der Luft beschossen und Wohngebiete getroffen."
"All die Jahre haben wir die Ukraine gebeten, einen Kompromiss zu finden und den Krieg zu beenden, aber Selenskij wollte nicht mit 'diesen Individuen' – so nannte er uns – reden. Der Präsident, den wir, die Menschen im Donbass, nicht einmal gewählt haben, will uns nicht zuhören."
"Im Jahr 2014 haben sich viele Menschen in den östlichen Regionen gegen das neue Regime aufgelehnt. Es gab keine Waffen – bestenfalls Keulen und Stöcke. Damals hielten die ukrainischen Panzerfahrzeuge an und drehten um. Sie hatten keinen Befehl, Proteste niederzuschlagen. Gewöhnliche ukrainische Soldaten waren dazu nicht in der Lage – das konnten nur die bewaffneten Banden tun."
"Es gibt Politiker in der Ukraine, die der Meinung sind, dass wir nicht hier sein sollten, dass wir es nicht verdienen, hier auf unserem Land zu leben. Sie sehen uns nicht als Menschen an. Naja, wir wollten aber auch nicht Teil ihres Landes bleiben. Es geht nicht um die Sprache – es ist eine schöne Sprache, ich habe sie in der Schule gelernt. Was hat die Sprache mit der Tatsache zu tun, dass sie von Idioten gesprochen wird? Wenn Russland sich nicht eingemischt hätte, hätten sie es wieder versucht und uns beschossen. Ohne Russland würden wir es nicht schaffen. Und die USA bereichern sich nur an dem Krieg".
Auf die Frage nach ihren Zukunftserwartungen müssen die Frauen erst um Worte ringen. Dann sagen sie schließlich einfach, dass sie ein friedliches Leben wie früher führen wollen – arbeiten und ihre Kinder großziehen. Derweil kommen jeden Tag mehr und mehr Flüchtlinge aus den neuen Republiken nach Russland.
Mehr zum Thema – Russlands Außenministerium: Donbass und Ukraine 2014-2022 – Die Gründe für den Militäreinsatz
Übersetzt aus dem Englischen