Eine Analyse von Iwan Timofejew
Moskaus wichtigste Forderung wurde zurückgewiesen: rechtsverbindliche Garantien, mit denen von einer möglichen weiteren Expansion des NATO-Bündnisses, insbesondere in die Ukraine, abgesehen wird. Die übrigen Angebote seitens des Westens werden wenig dazu beitragen, die Situation zu entschärfen oder Kompromisse zu erzielen. Einige Vorschläge sind für Moskau schlicht unannehmbar, zum Beispiel ein Abzug russischer Truppen aus Abchasien, Südossetien, Moldawien oder von der Krim.
Andere Vorschläge sind gar nicht realisierbar. Darunter ist die Idee, zur Umsetzung des Vertrags über konventionelle Waffen in Europa zurückzukehren. Bisher hat jedoch noch kein einziger NATO-Staat die angepasste Fassung von 1999 ratifiziert. Russland hat also keinen Grund, sein Moratorium für dessen Umsetzung aufzuheben. Andere Vorschläge wären zwar in der Praxis umsetzbar, führen aber kaum zu greifbaren Ergebnissen, so wie etwa die Wiederaufnahme des Dialogs über Sicherheitsfragen, auch im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dialog ist an sich wichtig, aber ohne den politischen Willen, konkrete Ergebnisse zu erzielen, ist er nutzlos. Es gibt aber auch einige Vorschläge, die als Grundlage für die Zukunft angesehen werden können. Dazu gehört die Inspektion von Anlagen zur Raketenabwehr oder die Berücksichtigung neuer Waffensysteme bei Verhandlungen über strategische Stabilität. Die kritische Masse dieser Vorschläge wird jedoch die Situation nicht radikal ändern.
Stolperstein bleibt das Verständnis des Konzepts der "unteilbaren Sicherheit". Russland besteht darauf, dass der Westen seine eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit Russlands stärkt, wenn er den postsowjetischen Ländern die Freiheit gewährt, sich ein Bündnis (nämlich die NATO) zu wählen. Das heißt, durch die Übernahme solch eines Prinzips der Bündniswahlfreiheit wird das entscheidende Prinzip der unteilbaren Sicherheit in Europa ausgehöhlt. Brüssel und Washington antworten mit der bekannten These, die NATO sei ein Verteidigungsbündnis und keinerlei Gefahr für Russland, Moskau brauche sich also keine Sorgen zu machen. Russland ist da anderer Meinung – und das aus triftigen Gründen.
Hochrangige NATO-Vertreter und einzelne Länder der Allianz haben wiederholt erklärt, dass Russland ein potenzieller Gegner ist. Die Infrastruktur des Bündnisses an der Ostflanke wird ausgebaut, wenn auch nur schrittweise. Die Aktion der NATO im Jahre 1999 in Jugoslawien kann keineswegs als "defensiv" betrachtet werden, ebenso wenig wie das Vorgehen einzelner Mitgliedsländer, die an einer Reihe anderer Konflikte beteiligt sind. Daher wird Moskau die Zusicherungen guter Absichten nicht ernst nehmen können. Das Problem liegt jedoch tiefer. Die Prinzipien, auf die sich Russland und der Westen berufen, wurden zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen politischen Umständen geboren. Sie wurden am Ende des Kalten Krieges verkündet – das heißt, als es eine Bewegung weg von der Konfrontation, hin zu einer friedlichen Koexistenz und sogar zu künftiger Partnerschaft gab.
Unter friedlichen und partnerschaftlichen Bedingungen war die Umsetzung des Prinzips der unteilbaren Sicherheit nicht schwierig. Eine andere Sache ist, dass solch eine Partnerschaft niemals vollständig vollzogen wurde. Der Westen ging davon aus, Russland sei schwach und zum weiteren Niedergang verurteilt und hätte daher gar keine Alternative. Russland könnte sich einfach keine Konfrontation mehr leisten und würde den Siegeszug der Vereinigten Staaten und der NATO nach Osteuropa schlucken müssen. Allerdings bestand zu dieser Zeit auch die reale "Gefahr", dass die NATO gänzlich überflüssig und irrelevant werden könnte. Die NATO-Allianz durchlebte schwere Zeiten. Die Verteidigungsetats schrumpften, Militärprogramme wurden gekürzt und ein beträchtlicher Teil der amerikanischen und britischen Truppen verließen Kontinentaleuropa. Manöver der NATO boten einen zunehmend erbärmlichen Anblick.
Ihre geografische Expansion führte nicht zu einer Erhöhung der Sicherheit. Und das zwar nominelle Wachstum der US-Verteidigungsausgaben wurde in endlosen Kriegen im Nahen Osten verteilt, nicht in Europa. Russlands rasche Rückkehr in den Club der Großmächte, seine Unzufriedenheit mit dem Status quo und seine entschlossene Reaktion auf die Aktionen Georgiens im Jahr 2008 und dann auf die Ereignisse in der Ukraine im Jahr 2014 wurden zu einem echten Geschenk für die NATO-Bürokraten und Militärs. "Hier ist er – der lang ersehnte alte und neue Feind! Das sind keine amorphen Terroristen, sondern das ist eine vollwertige Großmacht, ein gefährlicher Feind mit eigener Philosophie und eigenen Ambitionen."
Sowohl Russland als auch die NATO haben ihre früheren Rivalitäten neu entfacht und versuchen, ihre Ansprüche zu untermauern, indem sie die allgemeinen Grundsätze zitierten, die sie während der Zeit der Entspannung am Ende des Kalten Krieges aufgestellt hatten. Das Problem ist jedoch, dass diese Grundsätze in einer Atmosphäre der Konfrontation einfach ungeeignet sind. Es ist unmöglich, Kompromisse auf der Grundlage von Postulaten aus einer anderen Realität zu schließen. Früher oder später werden die aktuellen Spannungen ihnen den Garaus machen und beide Seiten zwingen, über neue Kategorien und Prinzipien nachzudenken. Unter den gegenwärtigen Umständen stellen die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Freiheit zur Bündniswahl, die Unteilbarkeit der Sicherheit eine Art Utopie dar, auch und gerade im postsowjetischen Raum. Einmischung herrscht hier überall, Freiheit der Bündniswahl ist illusorisch und Sicherheit ist durchaus teilbar. Das Problem wird durch die Schwäche vieler postsowjetischer Staaten, nämlich durch archaische Institutionen, unverträgliche Niveaus für eine Modernisierung und durch interne Krisen verschärft.
Die Antwort auf die Frage aus dem Westen "Was ist zu tun?" unterscheidet sich natürlich stark von dem, was von Russland vorgeschlagen wurde. Der Westen hält es nach wie vor für erstrebenswert, zum bisherigen Lauf der Dinge zurückzukehren, der durch ein hartnäckiges Moskau gestört wurde: "Die strahlende Zukunft des postsowjetischen Raums liegt in westlichen Strukturen oder in deren Nähe. Es gibt keine Alternativen zu Demokratie und Markt. Und es ist besser, wenn der Kreml still zusieht. Bevor man sich versieht, wird Russland an den gemeinsamen Tisch eingeladen … das heißt natürlich nur, wenn auch die Ukraine, Georgien, die baltischen Staaten und andere es zulassen."
"Nein, Leute, so läuft das nicht", heißt es hingegen aus Moskau. "Demokratie und Markt lassen sich nicht wie eine lineare Gleichung anwenden. Das lässt sich deutlich an den Erfahrungen in Afghanistan und anderen 'demokratisierten' Ländern ablesen. Aber für Russland ist dieses Thema zweitrangig. Eigentlich versuchen wir nicht, alternative Modelle vorzuschlagen. Moskau kümmert sich wenig um die wirtschaftliche oder gar politische Struktur seiner Nachbarn. Russland ist nur besorgt durch eine Sache – dass seine schwächeren Nachbarn von stärkeren Spielern für deren militärischen Vorteil benutzt werden." Das ist das Schlüsselproblem. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass Moskau von seiner Haltung ablassen wird.
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Übersetzt aus dem Englischen
Iwan Timofejew ist Programmdirektor im Waldai-Klub und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.
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