eine Analyse von Jewgeni Norin
Leutnant Oleg Mochalin plante weder eine militärische Karriere, noch dachte er jemals daran, in den Krieg zu ziehen. Er war ein ganz normaler Bürger aus dem karelischen Land, an der Grenze zu Finnland, das bekannt ist für seine üppigen Wälder. Er hatte einen Universitätsabschluss, eine Arbeitsstelle als Ingenieur und sollte bald heiraten. Alles, was er noch hinter sich bringen musste, war der Dienst in der Armee.
Damals verlangte die russische Regierung von allen männlichen Hochschulabsolventen eine zweijährige Dienstzeit als untergeordnete Militäroffiziere. So wurde Mochalin einem motorisierten Schützenregiment in der zentralrussischen Stadt Samara zugeteilt. Im Dezember 1994 wurde das Regiment nach Tschetschenien in Marsch gesetzt.
Zu dieser Zeit verbreitete sich die Nachricht, dass die Dinge in der Republik Tschetschenien aus dem Ruder liefen; dass General Dudajew einen Aufstand begonnen und die Unabhängigkeit seiner Republik erklärt hatte. Trotzdem waren sich alle ziemlich sicher, dass das Eingreifen der russischen Armee dem Spuk ziemlich schnell ein Ende setzen würde. Mochalin schrieb nicht einmal einen Brief an seine Eltern, da er der Meinung war, dass es die Mühe nicht wert war. Jedoch hat er seine Verlobte darüber in Kenntnis gesetzt, dass er in den Krieg ziehen würde. Anfang Januar erhielt sie von ihm einen Brief, in dem er ihr schrieb, dass er in die aufständische Republik einrücken würde. Als sie den Brief bekam, war Mochalin schon mehrere Tage tot.
Der 23-jährige Leutnant war einer von Tausenden Russen und Tschetschenen, die zwischen Dezember 1994 und März 1995 in der langwierigen Schlacht um Grosny getötet wurden. Der Kaukasus war mehrere Monate lang Schauplatz eines Stellungskrieges, der sich als der blutigste aller bewaffneten Konflikte herausstellte, die sich auf den Territorien der ehemaligen UdSSR entwickelt haben. Der Konflikt wischte buchstäblich eine Stadt mit einer halbe Million Einwohner vom Gesicht der Erde.
Ein kleiner Ort – ein großes Problem
Tschetschenien ist eine verhältnismäßig kleine Republik im Nordkaukasus, die sich von Norden nach Süden über 150 Kilometer und von Osten nach Westen über 100 Kilometer erstreckt. Sie wurde im 19. Jahrhundert nach einem langen blutigen Krieg Teil des Russischen Reiches. Tschetschenien war in diesem Konflikt nicht Russlands Endspiel, aber das russische Imperium musste einen sicheren Transitweg zu seinen neuen Untertanen in Georgien und Armenien sicherstellen.
Um dies zu gewährleisten, errichtete der Zar seine Herrschaft über das arme Berggebiet nördlich des Großkaukasus. In den 1860er Jahren hatten die tschetschenischen Clans größtenteils kapituliert, aber es kam weiterhin zu Aufständen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die tschetschenische Gesellschaft zu einem eigentümlichen egalitären Netzwerk ohne Aristokratie entwickelt, und die Tschetschenen entwickelten ein Talent für die Durchführung von hinterhältigen Überfällen, was zur meist angewendeten Taktik zum Tragen kam, um dadurch das eigene Überleben zu sichern.
Die Festung namens Grosnaja – ein Adjektiv, das "furchterregend" bedeutet – wurde als Teil der Kampagne zur Eindämmung des Widerstands gebaut. Mit der Zeit wuchs daraus die Stadt Grosny. Die Erschließung der Ölvorkommen Tschetscheniens im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gab der Entwicklung der Stadt zu einem lokalen Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum einen enormen Impuls. Nach der Oktoberrevolution wurde die sich entwickelnde Republik Teil der jungen Sowjetunion.
Die Dinge änderten sich dramatisch, als Stalin 1944 die Tschetschenen und die nahe gelegenen Inguschen aus ihrer Heimat nach Zentralasien deportieren ließ, als Vergeltung für die angebliche Kollaboration mit deutschen Nazi-Truppen an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs. Im Exil wurde die tschetschenische Gesellschaft immer konservativer und starrer. Der Entwicklungs- und Modernisierungsgeist war im Keim erstickt worden. Mitte der 1950er Jahre durften die Tschetschenen wieder in ihr Stammland zurückkehren, wo sie sich einer veränderten Situation gegenübersahen.
Zahlreiche Russen waren gekommen, um in Grosny und anderen Städten in Tschetschenien zu arbeiten und um lokale Geschäfte in Abwesenheit der Tschetschenen am Laufen zu halten. Historisch gesehen war der nördliche Teil Tschetscheniens auch die Heimat vieler Nachkommen der Kosaken, die sich bereits im 16. Jahrhundert dort niederließen. Die Spannungen zwischen Russen und Tschetschenen nahmen stärker denn je zu. Dennoch war Grosny bis zum Zusammenbruch der UdSSR eine multiethnische Stadt: Russen stellten etwa die Hälfte der Bevölkerung, außerdem gab es relativ große ukrainische und armenische Gemeinden.
Tschetschenien reagierte auf die Auflösung der Sowjetunion 1991 ähnlich wie andere ehemalige Sowjetrepubliken. Nationalisten unter Führung des sowjetischen Generals Dschochar (der einzige Tschetschene, der zu dieser Zeit diesen Rang innehatte) übernahmen die Macht. Dudajew, ein Mensch mit extrem nationalistischen Ansichten und großem Ehrgeiz, war ein talentierter Politiker und Redner. Unter seiner Führung erklärte Tschetschenien seine Unabhängigkeit. Es gelang jedoch nicht, ein voll funktionsfähiger Staat zu etablieren, da der Machtanspruch von Dudajew von einer Reihe lokaler Kriegsfürsten bestritten wurde, darunter auch von Schamil Bassajew, der für seine Passagierflugzeugentführung im Jahr 1991 berüchtigt war, und dem Separatisten Ruslan Gelajew.
Darüber hinaus wollte ein erheblicher Teil der Bevölkerung jedoch keine Unabhängigkeit von Russland. 1993 tobte in Tschetschenien de facto ein Bürgerkrieg, und Russland unterstützte stillschweigend die Gegner von Dudajew. Der Kampf dauerte etwa ein Jahr und führte zu einer Pattsituation: Die Opposition konnte die Truppen von Dudajew nicht besiegen und umgekehrt, während der Kreml in Verhandlungen keinen Kompromiss mit Dudajew erzielen konnte.
Tschetschenien wurde für Russland zu einem großen Problem. Die Anarchie und der schwelende Konflikt führten zu Kriminalität, während die legalen wirtschaftlichen Strukturen auseinanderfielen und viele aus der Republik zu fliehen begannen. Anfangs waren es hauptsächlich Russen, später gesellten sich eine beträchtliche Zahl von Tschetschenen dazu.
Die russische Gemeinde bekam das bleierne Ende des Hammers zu spüren: Ohne Schutz durch die tschetschenischen Clans wurden sie zu Freiwild. Viele wurden ausgeraubt und getötet, Frauen vergewaltigt. Grosny wurde schließlich von Banden regiert, die Russen als ideale Opfer betrachteten, da sie deren Eigentum, ihr Geld oder sogar deren Leben ohne Angst vor einer Blutrache nehmen konnten.
Das Regime von Dudajew hielt sich mit einer Reihe krimineller Aktivitäten am Leben, darunter illegaler Ölhandel, Waffenhandel, Überfälle auf Reisezüge und Bankbetrug, um nur einiges zu nennen. Entführungen und anschließende Lösegeldforderungen waren ein besonders boomendes Geschäft und Tschetschenien wurde zu einem sicheren Hafen für Kriminelle aus anderen Teilen Russlands. Darüber hinaus öffneten lokale Gefängnisse ihre Türen und entließen einige Schwerverbrecher wieder in die Gesellschaft.
Als die Lage außer Kontrolle zu geraten schien, versuchte Moskau, Tschetschenien durch eine verdeckte militärische Operation zu stabilisieren. Im November 1994 versuchte die Opposition, die Stadt zu erobern, unterstützt durch Panzer, die mit den für diesen verdeckten Einsatz rekrutierten russischen Armeesoldaten besetzt waren. Der Versuch scheiterte kläglich: Die Oppositionstruppen erwiesen sich im Kampf als wirkungslos, die Panzer wurden mit Granatwerfern ausgeschaltet. Ungefähr 20 russische Soldaten wurden gefangen genommen und im Fernsehen vorgeführt, was sowohl die russischen Medien als auch die Öffentlichkeit in einen Schockzustand versetzte.
Daraufhin befahl der damalige Präsident Boris Jelzin eine militärische Kampagne gegen Tschetschenien. Diese Entscheidung erwies sich als zu vorschnell und zu sehr von Emotionen getrieben. Insgesamt war in den 1990er Jahren der Umgang der russischen Regierung mit der Region katastrophal und angetrieben vom Wunsch, die Probleme so schnell wie möglich zu lösen. Dabei ging es nicht mal so sehr darum, gegen die Separatisten vorzugehen. Als die UdSSR 1991 zusammenbrach, gab es kaum eine militärische Reaktion darauf, wenn ehemalige Sowjetstaaten nacheinander ihre Unabhängigkeit erklärten. Tatsächlich unterstützte Jelzin die Unabhängigkeitsbestrebungen öffentlich und forderte die Republiken auf, "sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie schlucken können". Trotzdem war die russische Regierung darauf fixiert, die Krise in Tschetschenien zu lösen. Und zwar schnell.
Die russischen Streitkräfte waren damals schlecht auf einen großen Feldzug vorbereitet. Aufgrund der Wirtschaftskrise, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, verschlechterte sich der Zustand der Armee zusehends. Unzufrieden mit den kümmerlichen Gehältern und den ständigen Verzögerungen bei deren Auszahlung, verließen massenhaft Offiziere die Streitkräfte. Auf vielen Stützpunkten wurde die militärische Ausbildung neuer Rekruten ganz eingestellt. Die Armee war stark unterbesetzt, während Soldaten, anstatt die Kunst des Krieges zu erlernen, oft mit sinnlosen Aufgaben beschäftigt waren oder damit, die riesigen Militärarsenale der Sowjetzeit einigermaßen in Schuss zu halten.
Darüber hinaus wurde der Feldzug nach Grosny so eilig gestartet, dass die Truppen keine Zeit hatten, sich darauf vorzubereiten oder im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu sammeln. Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein. Die Kämpfer von Dudajew befanden sich hauptsächlich in Grosny, aber auf dem Weg dorthin stieß Russlands Angriffstruppe auf erheblichen Widerstand und musste mehrere Angriffe abwenden, wodurch ihre Ankunft in der Stadt effektiv um zwei Wochen verzögert wurde.
Der Entschluss, Grosny anzugreifen, fiel Ende Dezember 1994. Der hastig vorbereitete Offensivplan bestand im Wesentlichen darin, aus verschiedenen Richtungen in die Stadt einzudringen und den Feind mit massiven Truppen und schwerer Bewaffnung zu überwältigen. Während auf dem Papier alles gut aussah, waren viele der Bataillone tatsächlich nur etwa 150 bis 200 Mann stark und darunter befanden sich viele junge und unerfahrene Soldaten. Insgesamt nahmen etwa 5.000 russische Soldaten an der ersten Angriffswelle teil. Dudajew hatte in Grosny einen kleinen numerischen Vorteil: Die tschetschenischen Kämpfer waren als leichte Infanterie aufgestellt und sie waren sehr gut im taktischen Manöverkrieg.
Die meisten russischen Offiziere vor Ort hatten keine Landkarten der Gegend bekommen. Sogar die obersten Kommandeure sahen kurz vor der Operation einige wenige Luftaufnahmen des Operationsgeländes. Kommandant der Vereinigten Angriffskräfte war General Anatoli Kwaschnin, der nur wenige Tage vor der Operation an diesen Posten kommandiert wurde. Kwaschnin hatte bis dahin weder an militärischen Aktionen teilgenommen, noch je Truppen im Feld kommandiert.
Die Männer von Dudajew hingegen hatten sich auf einen echten Kampf vorbereitet. Sie hatten keine für europäische Armeen typische strenge Befehlskette, waren aber dennoch ein furchterregender Gegner. Die Kämpfer wurden in kleine Kampfgruppen aufgeteilt, denen verschiedene Gebiete zugewiesen wurden, um diese abzudecken. Sie hatten viele Panzerabwehr-Granatwerfer, und ihre Strategie bestand darin, schnell zuzuschlagen und danach sofort den Rückzug anzutreten und so immer in Bewegung zu bleiben. Die tschetschenischen Militanten zielten darauf ab, russische Truppen in den Nahkampf zu verwickeln, was es den Russen unmöglich machte, Artillerie- oder Luftunterstützung einzusetzen.
Der Angriff an Silvester
Am Morgen des 31. Dezember näherten sich Einheiten der russischen Armee Grosny aus vier verschiedenen Richtungen. Die Offensive verlief für die Gruppe Nord-Ost ziemlich gut, die von General Lew Rochlin kommandiert wurde. Er war ein Anführer, der dafür bekannt war, eingehende Befehle zu missachten, wenn er sah, dass sie der Situation vor Ort nicht dienlich waren oder gegen den gesunden Menschenverstand verstießen. Auch diesmal traf er seine eigenen taktischen Entscheidungen. Rochlin befahl seinen Truppen, breite Straßen zu meiden, da diese wahrscheinlich für Hinterhalte oder Sprengfallen präpariert worden waren. Seine Einheiten bewegten sich durch Hinterhöfe, um Wohnhäuser herum sowie über einen Friedhof und erlangten so die Kontrolle über einige zentrale Teile der Stadt. Rochlin ließ auch einige Kontrollpunkte im hinteren Teil seiner vorrückenden Einheiten einrichten, um die Kommunikationsketten zu sichern. Es war nicht das, was seiner Gruppe befohlen wurde. Am Ende des Tages stellte sich jedoch heraus, dass die Gruppe Nord-Ost die einzige der vier Stoßgruppen war, die sich eine stabile Stellung, in der Nähe der Konservenfabrik und des städtischen Krankenhauses, sichern konnte.
In der Zwischenzeit lief es bei den anderen Stoßgruppen nicht so gut. Die Gruppe Ost unter dem Kommando von Generalmajor Nikolai Staskow musste ohne Artillerieunterstützung vorrücken. Die neu rekrutierten 18-jährigen Kanoniere wussten schlicht nicht, wie man Waffen bedient. Die Gruppe Ost geriet sofort unter feindlichen Beschuss. Es erinnerte alles sehr an den Angriff amerikanischer Ranger in Mogadischu von 1993, nur dass hier Panzer und Schützenpanzer statt Humvees im Einsatz waren. Die gepanzerten Kolonnen der Gruppe rückten nur langsam vor, kamen aus allen Richtungen unter Feuer und erreichten erst am Ende des Tages zentrale Teile der Stadt. Die Nacht blieb ruhig, aber am frühen Morgen geriet die Gruppe Ost unter Beschuss durch die eigene Seite. Die Auswirkungen waren verheerend. Mit über 50 getöteten und verwundeten Soldaten musste die Gruppe den Rückzug antreten.
Währenddessen waren Fallschirmjäger und motorisierte Einheiten der Infanterie der Gruppe West im Lenin-Park, am Stadtrand von Grosny, in schwere Kämpfe verwickelt. Insgesamt gab es an dieser Front zwar keine katastrophalen Entwicklungen, aber es wurde klar, dass der ursprüngliche Plan, Grosny mit Panzern zu erobern, gescheitert war. Der Befehl, sich von Hinterhöfen und Wohnhäusern fernzuhalten, wurde vor Ort ignoriert, wodurch es am Stadtrand von Grosny zu schweren Kämpfen mit allen Arten von Waffen kam, einschließlich mit Panzern und schwerer Artillerie. Dies entstand völlig unerwartet und überraschte die Einwohner der Stadt.
Obwohl die Stadt bereits einige Luftangriffe erlebt hatte, zögerten die Menschen, ihre Häuser zu verlassen. Aber niemand hätte jemals gedacht, dass Kämpfe direkt in den Straßen ausbrechen würden. Die Rettungseinheiten des russischen Ministeriums für Notfälle in Grosny waren personell unterbesetzt, und es fehlte an Fahrzeugen und Ressourcen, um eine große Operation zur Evakuierung der Bevölkerung durchführen zu können. Auf der anderen Seite versuchten die Truppen von Dudajew tatsächlich, die Bevölkerung von der Flucht abzuhalten, indem sie den Menschen einbläuten, dass diejenigen, die es wagten, ihre Heimat zu verlassen, nach Sibirien verbannt würden.
Aber das Hauptdrama vom 31. Dezember 1994 und 1. Januar 1995 entfaltete sich an der Nordfront, an der die Gruppe Nord beteiligt war, die aus der 131. Brigade aus Maikop und dem 81. Motorschützenregiment aus Samara bestand. Diese Einheiten waren zwei Tage und zwei Nächte lang in brutale und tödliche Kämpfe verwickelt.
Der ursprüngliche Plan für die Brigade aus Maikop und das Regiment aus Samara sah eigentlich keine Katastrophe vor. Der Kommandostab bekam jedoch die sich entwickelnden Ereignisse nicht in den Griff und gab am Ende zu viele widersprüchliche Befehle aus. So wurde dem 81. Regiment befohlen, auf den Präsidentenpalast vorzurücken, der zu dieser Zeit der Hauptsitz der Regierung von Dudajew war, während die 131. Brigade die Anweisung erhielt, sich zum Bahnhof zu bewegen.
Die Gruppe erlitt Verluste, sobald sie die Stadt betreten hatte. Militante folgten den russischen Formationen dicht auf und beschossen sie von Dächern, Dachböden und Hinterhöfen aus. Den russischen Truppen war befohlen worden, Hinterhöfe oder Wohngebiete zu meiden und das Feuer nur als Vergeltung gegen feindliche Angriffe zu eröffnen. Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich weiter durch die Stadt durchzukämpfen und die Schläge des Gegners einzustecken. Videoaufnahmen zeigen russische Panzer und Schützenpanzer, die versuchen, mit voller Geschwindigkeit an bewaffneten Tschetschenen vorbeizufahren, während auf sie geschossen wird. Viele der Kampffahrzeuge wurden beschädigt.
Genau auf diese Weise wurde Leutnant Oleg Mochalin gefangen genommen – er wurde bei einer Schießerei mit tschetschenischen Militanten verwundet und sein Schützenpanzer in Brand geschossen. Später, während des Verhörs, zeigte er sich stolz und würdevoll. Als er der Feigheit beschuldigt wurde, sagte er, er sei erst gefangen genommen worden, nachdem er seine gesamte Munition aufgebraucht hatte. Wütend zerrte der tschetschenische Kommandant Mochalin aus dem Verhörraum. Einige Tage später wurde die Leiche von Mochalin aus Grosny abtransportiert.
Als die 131. Brigade unter dem Kommando von Oberst Sawin endlich den Bahnhof erreichte, war das 81. Motorschützenregiment aus Samara in der Nähe des Präsidentenpalastes in einen intensiven Kampf verwickelt. Die Angriffstruppe hatte eine kritische Unterbesetzung bei der Infanterie. Selbst als sich die Gelegenheit bot, tschetschenische Militante anzugreifen und zu eliminieren, standen dafür nicht genügend Truppen zur Verfügung. Ein weiteres Problem war, dass es zu viele junge Soldaten in der Truppe gab, die nicht wussten, wie man kämpft, so dass die Soldaten mit mehr Erfahrung die Lücken füllen mussten. Panzer und Schützenpanzer waren leichte Ziele. "Ich konnte keine Ziele erkennen und wenn, waren sie außerhalb meiner Reichweite. Ich hatte einen Panzer, keine Flugabwehr-Kanone", erzählt einer der Panzerfahrer, der die Schlacht überlebt hat. Der Kommandant des Regiments aus Samara war einer der ersten, der schwer verwundet wurde. Seine Truppen kamen von allen Seiten unter Feuer und versuchten verzweifelt, sich durch die Straßen zu manövrieren, wobei sie in alle Richtungen zurückschossen.
Inzwischen nahm die 131. Brigade den Bahnhof ein. Alle Fahrzeuge und Waffen wurden direkt davor geparkt. Als die Nacht hereinbrach, griffen die Tschetschenen die Brigade an, wobei sie aus den umliegenden Wohngebäuden in der Nähe des Bahnhofs und hinter abgestellten Zügen aus feuerten. Sehr bald erkannten die Soldaten der 131. Brigade, dass sie vom Feind umzingelt waren. General Kwaschnin, der für die gesamte Angriffsoperation verantwortlich war, glaubte immer noch daran, dass die Offensive gut lief, aber auf dem Schlachtfeld hätte ihm niemand zugestimmt. Es wurde versucht, die verwundeten Soldaten mit einem Schützenpanzer aus dem Bahnhof zu evakuieren, aber auch der wurde zusammengeschossen. Die Militanten schickten derweil immer mehr Kämpfer zum Bahnhof. Oberst Sawin wurde verwundet, führte aber weiterhin das Kommando.
Die Nacht machte deutlich, dass die 131. Brigade in großer Gefahr war. Sie war vom Feind umzingelt und zu weit von allen anderen Stoßgruppen entfernt. Unterdessen brauchte auch das 81. Motorschützenregiment, das um den Präsidentenpalast kämpfte, Hilfe, ebenso wie eine Reihe anderer Einheiten, die von den Angriffsgruppen abgeschnitten und in verschiedenen Teilen von Grosny von Militanten umzingelt worden waren. Alle Versuche, zum Standort der 131. Brigade vorzudringen, stießen auf heftigen Widerstand. Militante feuerten weiterhin Granaten von Dächern und Balkonen, überfielen die russischen Truppen und setzten Scharfschützen ein. Die Verstärkungen blieben unterwegs in heftigen Kämpfen stecken, erlitten Verluste und konnten so die eingeschlossenen Truppen nicht erreichen. Nur das Regiment aus Samara erhielt tatsächlich die dringend benötigte Unterstützung durch eine Verstärkungseinheit unter dem Kommando von Oberstleutnant Igor Stankewitsch, die es schaffte, sich mehreren isolierten Einheiten des Regiments im Stadtzentrum zu nähern und deren Rückzug zu organisieren.
Unterdessen gingen die Kämpfe am Bahnhof weiter. In der Nacht zum 1. Januar erkannte Oberst Sawin, dass keine Verstärkung kommen würde und beschloss, seine Truppen selbst zu retten. Die Munition war knapp, viele Soldaten waren verwundet und benötigten medizinische Hilfe. Die 131. Brigade reorganisierte sich in kleine Gruppen und versuchte so, die feindliche Linie zu durchbrechen. Vielen gelang die Flucht zu Fuß. Die Kampffahrzeuge mit den Verwundeten waren jedoch leichte Ziele, so dass die Zahl der Verluste rapide anstieg. Es war ein Blutbad, in dessen Folge auch Oberst Sawin getötet wurde. Beim Angriff auf eine Feuerstellung der Militanten wurde er von einem Splitter einer Handgranate getroffen.
Kämpfe in der Innenstadt
Der Angriff auf Grosny an Silvester wurde zu einer kompletten Katastrophe. Innerhalb weniger Tage wurden rund 500 russische Soldaten getötet. Die Verluste unter den Zivilisten und den tschetschenischen Militanten waren schwerer zu messen. Der Kampf war jedoch noch lange nicht vorbei.
Die Gruppe Ost und die Gruppe West bekamen neue Kommandeure, und die meisten der in der Stadt operierenden Streitkräfte wurden dem Kommando von General Rochlin unterstellt, dessen Gruppe die einzige war, die bisher in Grosny gut vorangekommen war. Auch wurde Verstärkung eingeflogen: Über 400 Soldaten des 45. Spezialregiments der russischen Luftlandetruppen und der Anti-Terror-Einheiten des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB). Dies waren ausgezeichnete Kämpfer, die eher für Spezialoperationen als für konventionelle Kriegsführung geeignet waren, aber die russische Armee hatte nicht genug gut ausgebildete Infanterie, um diese in die Kämpfe zu schicken. Zu den Verstärkungen gehörten auch eine motorisierte Schützenbrigade und eine Anzahl von Bataillonen der Marineinfanterie, die aber in Wirklichkeit aus Marineinfanterie und Schiffsbesatzungen zusammengewürfelt waren, letztere waren nicht mal für den Kampf ausgebildet. Zu den ersten Befehlen von General Rochlin gehörte die Evakuierung aus der Stadt der Überlebenden der 131. Brigade und des 81. Motorschützenregiments.
Eine neue Phase des Angriffs begann mit einem feindlichen Manöver. Die tschetschenischen Militanten versuchten, die Kommunikation zwischen allen russischen Angriffseinheiten und der Hauptstreitmacht mit Taktiken der Infiltration zu unterbrechen, indem sie kleine Gruppen in die rückwärtigen Gebiete der russischen Truppen schickten. Das 45. Regiment der russischen Luftlandetruppen und die Anti-Terror-Einheiten des FSB wurden mit der Beseitigung dieser Bedrohung beauftragt. Diese Spezialeinheiten waren für den Kampf im Dunkeln ausgebildet und für den Nachtkampf ausgerüstet, was ihnen einen klaren Vorteil gegenüber den tschetschenischen Militanten verschaffte. Die Operation dauerte einige Nächte. Infolgedessen sicherten die russischen Truppen die nördlichen Stadtteile von Grosny und begannen, in Richtung Stadtzentrum vorzudringen.
Zu diesem Zeitpunkt machte sich niemand mehr Illusionen über einen schnellen und leichten Sieg. Die Truppen konnten nur sehr langsam vorrücken, unter Anwendung von Feuer- und Bewegungstaktiken. Es war ein starker Kontrast zum ersten gescheiterten Versuch, in die Stadt einzudringen und zu versuchen, ungehindert vorzudringen.
Ein gutes Beispiel für den Verlauf der Schlacht war eine Operation zur Sicherung des Hochhauses des Instituts für Öl und Gas. Die russischen Truppen brauchten dafür eine ganze Nacht. Zuerst neutralisierten Scharfschützen des 45. Regiments alle feindlichen Feuerstellungen im Inneren des Gebäudes, danach eröffneten die Panzer das Feuer, um eine Angriffsgruppe zu decken, die durch eine Bresche in der Rückwand des Gebäudes eindringen konnte. Die russischen Truppen sicherten ihre Positionen in den obersten Stockwerken des Gebäudes und forderten Artillerieunterstützung an, um den Gegner aus dem Gebiet zu vertreiben.
Die von Westen vorrückende Vorhut des 137. Regiments eroberten den Bahnhof zurück. Der Gegner wandte seine übliche Taktik an und versuchte, die Angriffsformation von der Hauptstreitmacht abzuschneiden, und bot ihnen zudem die Gelegenheit zur Kapitulation an, was die russischen Truppen als "inakzeptabel und unangebracht" ablehnten, wie es der an den Verhandlungen beteiligte Menschenrechtsanwalt Alexander Tscherkasow formulierte.
Da die russische Armee bereits vor der Schlacht in Grosny in einem schlechten Zustand war, wurde die Stadt zu einem Kampfgebiet, in dem das "Überleben des Stärkeren" galt. Nur die Stärksten und Ausdauerndsten konnten überleben. Der unbeugsame Kampf- und Überlebenswille half vielen, den Mangel an Fähigkeiten und passender Ausrüstung auszugleichen. Die Kampfgruppen bluteten, erwiesen sich aber trotz der schweren Verluste als fähig, vorzurücken und durchzuhalten.
Die russischen Truppen rückten in Richtung des Präsidentenpalastes vor. Der spielte zwar keine bedeutende Rolle bei der Verteidigung der Stadt, war aber ein anerkanntes Symbol der Republik und Sitz der tschetschenischen Regierung. Er wurde auch als Kommandozentrale und Lager verwendet. Die Tschetschenen setzten viele Kämpfer ein, um ihn zu verteidigen, so dass das russische Kommando zu Recht argumentierte, dass die Einnahme des Palastes sowohl symbolische Bedeutung habe als auch den Feind erschöpfen würde.
Die Einheiten von Dudajew waren meist gut für den Straßenkampf, aber nicht sehr für die Verteidigung großer Gebäude geeignet, sodass die Verluste in ihren Reihen zunahmen. Berichten zufolge operierten die Tschetschenen meist in Fünfergruppen. Während des gesamten Kampfes um den Palast gab es immer wieder Berichte über fünf feindliche Kämpfer, die jede Position gleichzeitig verteidigten. Im weiteren Verlauf des Kampfes griffen die russischen Truppen zu brutal wirksamen Maßnahmen, um das Gelände und das Gebäude vom Gegner zu säubern. Bevor die russischen Soldaten ein Gebäude oder einen Raum betraten, warfen sie Granaten hinein. Hin und wieder entdeckten sie fünf Leichen. "Ich habe 18 Soldaten in meinem Zug und ich bin für ihr Leben verantwortlich. Ich kann nicht für das Leben anderer auf diesem Planeten verantwortlich sein", erinnerte sich ein Unteroffizier, der nach dem Tod seines kommandierenden Offiziers das Kommando über seinen Zug übernommen hatte.
Die Tschetschenen setzten ihre Versuche fort, in den Rücken der russischen Armee zu stoßen, und bewegten sich dabei oft durch die Kanalisation. Der Kampf gegen diese Eindringlinge war besonders schwer, weil sie Zivilkleidung trugen und sich als Zivilisten ausgaben, wenn sie in die Enge getrieben wurden. Ein Offizier erinnerte sich, er habe einmal eine Gruppe von "Zivilisten" ziehen lassen, nur um wenige Minuten später ihre zurückgelassenen Waffen im Gebäude zu finden.
Am Ende des Tages hatte die russische Armee viel mehr Ressourcen und mehr schwere Waffen. Am 13. Januar 1995 stürmte die Marineinfanterie den Ministerrat und den Präsidentenpalast. Diesmal waren die Kämpfer von Dudajew im Nachteil, da ihre Feuer- und Bewegungstaktiken in einer solchen Umgebung nicht gut funktionierten. Auch wurden sie unerbittlichen Artillerie- und Luftangriffen ausgesetzt. Am 19. Januar betraten Marineinfanteristen den Palast und stellten fest, dass er verlassen war, nur eine Handvoll Kämpfer war zurückgeblieben, die den Rückzug ihrer Mitkämpfer deckten. Über dem Gebäude wurden die Flaggen der russischen Armee und der Marine gehisst. Die Suche nach Sprengfallen und nach Kämpfern, die sich versteckten, dauerte noch eine ganze Weile an.
Der Fall von Grosny
Die Einnahme des Palasts von Dudajew symbolisierte den Wendepunkt in der Schlacht um Grosny und die Kämpfe begannen abzuflauen. Die russischen Truppen drangen Schritt für Schritt in Grosny ein, während die tschetschenischen Militanten den Fluss Sunscha überquerten, um sich in die südlichen Teile der Stadt zurückzuziehen. Beim Minutka-Platz im Südosten der Stadt kam es zu heftigen Kämpfen, die mehrere Tage andauerten.
Erst Anfang Februar gelang es der russischen Armee, eine Operation abzuschließen, um südliche Positionen im Rücken des Feindes zu sichern. Zwei motorisierte – und stark unterbesetzte – Regimenter schafften es, um die östlichen Vororte zu manövrieren und einige Höhen in den südlichen Vierteln von Grosny zu sichern. Das hat dazu beigetragen, den militanten Widerstand drastisch zu unterdrücken. Mitte Februar wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, um Gefangene auszutauschen und Hunderte von Leichen zu bergen. Es gab auch den Zivilisten, die im Kriegsgebiet gefangen waren, eine Verschnaufpause.
Die Evakuierung ging nur langsam voran, da Fahrzeuge oft unter Feuer kamen. Die Kämpfer von Dudajew schossen auf alles, was sich bewegte, und riefen eine Hexenjagd auf russische "Spione" aus. Viele Russen wurden von den Kämpfern ohne Prozess oder formelle Anklage einfach hingerichtet. Es wird erzählt, dass ein Mann zu spät bemerkte, dass er von zu Hause zur Ermordung abgeholt wurde und seinen Henker erst mit einem Messer verwundete, bevor dieser ihn erschoss.
In der Stadt wüteten Plünderer. Einem älteren Ehepaar gelang es, sein Hab und Gut zu schützen, indem es die Warnung "Vorsicht vor Minen" auf die Garage malte, in der es seine Sachen weggesperrt hatte. Wie sich herausstellte, fand niemand, dass es das Risiko wert sei, sich die Garage näher anzusehen. Für die in der Stadt verbliebenen Zivilisten bargen selbst alltägliche Aufgaben wie das Besorgen von Wasser, Essen oder Nachrichten tödliche Risiken. Die zerstörten Gebäude in jeder Straße waren voller Gefahren.
Ein Teenager, der die Schlacht von Grosny überlebte, erinnerte sich später daran, wie er die Idee aufgeben musste, sich in seinem Versteck an einem Feuer aufzuwärmen, weil es Aufmerksamkeit und Schüsse auf sich zog. Um zu überleben, musste er streunende Haustiere töten und diese essen. Er überlebte nur knapp, als die russische Armee das Gebäude einnahm, in dem er sich versteckt hatte. Um es von einer möglichen feindlichen Präsenz zu säubern, warfen Soldaten vor dem Betreten eines Gebäudes Granaten in die Räume. Das Leben des Teenagers wurde von einem Hauptmann namens Wiktor gerettet, der rechtzeitig seine Hilfeschreie hörte.
Anfang März hatten alle tschetschenischen Kämpfer die Stadt verlassen, darunter auch die Gruppe von Schamil Bassajew, dem künftigen Terroristen Nummer eins im Kaukasus, und die russische Armee übernahm die Kontrolle über die Stadt.
Der unvollendete Krieg
Die Schlacht von Grosny war mit enormen Verlusten an Menschenleben verbunden. Viele der Opfer konnten gar nicht gezählt werden, daher sind die tatsächlichen Zahlen noch Gegenstand von Diskussionen. Laut Archiven der russischen Armee starben 1.356 russische Soldaten im Kampf und einige Dutzend in Gefangenschaft. Die Verluste unter den Kämpfern von Dudajew ist schwer einzuschätzen, da dort keine ordnungsgemäßen Aufzeichnungen geführt wurden, aber es wird geschätzt, dass die Tschetschenen mindestens so viele Menschenleben verloren haben wie die russischen Streitkräfte. Es gab keine ordentlichen Aufzeichnungen über zivile Opfer, und diese Zahl ist ein bis heute umstrittenes Thema. Nachdem sich Russland in den 2000er Jahren die Kontrolle über Tschetschenien gesichert hatte, wurden bei einer Exhumierung über 800 Leichen freigelegt, die während der Schlacht um Grosny in Massengräbern verscharrt wurden.
Verschiedene Analysten legen unterschiedliche Zahlen vor, basierend auf allen möglichen Berechnungen – von 5.000 bis zu 25.000 Menschen –, aber 800 bleibt die einzige solide Schätzung, basierend auf der Zahl der tatsächlich entdeckten Leichen. Und selbst wenn das stimmt, gilt die Schlacht von Grosny noch immer als eine der verheerendsten Schlachten der neueren Zeitgeschichte. Viele Menschen waren aus der Stadt geflohen, die Bevölkerung schrumpfte um ein Viertel. Die einst blühende russische Gemeinde, die über die Hälfte der lokalen Bevölkerung ausgemacht hatte, existierte nicht mehr.
Grosny wurde in Schutt und Asche gelegt. Es folgten weitere Kämpfe zwischen tschetschenischen Separatisten und russischen Truppen sowie schlussendlich ein Friedensabkommen, das eher wie eine Kapitulation daherkam, Terroranschläge in Moskau, die Geiselnahme in einem Krankenhaus von Budjonnowsk und weitere tausende geopferte Menschenleben.
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Evgeniy Norin ist russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.
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