Ein Kommentar von Natylie Baldwin
Als die Berliner Mauer fiel, erklärten viele triumphierend, der Westen habe den Kalten Krieg gewonnen, seine Werte würden bald allgemein akzeptiert und die alten autoritären Systeme verdrängen, die Osteuropa jahrzehntelang dominiert hatten.
Mehr als 30 Jahre später ist jedoch klar, dass die Russen es nicht eilig haben, den neoliberalen Systemen von Ländern wie den USA nachzueifern. Eine im vergangenen Monat veröffentlichte Umfrage ergab, dass fast die Hälfte der Russen der Meinung ist, dass sie keine demokratischen Werte leben. Viele westliche Experten machen voreilig Präsident Wladimir Putin dafür verantwortlich, dem sie vorwerfen, die Hoffnungen des Landes nach dem Fall des Kommunismus zerstört und dieses in einen hybriden kapitalistischen Staat verwandelt zu haben. Aber warum stehen so viele Russen den Versprechen der westlichen "Wertegemeinschaft" überhaupt dermaßen skeptisch gegenüber?
In der Tat hatte es unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges eine Art Flitterwochen gegeben, in denen eine große Mehrheit der Russen die USA und ihre Institutionen positiv bewertet hatte und offen für die Art von Demokratie gewesen war, die aus dem Ausland angepriesen worden war. Es ist noch nicht so gut erforscht, wie die Russen dermaßen desillusioniert wurden, dass viele von ihnen die Demokratie jetzt als "Scheißokratie" bezeichnen. Die Antwort auf diese Frage erfordert einen nüchternen Blick auf die russischen Erfahrungen der 1990er-Jahre.
Anarchie nach dem Zusammenbruch der UdSSR
Jack Matlock, der US-Botschafter in der Sowjetunion unter Präsident George H. W. Bush, erklärte, dass Russland nach deren Zusammenbruch von einer "ausufernden Inflation, die alle Ersparnisse zunichte machte, von einer noch schlimmeren Verknappung bei lebenswichtigen Gütern, als jene unter dem Kommunismus, und von einem explosivem Anstieg der Kriminalität heimgesucht wurde, mit einer Regierung, die mehrere Jahre lang nicht einmal in der Lage war, ihre miserablen Renten pünktlich zu zahlen. Die Bedingungen ähnelten viel mehr die einer Anarchie, als an die in einem Leben in einer modernen Demokratie."
Diese Charakterisierung wird von vielen Russen und US-Amerikanern bestätigt, die während der Jelzin-Ära vor Ort Erfahrung im Land machten. Eine Charakterisierung, die vielen der heutigen westlichen Medienkommentatoren und ihrem weichgezeichneten Narrativ über ein Russland widerspricht, dass das Land zwar eine schäbige kleine Demokratie gewesen war, das es aber die Segnungen des freien Marktes während der Jelzin-Jahre genossen hatte, bis diese von Putin zerstört wurden.
Sharon Tennison, Gründerin des Center für Bürgerinitiativen, die seit 1983 zivilgesellschaftliche Diplomatie zwischen den USA und Russland betreibt und Gemeinde- und Geschäftsprojekte im Russland unterstützt, erinnerte sich in einer Reihe von Interviews mit mir an das, was sie regelmäßig während ihrer Reisen ins Russland der Jelzin-Ära erlebt hatte. Laut Tennison ging es dort alles andere als demokratisch zu:
"Ich erinnere mich an eine kalte Nacht, als ich aus der U-Bahn-Station trat, nur um drei oder vier gebrechliche Omas zu sehen, mit faltigen Gesichtern, abgenutzten Mänteln und Schals, die aufgereiht am Rande des Bordsteins standen und jeweils eine Schachtel Zigaretten zum Verkauf anboten. Gewöhnliche Leute pflanzten Gemüse auf den Grünstreifen neben den Straßen an, während viele junge Oligarchen 100.000 Dollar teure Oldtimer durch die Städte fuhren, wo ältere Menschen in Parks leben mussten und Millionen bereits an Hunger gestorben waren, weil sie ihre Rubel bei den Staatsbanken verloren hatten."
Als sich Verbrechen auszahlte
Das Leben in Moskau war so gefährlich, dass irgendwann in den frühen 90er-Jahren ein Beamter der US-Botschaft Tennison dazu überredete, aus dem Motel, in dem sie wohnte, in ein Quartier auf dem Botschaftsgelände umzuziehen.
Andrei Sitow, ein russischer Journalist, berichtete 1995 von einem Vorfall, als seine Familie und er in Moskau lebten: "Meine Tochter entdeckte auf dem Weg zum Gassi gehen mit dem Hund im Flur unseres Hochhauses eine Leiche. Ich bemerkte zu meiner Frau, dass die Kriminalitätsrate in New York City, wo wir zuvor gelebt hatten, erheblich höher sei. Sie erwiderte, dass man in New York wisse, welche Viertel man meiden und welche relativ sicher seien, wohingegen in Moskau anscheinend überall alles passieren kann."
Leider war diese Gewalt nicht auf Moskau beschränkt. Lena, damals Zeitungsreporterin in Sankt Petersburg, erinnert sich, wie beängstigend die Zeit war: "Ich hatte Angst, dass meiner kleinen Tochter etwas passieren könnte, also habe ich sie nie allein raus zum Spielen gelassen. Die Familie eines Bekannten meines Freundes wurde von Drogenabhängigen direkt in seinem Treppenhaus ermordet." Sie fügte hinzu, dass diejenigen, die versuchten, kleine Unternehmen zu führen, sich durch das organisierte Verbrechen oft in besonderer Gefahr befanden. Folglich fürchtete sie um die Sicherheit ihres Mannes, der ein angehender Unternehmer war: "Ich hatte große Angst um meinen Mann, der sein eigenes Unternehmen gegründet hatte. Ich hatte Angst, dass er den finanziellen Schlag einer Schutzgelderpressung nicht verkraften und dass er getötet werden könnte."
Alexander Lubjanoj, ein Unternehmer aus Wolgograd, glaubt, dass das US-amerikanische Volk nach dem Ende des Kalten Krieges im Allgemeinen gute Absichten gegenüber Russland hatte, Washingtons politische Klasse aber Russlands Schwäche ausnutzen wollte. Er glaubt auch, dass die US-Standards der Kultur und der moralischen Autorität während dieser Zeit anfingen zu verkümmern und dessen Fortschreiten negative Folgen für die ganze Welt hatte.
"Aus meiner Sicht hatten die USA bis zum Ende der 1990er-Jahre zunehmend weniger moralische Überlegenheit, sodass sie nichts mehr an das russische Volk weitergeben konnten", sagte er. "In den 1990er-Jahren überfluteten die USA nicht nur Russland, sondern auch Europa und Asien mit den niederträchtigsten, unmoralischsten Hollywood-Filmen. Durch diese Filme wurde jede Moral gebrochen, auch die unseres Volkes. Gewalt und das 'Recht auf Waffen' wurden zum Vorbild für ein erfolgreiches, wohlgenährtes Leben. Zwielichtige Geschäftsleute, Mörder und Gangster wurden zu Vorbildern."
Beschwerliche Zeiten
Irina, eine Übersetzerin aus Sankt Petersburg, erklärte, dass die Russen zunächst gedacht hatten, die Öffnung hin zum westlichen Kapitalismus werde ein besseres Leben bringen. Aber bald stellte sich Ernüchterung über die Realität ein. "Das russische Volk begrüßte Veränderungen und hoffte auf das Bessere. Wir waren ziemlich naiv. Wir hofften wahrscheinlich, dass wir die besten Eigenschaften des Sozialismus beibehalten und einige Vorteile des Kapitalismus hinzufügen könnten. Unsere Liebesgeschichte mit dem westlichen Lebensstil endete mit der berüchtigten Schocktherapie. 1991 wurden die Preise den Marktkräften freigegeben, die meisten Staatsbetriebe wurden verkleinert oder ganz geschlossen, die Inflation erreichte manchmal 1.000 Prozent im Monat. Die Menschen hatten Angst vor Lebensmittelknappheit. Mein Vater hat zum ersten Mal in seinem Leben Vorräte an Getreide, Seife, Nudeln, Fleisch- und Fischkonserven sowie Streichhölzern angelegt."
Olga, die in dieser Zeit an einer Schule in Sankt Petersburg gearbeitet hatte, sprach von der verzweifelten Armut, die einige junge Mädchen, die sie kannte, in die Prostitution und in den frühen Tod getrieben. Lebensmittel waren schwer zu beschaffen gewesen, Gehälter waren nicht pünktlich gezahlt worden: "Die Zahlung der Gehälter wurden um sechs Monate hinausgeschoben, und die Lehrer einer Schule wurden in drei Kategorien eingeteilt. Die erste erhielt das Urlaubsgeld pünktlich. Die zweite bekam sie im Hochsommer, die dritte bekam ihr Geld, wenn der Sommer vorbei war."
Auch Ljudmila, damals Assistenzprofessorin für Biologie an einer staatlichen Universität in Brjansk, erinnerte sich daran, dass unter anderem Pädagogen über längere Zeiträume nicht bezahlt worden waren und andere auf anderen Wegen hatten improvisieren müssen, um wirtschaftlich zu überleben: "Menschen mit Hochschulbildung wurden eineinhalb Jahre am Stück absolut nicht bezahlt. So handelten Universitätsprofessoren in ihrer Freizeit auf einem Markt. Ingenieure und Angehörige des Militärs versuchten, kleine Unternehmen zu eröffnen. Aber Banditen töteten die erfolgreichsten unter ihnen. Erfolglose Männer beendeten ihr Leben durch Selbstmord. 1971 hatte ich mein Abitur gemacht. In unserer Klasse waren 16 Mädchen und 16 Jungen. Alle waren an Universitäten ausgebildet worden, alle waren bis in die 90er-Jahre in gewisser Weise erfolgreich gewesen. Nach den 90ern waren aus unserer Klasse nur noch vier Jungen am Leben."
Nach dem Zusammenbruch
Die häufige Darstellung in den westlichen Medien, der Jelzin-Ära in Russland als eine Zeit prosperierender Demokratie und der Putin-Ära als Rückkehr in die Dunkelheit, ist auf vielen Ebenen kompliziert. Tennison sagte dazu: "Ich wünschte, die US-Amerikaner könnten in meine mentale Gedächtnisdatenbank eindringen und sich die Verwüstungen ansehen, die Russen aller Gesellschaftsschichten während der 90er-Jahre durchleben mussten. Es war unglaublich für Menschen, die vorher immer genug Essen auf dem Tisch und warme, wenn auch nur bescheidene Wohnungen hatten, durch sichere Straßen gehen konnten, eine Gesundheitsversorgung und gute Schulen hatten, sich auf einmal mit nichts wiederfanden. Dann würden sie vielleicht besser verstehen, warum 60 bis 70 Prozent der Russen Putin unterstützen."
Der Journalist Sitow bemerkte zum Kontrast zwischen den 90ern und heute: "Mein persönlicher Eindruck von Moskau ist, dass es derzeit wahrscheinlich eine der schönsten, am besten erhaltenen und bequemsten Städte der Welt ist."
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Übersetzt aus dem Englischen. Natylie Baldwin ist Autorin von "The View from Moscow: Understanding Russia and U.S.-Russia Relations", erhältlich bei Amazon. Sie bloggt unter www.natyliesbaldwin.com.
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