Es war der 30. September 2000, als Wiktor Mochow zwei jungen Frauen aus der russischen Stadt Rjasan nach einem Diskobesuch eine Mitfahrgelegenheit anbot, damit sie nicht auf den Bus warten mussten. Seitdem galten die 14-jährige Jekaterina und die 17-jährige Jelena als verschollen. Mochow betäubte die beiden und brachte sie in seine Heimatstadt Skopin. Er hielt die jungen Frauen fast vier Jahre lang in einem unterirdischen Bunker fest und vergewaltigte sie beinahe täglich. Die zwei wurden zwar als vermisst gemeldet, doch die Suche wurde schon bald eingestellt, da die Behörden die Opfer für tot hielten.
Die Mädchen bekamen nur wenig zu essen, hatten nicht immer Strom und sahen fast kein Sonnenlicht. Mochow drohte ihnen mit dem Tod, falls sie ihm nicht gehorchen. Eines der Opfer, Jelena, brachte im Verließ zwei Babys auf die Welt, die ihr sofort weggenommen wurden. Jekaterina half ihr bei der Geburt – eine Hebamme wurde nicht geholt. Als der damals 53-jährige Fabrikarbeiter merkte, dass seine Opfer zu schwach sind, um zu flüchten, brachte er den beiden Sexsklavinnen schließlich einen Fernseher, ein Tonbandgerät, Farben und Bücher.
Als er ihnen eines Tages alte Zeitschriften vorbeibrachte, auf denen auch sein Name als Empfänger stand, erfuhren die Mädchen, wer ihr Peiniger ist. Seitdem versuchten sie, zur Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Dass sie schließlich gerettet wurden, grenzt trotzdem an ein Wunder: Im Frühjahr 2004 befahl Mochow Jekaterina, ihm dabei zu helfen, eine weitere Studentin zu verführen. Jekaterina hätte sich als seine Nichte ausgeben sollen. Doch die junge Frau übergab der ahnungslosen Studentin eine Notiz, in der sie um Hilfe bat. Der Text lautete: "Wiktor ist nicht mein Onkel. Er hält uns seit September 2000 im Keller. Er kann uns und dich töten. Bring die Notiz zur Polizei". Die Studentin flüchtete und wandte sich an die Behörden.
Kurz darauf wurden Jelena und Jekaterina gefunden und befreit. Ihr Peiniger wurde zu 17 Jahren Straflager verurteilt. Am 3. März 2021 kam der jetzt 70-Jährige auf freien Fuß. Sechs Jahre lang ist es ihm nun verboten, an Massenveranstaltungen teilzunehmen, nachts hinauszugehen und seinen Heimatbezirk ohne Erlaubnis zu verlassen. Er muss sich zweimal im Monat bei der örtlichen Polizei melden.
Doch wo die Geschichte normalerweise enden sollte, beginnt jetzt ein Hype. Seit Mochows Freilassung vor genau drei Wochen reißen sich russische Journalisten um den Kinderschänder. Kaum eine Zeitung hat noch keine frischen Fotos des Täters veröffentlicht. Manche Reporter schrecken nicht davor zurück, Mochow in seinem Haus in Skopin zu besuchen. Interviews, Bilder, Reportagen – jene Geschichte, die man am besten gar nicht kennen will, ist erneut in aller Munde. Mochow macht brav mit, er hält nichts geheim: Er spricht von seinem gescheiterten Privatleben, seiner Zuneigung zu Jekaterina, seiner Erfahrung hinter Gittern und seinen Zukunftsplänen. Medienberichten zufolge hat er sogar an einer Talk-Show teilgenommen – gegen Gage.
Dass er das Geld braucht und deshalb zu Offenbarungen bereit ist – daraus macht er kein Geheimnis. Das längste und am meisten diskutierte Interview mit dem Sexualstraftäter führte die Journalistin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak. Auf ihrem Youtube-Kanal erschien am 22. März ein einstündiges Video, das mittlerweile mehr als vier Millionen Mal abgerufen wurde. Sobtschak besuchte Mochow zu Hause, filmte ihn beim Kochen, beim Rasieren, beim Essen. Die Journalistin befragte ihn zu seinen sexuellen Vorlieben, seinem Glauben, seinem Gefängnisaufenthalt und schaute sich auch den Bunker an.
Ob er die Aufmerksamkeit genießt, wollte sie wissen – Ja, das tue er. Der 70-Jährige sagte außerdem, dass er eines der Opfer, Jekaterina, wieder gerne sehen würde. Er sei noch immer ein wenig verliebt in sie. An das Paradies glaube er nicht – wie auch nicht an die Hölle. Beim Schneeräumen erwähnt er ganz nebenbei, dass Jelena nach der Rettung aus dem Keller keine weiteren Kinder zur Welt brachte und schlägt vor, sich wieder "mit ihr zu befassen" – eine Äußerung, die landesweit für Empörung sorgt. Die Generalstaatsanwaltschaft schaltete sich ein und kündigte an, sie werde diese Aussagen prüfen. Auch Youtube reagierte und kennzeichnete das Video mit einer Altersbeschränkung ab 18 Jahren. "Dieses Video ist für einige Nutzer möglicherweise unangemessen", lautet die Youtube-Warnung.
Sobtschaks Kollegen in der Medienbranche beschuldigten die Moderatorin, gegen die Ethikregeln verstoßen zu haben. "Er fühlt sich in ihrer Gegenwart als Liebhaber und gleichzeitig als Opfer. Und sie erlaubt ihm das, anstatt diese Kreatur mit einem Wort in Tausend Stücke zu zerreißen", schrieb der Journalist Alexander Koz. Wladimir Solowjow, Vorsitzender des Journalistenverbandes, kritisierte, das Interview habe nichts mit Journalismus zu tun, es handle sich um "skandalöses Showbusiness".
Auch Internetnutzer bemängelten Sobtschaks Entscheidung, einem "Verrückten", der seine Schuld offensichtlich noch immer nicht eingesteht, eine Plattform gegeben und einen "Star" aus ihm gemacht zu haben. "Es würde mich nicht wundern, wenn man ihm jetzt anbietet, ein Buch zu schreiben, ein Museum und einen Fonds zu eröffnen oder ihn in die Politik einlädt", schrieb die Menschenrechtlerin Aljona Popowa. Sie findet, dass die Veröffentlichung des Interviews "ein Signal an alle Verrückten ist, dass man aus Vergewaltigung und Entführung eine coole Karriere machen kann". Der Journalistin wurde außerdem mangelndes Einfühlungsvermögen für die Opfer des Täters vorgeworfen. Zugleich forderten Politiker ein Verbot, ehemalige Gefangene als Interviewgäste einzuladen.
Sobtschak erwiderte, dass das Interview eine bewusste Entscheidung ihres Teams gewesen wäre. "Es ist unser Recht als Journalisten, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu erkunden. Man kann die Natur des Bösen nicht verstehen, wenn man das Gebiet nicht betritt", so die Journalistin.
Eines der Opfer, die mittlerweile erwachsene Jekaterina, ist empört über die Aufmerksamkeit für ihren Peiniger:
"Das ist ein Verbrecher, er hat zwei jungen Mädchen drei Jahre und sieben Monate des Lebens gestohlen. Warum gibt es so viel Aufmerksamkeit? Das ist unglaublich für mich. Und jetzt kann er mit seiner Freilassung gutes Geld verdienen", sagte sie zu RT.
Jelena, das zweite Opfer, spricht prinzipiell nicht mit Journalisten. Sie will diese Erfahrung am besten vergessen, doch das ist derzeit kaum möglich.
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