von Wladislaw Sankin
Seit am Sonntag, dem 17. Januar, der russische Politblogger Alexei Nawalny nach Russland zurückgekehrt war, ist noch nicht einmal eine Woche vergangen. Doch seitdem ist sehr viel passiert in der russischen Gesellschaft. Am Montag wurde Nawalny durch ein Gericht zu einer 30-tägigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte gegen Bewährungsauflagen im Rahmen einer Verurteilung wegen Veruntreuung verstoßen. Innerhalb dieses Zeitraumes muss ein Gericht entscheiden, ob nun die dreieinhalbjährige Bewährungsstrafe in eine reguläre Haftstrafe umgewandelt werden soll. Außerdem wird gegen ihn derzeit in zwei weiteren Sachen ermittelt.
Bevor Nawalny sein Mobiltelefon von den Behörden abgenommen wurde, versandte er die Botschaft, seine Anhänger sollten nun gegen seine Haft auf die Straße gehen und protestieren. "Habt keine Angst und geht auf die Straßen", so der Oppositionspolitiker.
Vor der Polizeistation Chimki, wo die Verhandlung stattfand, versammelten sich am gleichen Tag mehrere Dutzend Menschen sehr jungen Alters, geschätzt 14 bis 17 Jahre alt, und skandierten "Lasst ihn frei". Sie hielten sein handgemaltes Porträt in der Hand. Es war die Altersgruppe, die in den nächsten Tagen weiter massiv beworben wurde.
Am Dienstagvormittag veröffentlichte Nawalnys "Fonds zur Bekämpfung der Korruption" (FBK) ein fast zweistündiges Video mit dem Titel "Palast für Putin". Im Vorspann des Videos wurde behauptet, dass Nawalny auf Putins Befehl mit einer chemischen Waffe vergiftet wurde. Dann folgte der Aufruf zu Protesten gegen seine "gesetzwidrige Verhaftung" am 23. Januar: "Geht raus. Bleibt nicht am Rand."
Laut dem Video, das Nawalny während seines Deutschland-Aufenthalts eingesprochen hatte, besitze der russische Präsident einen heimlichen Pracht-Palast. Allerdings war das Video keine wahre Enthüllung, sondern setzte mehrere altbekannte Fakten zu dem bereits seit einem Jahrzehnt leerstehenden Objekt aufs Neue zusammen. Belege, dass Putin das Areal je besucht hätte, präsentierte Nawalny nicht. Der Kreml wies die gegen Putin erhobenen Vorwürfe zurück. "All das sind absolut haltlose Behauptungen, reiner Quatsch, und nichts weiter", erklärte Putins Pressesprecher Dmitri Peskow am Mittwoch.
Das Gebäude und das umliegende Gelände wurden im Film mittels Foto-und Videoaufnahmen sowie Bauplänen von seinem Team auf das Genauste "inspiziert". Und die Filmemacher stellen auf ihrer Webseite gleich noch einen dreidimensionalen Spaziergang zur Verfügung. Damit war unter anderem die Grundlage für die Bildbearbeitung und Verbreitung bei TikTok und anderen sozialen Netzwerken geliefert.
TikTok hat in Russland bis zu 20 Millionen Nutzer, ein Großteil von ihnen sind Minderjährige. Das Netzwerk galt bislang als unpolitisch – bis Dienstag. Seit diesem Tag hat der Hashtag "дворецпутина" (Putins Palast) bereits 61 Millionen Aufrufe erzielt. Viele populäre TikTok-Blogger zeigten sich danach überzeugt, dass Putin in dem Palast wohne und verballhornten ihn mit einfachen Videomontagen. Die Hashtags #FreiheitfürNawalny und #23Januar, der Tag, für den Nawalny-Anhänger in dutzenden Städten Proteste angekündigt hatten, zählten am Freitag bereits 300 Millionen Views.
Ähnlich verhielt es sich bei den anderen sozialen Netzwerken, die unter Jugendlichen populär sind – vor allem auf Instagram und Vkontakte. Es bildeten sich auch hunderte Koordinierungsgruppen, in denen Informationen rund um die geplanten Proteste ausgetauscht wurden.
Die potenziellen Protestler wurden angewiesen, was sie zu den Protesten mitnehmen sollen, Unentschlossene wurden mit Aufrufen zur "Revolution" aufgemuntert. Zu einer Art Hymne stieg das zwei Jahre altes Lied "Death no more" der Gruppe C3PEAK auf:
"Lass alles brennen, lass alles brennen, ich schütte Kerosin in meine Augen. Lass alles brennen, lass alles brennen, ganz Russland schaut auf mich."
"Wir müssen begreifen, dass die Revolution nicht zu vermeiden ist", sagten einige Blogger mit großer Reichweite.
In den nächsten zwei Tagen – am Mittwoch und Donnerstag – wurde die Flut solcher Nachrichten zu einem der Hauptthemen in den russischen sozialen Netzwerken. Viele Journalisten berichteten, dass ihre Kinder in der Schule mit der Frage konfrontiert werden, ob sie nun "für Nawalny oder für Putin" seien. Viele beschwerten sich, dass diejenigen, die die Aufforderung hinterfragten, zu einer nicht genehmigten Demo zu gehen, gemobbt würden.
Für Massenproteste am Samstag warben auch die "herkömmlichen" Nachrichtenkanäle – etwa der Fernsehsender Doschd, der Radiosender Echo Moskwy oder der Youtube-Kanal Nawalny Live. Auf allen Kanälen war Leonid Wolkow zu sehen. Er ist einer der engsten Mitstreiter Nawalnys, auch wenn er seit zwei Jahren im EU-Ausland lebt. Er rief die Menschen zum Heldenmut auf:
"Auf die Proteste zu gehen, ist eine Heldentat."
"Der Elefant soll Stück für Stück verspeist werden", sagte er. Damit machte er klar, dass in Russland nun eine Phase der Straßenproteste beginne, an deren Ende der komplette Machtwechsel im Kreml stehen soll. "Zum Teufel sollen die (im Kreml) gehen", so Wolkow.
Mit der Frage konfrontiert, dass er und seine Anhänger Minderjährige zu den Protesten aufstacheln, entgegnete Wolkow, dass dies nur eine der "Thesen" des Kremls sei. In Wirklichkeit sei es aber der Kreml selbst, der die Kinder instrumentalisiere, so Wolkow in einem Interview am Vortag der Proteste. Am Samstag gab er allerdings zu verstehen, dass die Teilnahme der Minderjährigen durchaus erwünscht ist. "Was ist aber daran so schlimm?", fragte er rhetorisch in seinem Live-Auftritt.
"Die Kinder, auch die Kinder meiner Freunde, haben beschlossen, morgen rauszukommen. Man kann sie nicht aufhalten", schrieb der russische Ex-Oligarch und Medienmagnat Michail Chodorkowski auf Twitter und rief die Eltern auf, mitzugehen und ihre Kinder gegen die "bestialische Macht" zu schützen. In den Koordinationsgruppen wurde am Vorabend der Proteste der Einsatz der Schüler als taktischer Zug diskutiert.
Aber es gibt auch sehr viele Gegner der Proteste, die medial aktiv sind und Nawalny Zynismus vorwerfen. Dessen Kritiker weisen darauf hin, dass die Proteste nach dem Szenario einer "Farben-Revolution" verlaufen. Bilder von möglicherweise bei den Protesten verletzten Jugendlichen sollen emotionalisieren und damit auch unentschlossene Eltern für die Proteste gewinnen, argumentieren sie.
Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums Marija Sacharowa meldete sich bei Facebook zu Wort. Sie nannte die auf Kinder und Jugendliche abzielende Kampagne eine "höllische Inszenierung". Weiter sagte sie:
"Kinder werden in politische Kämpfe hineingezogen, wenn alle anderen Optionen nicht funktionieren, was bedeutet, dass die Ideologen dieses Prozesses zu allem bereit sind, um ihre Ziele zu erreichen."
Medienexperten wiesen darauf hin, dass es in den letzten Tagen einen Massenaufkauf von bestehenden Konten in den sozialen Medien gab, die sofort umbenannt wurden und nun neue, politische Aktivitäten aufgenommen haben. Solche gekauften Seiten hätten dem Anschein nach ein "lebendes", aktives Publikum, im Gegensatz etwa zu neu erstellten Seiten, die noch Nutzer anziehen müssen. "Besonders erschreckend ist diese Situation bei TikTok zu beobachten, wo der Algorithmus des Netzwerks selbst dazu beiträgt, dass Videos mit rechtswidrigem Inhalt 'aufpoppen'", schrieb etwa das Mitglied der Gesellschaftskammer Alexander Malkewitsch auf seinem Telegram-Kanal.
Am 22. Januar teilte das Russische Ermittlungskomitee mit, dass es ein Strafverfahren wegen "der Verbreitung in sozialen Netzwerken von Aufrufen an Minderjährige zur Teilnahme an illegalen Kundgebungen am 23. Januar" eingeleitet habe. Die Entscheidung wurde auf der Grundlage zahlreicher Appelle getroffen, die in den Medien von Eltern-Vereinigungen veröffentlicht wurden, gab die Behörde an. Aufgrund der Corona-Pandemie sind öffentliche Versammlungen derzeit in Russland nicht gestattet.
Am gleichen Tag warnte der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin vor "Provokateuren" und nannte die Versuche einer massenhaften Involvierung Minderjähriger in die Protestaktionen "zynisch und unzulässig". Er wies zudem auch auf die Verletzung der Corona-Regeln bei der geplanten Massenkundgebung hin.
Die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor forderte am Freitag VKontakte und TikTok dazu auf, "gesetzwidrige" Inhalte zu entfernen und drohte Strafen an.
Am Samstag waren dann in der Tat sehr viele Schüler und junge Menschen zu den Kundgebungen erschienen, was vor allem auf den Bildern vom Puschkin-Platz in Moskau zu sehen ist. Offenbar waren aber nicht alle von ihrem eigenen Tun völlig überzeugt. So schaffte es zum Beispiel ein Polizist in der sibirischen Stadt Krasnojarsk, zwei Schüler von der Teilnahme an der nicht genehmigten Versammlung abzuraten. Nach einem Gespräch mit dem Ordnungshüter verließen die Kinder den Ort des Geschehens.
Etwa 300 Minderjährige wurden bei den nicht genehmigten Kundgebungen in ganz Russland festgenommen, darunter etwa 70 in Moskau und rund 30 in Sankt Petersburg, wie die russische Ombudsfrau für Kinderrechte Anna Kusnezowa mitteilte. Viele der Schüler und Jugendlichen kamen aus Neugier und "weil es auf TikTok oder VKontakte die Aufrufe gab", wie sie bei Gesprächen mit Journalisten sagten.
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