Die Eigenschaften des chemischen Nervenkampfstoffes Nowitschok, mit dem der russische Oppositionelle Alexei Nawalny nach Auffassung der Bundesregierung vergiftet wurde, hätten vollkommen andere Folgen für die Gesundheit des Politikers gehabt, erklärten die russischen Wissenschaftler Leonid Rink und Wladimir Uglew. Die beiden Forscher waren zu Sowjetzeiten unmittelbar an der Entwicklung des tödlichen Nervengiftes an der Filiale des Staatlichen Forschungsinstituts für organische Chemie und Technologie in Schichany im russischen Gebiet Saratow beteiligt.
So hielt Uglew in einem Interview mit Interfax einen eventuellen Einsatz solcher chemischer Kampfstoffe aus der Gruppe der organischen Phosphorverbindungen wie Sarin, Soman und der Substanz A-234 der Nowitschok-Reihe bei Nawalny für ausgeschlossen, weil in diesem Fall auch die Kontaktpersonen des russischen Aktivisten von deren Wirkung betroffen gewesen wären. Dies lasse sich durch die chemischen Eigenschaften dieser Stoffe erklären, die unter anderem stark auf verschiedene physische Parameter wie etwa die Lufttemperatur angewiesen sind.
In Bezug auf die Symptome wäre im Fall eines echten Nowitschok-Giftanschlags mit anderen Körperreaktionen wie etwa Krämpfen zu rechnen, legte ferner Rink, seines Zeichens Doktor der Chemie, im Gespräch mit RIA Nowosti nahe. Er präzisierte:
Die Symptome sind absolut unüblich.
Einen Einsatz des Nervenkampfstoffes hätte Nawalny dem Experten zufolge zudem mit Sicherheit nicht überlebt:
Dann wäre er schon längst auf dem Friedhof, das war's.
Der Wissenschaftler zeigte sich außerdem davon überzeugt, dass das Vorgehen, bei dem man versucht, Nawalnys Zustand auf eine angebliche Nowitschok-Vergiftung zurückzuführen, politisch motiviert ist. Rink sagte:
Dies ist absoluter politischer Unsinn.
Der Forscher fügte hinzu, dass die russischen Ärzte in Omsk zunächst auch von einem möglichen Giftanschlag ausgegangen seien. Nach der Verabreichung eines Gegengiftes habe sich dieser Verdacht jedoch nicht erhärtet. Nun werde aber "verständlicherweise" niemand Russland die Proben zur Verfügung stellen, wie es "auch bei Litwinenko und Skripal der Fall war", sagte Rink.
Die Bundesregierung hatte zuvor erklärt, dass das Nervengift bei Nawalny "zweifelsfrei" nachgewiesen worden sei. Der Oppositionelle, der vor gut zwei Wochen auf einem Inlandsflug in seiner Heimat bewusstlos und zunächst im sibirischen Omsk behandelt wurde, wird seit eineinhalb Wochen auf Drängen seiner Familie in der Berliner Universitätsklinik Charité behandelt. Die deutschen Ärzte gingen nach einer Auswertung klinischer Befunde bereits von einer Vergiftung Nawalnys aus.
Nach Angaben der russischen Ärzte gab es dafür aber keine ausreichenden Belege. Russische Agenturen zitierten am Mittwochabend Experten, die dies auch weiter behaupteten. Mehrere Labors in Russland hätten Proben untersucht und keine Giftstoffe entdeckt.
Russland leitete umfassende Untersuchungen zum Fall Nawalny ein und bittet deutsche Behörden um Rechtshilfe. Die russischen Mediziner boten ihren deutschen Kollegen von der Charité zudem an, Proben von Nawalny zur Verfügung zu stellen. Das Angebot wurde bislang nicht angenommen.
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